Weihnachten im Postamt

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Oliver Uschmann

Gast
WEIHNACHTEN IM POSTAMT


In den elf Monaten des Jahres, welche man getrost als „normal“ bezeichnen kann, bietet sich den Menschen in unserem Viertel folgendes Bild : In den Supermärkten, Buchhandlungen, Bäckereien, Reformhäusern, Fotoläden oder Junkfood-Tempeln plätschern Stunden und Menschen gemächlich vor sich hin.
Am Mittag oder Abend kommt in den Burger-Läden sanfte Hektik auf, am Samstag kann es schon mal passieren, daß im riesigen Supermarkt die Hälfte aller Einkaufswagen in Gebrauch sind – aber alles in allem nehmen die Tage in so ihren Lauf.
Menschen sitzen auf den Bänken und füttern die Tauben, Menschen stehen in Grüppchen und meckern leise schielend über „die Idioten, die die Mistviecher auch noch füttern“, Jugendliche posieren und Kinder quäken verhalten in die halblaut sprudelnde Geräuschkulisse hinein. Soweit die elf normalen Monate.

Doch da gibt es noch einen Monat und der bewirkt, daß sich das Bild unseres Viertels schlagartig verändert und mit den Menschen eine nahezu beängstigende Verwandlung vor sich geht.
Es ist, als würde man einen Film beschleunigen und gleichzeitig den Ton lauter drehen. Die Gesichter der Menschen füllen sich mit Panik, Angst und Hilflosigkeit, sie treiben wild strampelnd und taumelnd umher und haben jegliche Orientierung verloren. Die Rede ist natürlich vom Dezember und von der Weihnachtszeit.

Und diese Zeit geht auch an unserem kleinen, entspannten Postamt nicht spurlos vorüber. Wo es in den elf normalen Monaten ruhig daliegt, die Menschen ein-und ausgehen, hinter den Schaltern der Kaffee dampft und immer mal einer Zeit findet, ein privates Pläuschchen zu halten, da gelten auch hier im verflixten zwölften Monat die Regeln des Ausnahmezustands.
Als ich am 21.Dezember das Postamt betrat, da wurde die Tür direkt durch den Rücken eines großen Mannes gestoppt, der schrecklicherweise das Ende der Schlange bildete – einer von drei monströsen Schlangen, welche Mühe hatten, sich in dem kleinen Raum klar voneinander zu unterscheiden.
Immer mal wieder vermischten sich Teile der drei Schlangen, so daß unübersichtliche Verknotungen entstanden und in den Gesichtern ein latentes Mißtrauen und ein bitterer Argwohn gegen alle anderen auftauchten, da man in dem Durcheinander nicht unterscheiden konnte, ob nun heimlich einer von der ersten in die zweite Schlange übergewechselt war oder an seinem rechtmäßigen Platz ausharrte.

Eine verzwickte Sache bei solchen Schlangen ist ja die Geschwindigkeit. Hat man sich durch Zufall oder Absicht für eine Schlange entschieden, kann man mit sehr großer Wahrscheinlichkeit im nächsten Moment feststellen, daß die Nachbarschlange um einiges schneller abgefertigt wird.
So schien die kleine, untersetzte und durchaus adrett gekleidete Frau an der Spitze meiner Schlange dem Schalterbeamten eine Aufgabe von immenser Komplexität auferlegt zu haben. Der lieb in die Welt blickende Mittfünfziger mit dem zersausten Haar auf Kopf und Nase tippte, stempelte, schrieb und schwitzte, was das Zeug hielt und wer nicht direkt im vordersten Teil der Schlange stand, der reckte immer mal wieder den Kopf hervor, um sich zu versichern, ob da vorne überhaupt irgendein Fortschritt gemacht wurde.
Derweil rückte die Schlange links neben uns im Minutentakt vorwärts und die Leute, die sich an unserer Schlange vorbei zum Ausgang quetschten, schienen sich mit jedem Blick für ihr Glück zu entschuldigen.
Überflüssig zu erwähnen, daß während der ganzen Zeit vom Eingang her neue Kunden hineinschwappten und die Schlangen wieder auffüllten.

Der kraushaarige Beamte war immer noch mit der adretten Frau beschäftigt und langsam machte sich Unmut in unserer kleinen Schlangen-Gemeinde auf.
Ein kurzhaariger, dezent parfürmierter und professionell rasierter Mann setzte einen abschätzigen Blick auf, so, als hätte er mit all den anderen hier ja gar nichts zu tun – doch sein erfolgsverwöhntes Aussehen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch er hier hilflos anstehen mußte, um die Weihnachtspost an seine Großtanten loszuwerden, wie jeder andere auch.
Ein anderer Mann begann beständig mit dem Fuß zu wippen und zu pfeifen, während eine Frau in einem verstörend-unproportionalen Mantel die Artikel im Regal neben ihr skeptisch in ihre Wurstfinger nahm, drehte, begutachtete und dann verächtlich ins Regal zurückwarf als sei ihre Verachtung für Eigenproduktionen der Post Rache genug für die langen Schlangen.
Gute Stimmung herrschte lediglich am Anfang der Schlange, denn die adrette Frau hatte sich mittlerweile umgedreht und plauderte entschuldigend mit den Wartenden hinter ihr,welche ihre grimmigen Masken direkt abgesetzt hatten und munter mit einfiehlen :„Ach ja, das is‘ immer so’was mit den Feiertagen...und die Verpflichtungen...und eigentlich schenken mein Mann und ich uns nichts mehr...außer jetzt das in der Tüte...und wenn’s wenigstens schneien würde aber so is’ses ja nix..“
Der alte Mann vor mir grinste beständig wie blöde in die Runde und beschränkte sich weiterhin darauf, wie ein Schrank im Antiquitätenladen zu stinken.

