Weine noch einmal

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Gute Fee

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Ich habe mir lange überlegt, ob ich sie dir erzählen soll. Diese Geschichte, die ich nicht vergessen kann - nein, die mich verfolgt, seit siebenundzwanzig Jahren. Im Grunde war alles halb so schlimm, damals, und aus heutiger Sicht, meine Gott, eigentlich gar nicht der Rede wert. Ich war jung. Vielleicht war es deshalb ein so einschneidendes Erlebnis, dass die Erinnerung bis heute fast täglich in meine Gedanken fällt und ich in den belanglosesten Momenten wieder und wieder darauf stoße.
Jetzt habe ich mich hingesetzt, um dir alles zu erzählen, alles, was in mir rumort, nicht mehr und nicht weniger, als an jedem Tag zuvor.

An seinen Namen erinnere ich mich überhaupt nicht mehr, wohl an sein Gesicht und an seine Haare. Ein seltsames Gesicht und eine seltsame Frisur, ein wenig indianisch vielleicht, schwarz, mit einem Mittelscheitel. Ich habe noch nie einen Mann gesehen, dem ein Mittelscheitel wirklich gut steht, noch nie. Dieser Mann hatte die durchscheinende Blässe eines Molches und grobe Furchen im Gesicht, er konnte nicht sehr alt sein. Falten von zuviel Alkohol und zu vielen Zigaretten, was nicht wundert, bei dem Beruf. Er war Kellner dort, und er war der Freund von Eikes Freund.
Eike und ich kannten uns seit über einem Jahr, wir waren so etwas wie beste Freundinnen. Ich gebe zu, ich war naiv und etwas unbedarft, trotzdem, niemand hätte ahnen können, dass so etwas geschehen würde.

Siebenundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit und ich merke, dass mich die Angelegenheit loswerden will, die Erinnerung mich losläßt, oder ich sie. Ich werde sie nicht entlassen, ohne sie aufgeschrieben zu haben, ohne jemanden wissen zu lassen, was meine Seele wieder und wieder wundgescheuert hat - bevor sich die Geschichte aus dem Staube macht. Du kennst mich, du wirst mir keine Vorwürfe machen.

Wir waren fein herausgeputzt und ausstaffiert, Eike und ich. Ich hatte die bessere Figur und ich war die Hübschere, dass war mir damals nur nicht bewußt. Erst viel später, ich kann es ohne Arroganz behaupten, wurde mir klar, dass ich ein hübsches - ein sehr hübsches Mädchen gewesen war.

In der Diskothek war richtig was los. Nicht, dass ich mich in Diskotheken wohl fühlte, auf keinen Fall, aber Eikes Freund war dort Diskjockey und ich gerade 18 Jahre alt geworden. Hey, ich kann tun und lassen, was ich will, ich bin frei. Dass ich da nicht hingehörte, dass ich nicht zu diesen Menschen gehörte, habe ich nicht gespürt. Muss man so etwas mit 18 Jahren spüren?

Es muss wohl gegen 4 Uhr morgens gewesen sein, als wir uns entschlossen, frühstücken zu gehen, mit Eike, Eikes Freund, beim Freund vom Freund. Das war super, das machten sonst immer nur die anderen. Das Leben zog nicht an mir vorbei - ich war mittendrin!
Ich erinnere mich, dass es in seiner Wohnung sehr sauber war, auch in der Küche. Erstaunlich sauber für einen betrunkenen Kellner. Auch jetzt musste er wohl betrunken sein. Er zeigte uns stolz seine Bücher, riesige Regale, vom ersten bis zum letzten Platz mit Büchern gefüllt. So einer konnte doch unmöglich so viele Bücher gelesen haben...... Nacheinander nahm er die Bände hinaus und ließ die Seiten durch die Finger schnellen. Ich traute meinen Augen nicht, zwischen den Seiten lagen, glatt gepresst, Geldscheine - Unmengen von Geldscheinen. Ein seltsamer Mensch, ein komischer Kauz!

