Weihnachtszirkus

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Maribu

Mitglied
Weihnachtszirkus

Frau Harms fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut.
Notgedrungen und unlustig räumte sie ihren Geschirrspüler aus.
Weihnachtsstimmung kam auch jetzt, drei Tage vor dem Fest, noch nicht auf.
Die Gedanken waren bei ihrer Tochter, die heute morgen einen Untersuchungstermin in der Klinik hatte. Es waren bereits zehn Tage über den errechneten Zeitpunkt und sie befürchtete, dass eine Geburtseinleitung erfolgen müsste.
Aus dem Augenwinkel meinte sie, eine Gestalt mit einem großen Hund gesehen zu haben. Gleich danach klingelte es. Bevor sie die Haustür erreichte, hatte ihr Mann sie bereits geöffnet und sagte lachend: "Wollen Sie uns Ihr Tier verkaufen?"
Der vermeintliche Hund war ein Esel. Eine junge Frau mit Pelzmütze, Lederjacke und langschäftigen Stiefeln hielt ihn an einer kurzen Hanfleine.
Die Frau lächelte und antwortete: "Nein, der ist unverkäuflich!
Den brauchen wir für unsere Existenz. Ich sammle für unseren Zirkus im Winterquartier."
"Ständig wird bei uns an der Tür geklingelt!", herrschte Frau Harms sie an. "Leute, die uns Weihnachtskarten andrehen oder Spenden sammeln wollen. Gestern hat uns jemand aus dem Mittagsschlaf gerissen, weil er uns einen Tannenbaum verkaufen wollte. Dabei haben wir selber welche im Garten!"
Die Frau schien ziemlich entmutigt und antwortete leise:
"Entschuldigung, dass konnte ich ja nicht wissen!"
Herr Harms lachte und sagte beschwichtigend: "Natürlich konnten Sie das nicht! - Wo sind Sie denn untergekommen?"
"Beim Bauer Krull."
"Ach da, das ist ja in der Nähe, an der Grenze zu Duvenstedt. Und wann geht es wieder los?"
"Da jetzt überall Weihnachtsmärkte sind, erst Mitte Januar auf der Wiese hinter dem Marktplatz."
Sie hatte die Leine inzwischen losgelassen, und der Esel stand regungslos neben ihr. Es war ein schönes Tier. Vorne war er grau und fast in der Mitte bis zum Schwanz ging das Fell in ein dunkles Braun über. Herr Harms strich genau bei diesem farblichen Übergang über den Rücken des Tieres und fragte:
"Wie heißt er denn?"
"Flecki."
Herr Harms schmunzelte. "Ja, wie denn sonst! - Und wie heißen Sie?"
"Ich?"
"Nein, nicht Sie persönlich! Ihre Zirkustruppe, die haben doch alle einen Namen so wie Busch, Renz oder Sarasani."
"Wir sind nur ein kleiner Familienbetrieb. Über dem Zelt steht nur einfach 'Zirkus'."
"Und was haben Sie zu bieten?"
"Wir haben Jongleure, einen Feuerschlucker und einen Clown. Die Hauptattraktion ist aber Flecki mit seinen Kollegen." Sie klopfte dem Esel auf das Hinterteil, dass er zusammenzuckte.
"Wir spielen die 'Bremer Stadtmusikanten'. Meine beiden Töchter und die drei Söhne meiner Schwester trommeln ganz leise in der abgedunkelten Manege. Als erster läuft Flecki herein und stellt sich vor ihnen auf. Danach kommt der schwarze Hund, der auf ihn raufspringt. Die gelbe Perserkatze hat auch keine Schwierigkeit, mit einem Sprung auf dem Hund zu landen. Das Spielen der Kinder wird immer lauter, und bei einem Trommelwirbel flattert der Hahn nach oben."
"Donnerwetter!", entfuhr es Herrn Harms. Er griff dem Esel in die Mähne und sagte: "Du bist ja ein richtiger Star! Da kann ich ja gar nicht anders, als dir einen Leckerli zu besorgen."
Er ging ins Haus. Frau Harms sagte: "Ich hab das vorhin nicht so gemeint!"
Die Frau winkte ab. "Das bin ich gewohnt!"
Herr Harms kam zurück und hielt dem Esel eine Möhre hin, die er sofort zerkaute. Er öffnete sein Portemonnai und fragte: "Wo haben Sie die Sammelbüchse?"
"Wir nehmen das Geld so an", antwortete sie. "Mit diesen Metalldosen haben wir schlechte Erfahrungen gemacht. Die meisten stecken da nur Münzen rein, manchmal nur zehn Cent."
"Ich verstehe!" Er entnahm einen Zwanzig-Euro-Schein und drückte ihn ihr in die Hand.
"Oh, vielen Dank! Und frohe Weihnachten!" Sie nahm den Esel an die Leine und ging. Sie schauten ihnen hinterher. Kurz vor der Gartenpforte blieb der Esel stehen und bedankte sich mit einem großen Haufen. Die Frau versuchte ihn noch nach draußen zu zerren, aber Esel sind ja bekanntlich stur.
"Nun auch noch diese Schweinerei!" schimpfte Frau Harms.
Ihr Mann lachte. "Man sagt doch, Scheiße bringt Glück!"
"Ja, dann mach das man gleich wieder sauber!"
Als er zurückkam, war sie mit der Arbeit in der Küche fertig und hatte ein paar Äpfel zerschnitten. "Wo bist du damit abgeblieben?"
"Na, wo schon? Auf unserem Komposthaufen. Das ist doch bester Dünger!"
Jetzt lachte sie. "Ein dressierter Zirkusesel, den man nicht mal davon abhalten kann, bei großzügigen Leuten seine Hinterlassenschaft im Vorgarten abzuladen!"
Er blieb ganz ernst und fragte: "Bist du so sicher? Der hat ja noch nicht mal ein vernünftiges Halsband! Du hast doch selbst diesen Strick von Wäscheleine gesehen!" Er nahm sich ein Stück Apfel und ergänzte dann: "Bauer Krull züchtet doch Esel und die Wiese hinter dem Markt hat schon seit Wochen einen Bauzaun!"
"Du meinst sie hat uns belogen und sich den Esel nur ausgeliehen?"
"Ja."
"Und dann hast du ihr trotzdem zwanzig Euro gegeben, nachdem sie vorher diese Masche mit der Spendendose und den Münzen abgezogen hat?!"
"Ja, weil da großer Mut zugehört! Außerdem hatte sie viel Phantasie! Diese Ausschmückung der Bremer Stadtmusikanten war wirklich gelungen und fast überzeugend!"
Frau Harms schwieg. Er kaute nachdenklich an dem Apfel und sagte dann: "Außerdem ging mir noch etwas anderes durch den Kopf: Der Esel war doch damals auch in Bethlehem dabei. Vielleicht war das irgendein Zeichen?"
Seine Frau schüttelte lächelnd den Kopf. "Du hast auch so eine blühende Phantasie wie diese Zirkusprinzessin!"
Abends rief ihr Schwiegersohn an und Frau Harms sagte anschließend zu ihrem Mann: "Herzlichen Glückwunsch zum Großvater! Susanne hat heute Mittag ein Mädchen entbunden.
Es war eine ganz normale Geburt ohne Komplikation."
Herr Harms lächelte glücklich und erleichtert und meinte:
"Von wegen Phantasie! Dann waren die zwanzig Euro doch gut angelegt!"
 