Plötzlich stockte die ansonsten so flotte Nachbarreihe und der Grund dieser Veränderung lenkte einen Großteil der Aufmerksamkeit der versammelten Gesellschaft auf sich.
Eine alte Frau stand an dem Schalter. Sie war so klein, daß sie gerade mal den Beamten von unten sehen konnte und steckte in krummen, unförmigen Stiefelchen.
Eine mühsam gestickte Entschuldigung für ein Kleid hing an ihr herunter und auf dem kleinen Kopf saß ein viel zu großer, turbanartiger Hut.
„Wie, fünf Mark soll das kosten ???!!!“ , krächzte sie dem Beamten entgegen.
„Ab 50Gramm fünf Mark, bis 50Gramm 3 Mark 50, jawoll.“
„Ab 50 Gramm?“
„Ja, ab 50 Gramm.“
„Fünf Mark ?!“
„Ja, fünf Mark.“
„Geht das nicht billiger ?“
„Nein, wir machen keine Sonderkonditionen.“
Nun begann sie mit verkniffenem Gesicht in ihrer Geldbörse zu kramen und ließ sich dermaßen viel Zeit dabei, daß in einigen Gesichtern in ihrer Schlange eine mittlerweile ernstzunehmende Verfinsterung zu beobachten war.
Als die Frau leise vor sich hin schimpfend den Raum verließ, sah man eine spürbare Erleichterung in den Gesichtern, die nun frischen Mut fassend alle einen Meter vorwärts purzelten.
Alle Augen richteten sich nun auf den nächsten Kunden am Schalter und musterten ihn skeptischin der Angst, auch hinter dieser Fassade könne ein weiterer hartnäckiger, personifizierterVerkehrsstau stecken.

Der war allerdings nun wieder unserer Schlange vorbehalten und so wurde die Aufmerksamkeit unserer Gemeinde wieder auf lokale Angelegenheiten gelenkt.
Der kraushaarige Beamte rümpfte seine behaarte Nase : „Das ist ja eigentlich ein Paket, junge Frau “, sagte er und nickte zur ersten Schlange hinüber. Der leidende Blick der Frau sagte soviel wie „Sie wollen mich doch wohl jetzt nicht ans Ende der ersten Schlange schicken, in die kalte Ferne, wo ich schon seit einer halben Stunde in dieser Schlange gelebt habe ?“
Der Beamte setzte ein gütiges Grinsen auf : „Nun ja, sie können’s auch als Päckchen schickchen, kostet dann nur 12 Mark, ist aber nicht versichert.“
Das Telefon klingelte. „Überlegen sie schon mal.“ Diese vier Worte schienen wie eine Welle durch unsere Reihe zu fluten, denn plötzlich bekam der ewig grinsende, nach Muff stinkende Mann vor mir einen so heftigen Schluckauf, daß sein Hut ein ganz klein wenig auf-und abhüpfte.

„Nein, ich werd‘ wohl erst heute Abend Zeit haben“, meldete der Beamte dem anderen Ende der Leitung, derweil die junge Frau skeptisch ihr Päckchen betrachtete und sich überlegte, ob sie wohl das Risiko eingehen könne, es unversichert loszuschicken.
„Ja...nein...ja...hm...nein...Du...ich hab’ne Menge...ja...Kunden...ich...hm...ja...ich mach jetzt Schluß‘ ne ? Ja...hm...tschüss. So, haben sie es sich jetzt überlegt mit dem Päckchen ?“
„Ja, machen wir.“
„Prima.“

Der weitere Verlauf des Mittags bot keine größeren Überraschungen mehr. Die Schlangen bewegten sich in verschiedenen Geschwindigkeiten fort, so, als würden Kinder ein Wettrennen mit ihren hilflosen Hausschnecken veranstalten, der muffige Mann bestellte zwölf Briefmarken und grinste, ein Mann in der zweiten Schlange stolperte über ein Kind und fluchte und ein Kind in der dritten Reihe stolperte über seine eigenen Füße und heulte.
Ich kam endlich an die Reihe und erntete von dem kraushaarigen Beamten fragende Blicke ob meiner Gelassenheit, aber ich wollte die Schlange nicht noch mehr aufhalten, indem ich ihm erzählt hätte, daß ein Schriftsteller solche Situationen als stiller Beobachter ertragreich erträgt.

Ich verließ die Post und wäre beinahe von einer Mutter mit vielen Tüten überrannt worden, in deren Augen Panik und Agonie blitzten.
Vor dem Briefmarkenautomaten stand eine weitere Menschentraube mit Bergen von unfrankierter Weihnachtspost. Plötzlich fiel der Automat aus. Die Menschen sahen sich an, drehten sich um und plötzlich strömte die Traube auch noch ins Postamt.
Die drei Schlangen verschmolzen zu einem Sumpf, das heulende Kind verstummte und verschwand im Wald der Beine und das letzte was ich sah, war ein flehender, ängstlicher Blick des kraushaarigen Beamten, der stumm um letzte Hilfe zu schreien schien.
Der Dezember ging weiter.
 



 
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