Wir aßen und schwatzten und lachten.
Die Drei tuschelten. Eike sah mich an: Würdest du vielleicht mit ihm..., sie machte große Augen, knipste mit dem einen Auge und nickte in Richtung Indianer. Ich verstand nicht. Wie bitte? Sie legte die Hand an den Mund, als hätte sie etwas zu verbergen, beugte sich zu mir vor und flüsterte: Er hat schon lange keine Freundin mehr gehabt. Ich warf den Kopf in den Nacken und lachte: Du bist ja verrückt, was für ein blöder Scherz. Und Eike lachte auch.

Sie waren beide fort, als ich von der Toilette kam, mir wurde schlagartig schlecht. Nervös fragte ich, wo sie denn hin wären - er grinste. Sie kamen nicht wieder. Aber er kam, dieser rotgesichtige ausgemergelte Mensch kam und machte sich an mir zu schaffen. Hastig lief ich zur Tür. Natürlich - die Tür war zu und der Schlüssel an seinem Hosenbund!

Nein, schrie es in meinem Hirn, das ist nicht wahr, es kann nicht wahr sein. Eisige Kälte kroch in mich hinein, begann von meinen Füßen aufwärts, stieg an meinen Beinen hinauf zu meinem glühenden Kopf.
So ist Eike nicht, sie wird gleich kommen, gleich wird sie vor der Tür stehen. Alles ist nur ein Spaß.
Sie kam nicht - und der Mensch ließ nicht ab von mir.....
Von Sinnen vor Angst, zog ich meine Knie bis unter mein Kinn, umklammerte sie mit beiden Armen und verkeilte die Finger. So wie damals, in der Schule, als wir unsere Hände wie Haken ineinanderlegten und wie besessen zogen, um zu prüfen, wer von uns wohl die Stärkere sei. Er ließ nicht ab von mir und ich hatte seine Kräfte unterschätzt. Betrunkene sind entsetzlich stark. Seine wässrigen blauen Augen in diesem widerlichen Gesicht starrten mich gierig an. Er zerrte an mir und er zerrte an meinen Haaren und ich heulte und heulte. Nein, ich weinte - und hatte Todesangst.

Er würde mich knacken müssen, knacken wie eine Nuss und er würde es nicht schaffen. Sein mageres rotes Gesicht vor mir, viel zu nah an meinem. Er schaute mich an, fast zärtlich: Weine noch einmal, du siehst so schön aus, wenn du weinst .....
Mein Gott, so etwas passiert mir doch nicht, nicht in Wirklichkeit!
Wieder und wieder sank er auf das Kissen, um gleich darauf wieder aufzustehen. Ich sagte kein einziges Wort: nicht sprechen, nichts sagen, ich biß auf meine Lippen, keine Verbindung aufnehmen, keine Annäherung, nur aushalten, ausharren, bis alles vorbei war - aber wie lange, wann?
Tosendes Blut in meinen Ohren, schmerzende Augen und die Tür war zu und der Schlüssel an seinem Hosenbund.

Bis heute habe ich nicht begriffen, wie es möglich war, dass ich im gleichen Moment jedes kleinste Detail, jede winzige Kleinigkeit aufgenommen und nie wieder vergessen habe, obwohl mein Kopf dröhnte und ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Welcher Schein liegt in welchem Buch? Ich hätte es sagen können.
In der Not werden die Sinne scharf!
Wie auf einer Rundbühne zogen volle Regale, Hunderte von Büchern, entsetzlich grelle Lampen an mir vorbei. Kalte Kellerräume, gleißendes Licht, schreckliche Verhöre, Gedankenfetzen, und meine Stimme schrie in mein Hirn hinein: Halte durch, halte durch, nicht loslassen, nur nicht aufgeben!
Du hast keine Vorstellung, wie langsam Stunden vergehen, wenn jede Sekunde eine Ewigkeit zählt.

Wie konnte ein Mensch plötzlich so fest schlafen? Er schnarchte! Zum ersten Mal schnarchte er. Er schlief. Jetzt nicht die Nerven verlieren, minutenlang starrte ich ihn an. Dann stand ich langsam auf und ging langsam zum Bücherregal. Er schnarchte immer noch. Ich wandte die Augen nicht von ihm. Wenn ich mich umgedreht hätte, er würde wieder hinter mir stehen.
Ich weiß, wie kalter Schweiß sich anfühlt. Keinen Moment in meinem Leben war mein Schweiß kälter. Ich zog ein Buch aus dem Regal, und nahm den Zehnmarkschein heraus. Meine Tasche war in Eikes Auto, ich hatte keinen Pfennig.