A

aligaga

Gast
Endlich mal eine echte Weihnachtsgechichte, die man gern von vorn bis hinten durchliest und dann nicht moralinbekleckert ins Badezimmer muss, sondern einen Zimtstern aus der Büchse holt und sich fast den Zahn daran abbeißt, weil der noch so hart ist.

Kompliment! Wenn @ali Noten gäbe, bekäme diese hübsche Weihnachtsnummer elf Punkte.

Quietschvergnügt

aligaga
 

molly

Mitglied
Hallo Maribu,

alis Kompliment kann ich nur zustimmen, eine wirklich gelungene Weihnachtsgeschichte. Außerdem mag ich Geschichten mit Esel.

Viele GRüße

molly
 

Maribu

Mitglied
Hallo Ali,

ich bin überrascht über deine Reaktion und hoffe, dass es nichts mit Milde anlässlich des bevorstehenden Festes zu tun hat!

Wenn ich dich ab und zu mal "angegangen" bin, bitte ich hiermit um Entschuldigung! (hat auch nichts mit Weihnachten zu tun!)

Ohne deine Mitgliedschaft wäre die Leselupe ärmer!

Kollegiale Grüße
Maribu
 
A

aligaga

Gast
Wenn ich dich ab und zu mal "angegangen" bin, bitte ich hiermit um Entschuldigung! (hat auch nichts mit Weihnachten zu tun!)
Nicht nur die digitale, auch die analoge Literaturwelt ist ein Haifischbecken, in das nicht springen sollte, wer kaum schwimmen kann, keine Fettschichten hat, von denen er zehren könnte, und zu dünnhäutig ist. @Ali hatte dich anfangs für ein Mädchen gehalten.

Wie wohltuend doch, wenn man nicht immer nur kritisieren muss, sondern auch mal wohlverdiente Blümchen verteilen kann.

Heiter immer, immer weiter

aligaga
 

Sidgrani

Mitglied
Eine prima Geschichte, die auf zwischenmenschliche Art den Geist der Weihnacht vermittelt, ich gratuliere.

Beeindruckt
Sidgrani
 

Maribu

Mitglied
Danke, Sidgrani!

Nachdem ich oft bei Veröffentlichungen von überwiegend anonymen Kritikern - aus welchen Gründen auch immer - unter Wert "abgestraft" wurde, tut soviel Zustimmung auf einmal gut!

Beste Grüße
Maribu
 



 
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