Der Indianer seufzte im Schlaf und mein Blut erstarrte in den Adern. Wie ein Tier suchte ich nach einem Ausweg. Hören, Sehen, Fühlen, alles vermischte sich zu einem tosenden Brei, selbst meine Gedanken waren zu laut.

Die Tür war zu und die Schlüssel an seinem Hosenbund - an seinem Hosenbund, jetzt direkt vor meinen Augen. Mit den Fingerspitzen schob ich den Karabinerhaken zurück und entnahm den Schlüssel. Ewigkeiten hielt ich die Luft an. Die Zeit lief, als wäre sie nie da gewesen.
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Als ich die Tür von außen zuzog, war es mir egal, ob das Geräusch laut oder leise sein würde, und ich beeilte mich nicht, um die Stufen hinunter zu kommen. Ich war noch nicht einmal erleichtert.

Viele Leute saßen in der Straßenbahn, als sie endlich kam. Ich hatte das Gefühl, sie alle starrten mich an. Mein Kopf dröhnte unaufhörlich und meine Augen waren dick und rot, das wußte ich, ohne mich in der Scheibe zu spiegeln. Ich schämte mich - wofür?

Jetzt, wo du alles weißt, wo ich dir Dinge erzählt habe, die weit vor deiner Zeit liegen, die dich eigentlich gar nichts angehen, fühle ich mich leicht.

Mit Eike habe ich nie wieder gesprochen und als sich nach Tagen die Wut einstellte, waren mir selbst meine Schimpfwörter für sie zu schade.

Noch in der gleichen Woche brachte ich dem Kellner seinen Zehnmarkschein in die Diskothek. Er lachte mich freundlich an, als wäre nichts gewesen.

Ich weiß, ich habe Glück gehabt, damals, verdammtes Glück.
Und mit einem hat er recht gehabt, dieser häßliche Indianer, der mich verschont hat: Ich sehe schön aus, wenn ich weine.
 
M

Minds Eye

Gast
Herzlich Willkommen.
Du hast Dich hier mit einem eindrucksvollen Text vorgestellt. Bin immer noch gefangen von der sprachlichen Intensität.
Viele Grüße,
ME.
 
Hallo Gute Fee,

als ich den Anfang gelesen hatte, dachte ich nur wow. Da gibt es Sätze, die Du auch irgendwann hättest schreiben können. War wirklich wirklich beeindruckt.
In der Mitte hing Deine Geschichte etwas, konnte mir die Szene im Zimmer nicht ganz so gut vorstellen und vor allem war ich über das plötzliche Einschlafen des Indianers überrascht. Ich finde die Lösung etwas unglücklich. Auch vom Schluss hätte ich etwas mehr erwartet.

Im Großen und Ganzen fand ich aber Deine Geschichte spannend und gut herausgearbeitet und die wohlbedachten Wörter taten ihr übriges. Die Personen konnte ich mir sehr gut vorstellen. Das ist prima. Großes Lob.

Viele Grüße
Herbert
 
E

Enza ost

Gast
Da kann ich mich nur anschliessen: Wunderbar gelungen! Du hältst die Spannung bis zum Schluß, da muß man einfach weiterlesen! Kompliment und bitte mehr davon...

Gruß von Enza ost
 

Gute Fee

Mitglied
@ Minds Eye
@ Herbert Stahlvogel
@ Enza ost

Hallo alle miteinander,

herzlichen Dank für Euer Lob – ich habe mich wahnsinnig gefreut! Ganz besonders, weil es meine erste Geschichte ist und weil ich mich überhaupt nicht zum Schreiben „berufen“ fühle.
Ich hätte nicht gedacht, dass diese Anerkennung mir so viel Mut macht und ich Lust bekomme, gleich noch eine Geschichte zu schreiben.
Mal schaun, was draus wird.....

Schöne Grüße sendet die
Gute Fee
 



 
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