Weiß

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P

Prosaiker

Gast
ein wortfluss, der sich gerade aus den brüchen ergibt - & fährt man auf ihm, dann wie in einem kajak, nicht zwingend durch wildgewässer zwar, aber dennoch tiefer und tiefer hinab richtung eros, welcher hier keine pathetische überfrachtung erleidet sondern flankiert wird vom leisen, ironischen, ja fast schüchternen unterton, erzeugt durch scheinbar schmunzelnde wortspielereien. bei allem, dem surrealismus, dem wortfluss, dem lächeln, ist auch die melancholie begleiterin deines gedichts, eine sanfte dame in diesem fall, die nicht in den schlammsud der sentimentalität zieht sondern vielmehr auf den sicheren, weil festen boden der realität verweist. ich spüre, es ist treffend, wenn ich sage: ein sehr weibliches gedicht.
dies ist, anteilig, in nuancen jeweils, mal mehr dort, mal weniger hier - wie ich deinen text lese.
und bis jetzt las ich noch nichts schlechtes von dir.
vg,
Prosa.
 

ENachtigall

Mitglied
Danke, Prosa, dass Du Dich auf so eine intensive Lesart eingelassen hast - das Bild von der Kajakfahrt macht mir die Lesereise dieses Stückchens (fast körperlich) neu erlebbar. Auf vereinzelten Zeilen - kleinen Brücken oder Springsteinen - läßt sich der Sprachfluss hier und da überqueren.
Die aufgespürten Nuancen überraschen mich teils, weil sie sich eingeschlichen haben. Gegen diese "blinden Passagiere" habe ich gar nichts einzuwenden.
Ein bereichernder Kommentar.

Viele Grüße.

Elke
 
D

dockanay

Gast
liebe elke,


tatsächlich, wie prosaiker das ja schon andeutet, spricht hier ein vollkommen poetisches ich, das noch nicht ersoffen ist im ganzen mediengeschwätz unserer modernen tage, das bestrebt ist, die poesie zum letzten rettungsraum für den empfindsamen menschen zu machen. und nur im gedicht kann sich der lyriker hinstellen und ein paar zeichen in den stein ritzen, obwohl doch schon alles irgendwie geschrieben ist. mit einer zauberhaften leichtigkeit, als würde man ein lied summen, aber auch mit der verzweiflung, die augenblicklich herausbricht, sei es noch so leise und bescheiden hingehaucht, ist dein gedicht auf jeden fall ein lebendiger erinnerungsversuch an die ersten regungen der sinne. wunderschön.

lg dockanay
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo dockanay,

ich danke Dir sehr für den Kommentar und bin überrascht, wie feinfühlig Du Zwischentöne wahrnimmst. So triffst Du mit dieser Äußerung wirklich mitten ins Schwarze
ich, das noch nicht ersoffen ist im ganzen mediengeschwätz unserer modernen tage
Der Geborgenheitsfaktor, der mich rettet, im Krach und Chaos nicht handlungsunfähig und leidend zu verharren, nährt sich aus dem Versuch, spielerisch/respektvoll umzugehen mit meiner "kleinen Welt". Immer gelingt das nicht. Das Anschauen von Gewaltszenen z.B., heute Hauptbestandteil der TV-Bilder, verursachte mir von jeher körperliches Unbehagen. Das nehme ich heute einfach nicht mehr in mich auf. Vielleicht "flimmert" es deshalb bei mir irgendwie anders; jedenfalls es ist angenehm unschädlich und es hat seinen Zauber. Ich freue mich, dass etwas davon auf meine Texte abzufärben scheint.
Mit lieben Grüßen

Elke
 

Perry

Mitglied
Hallo Elke,
deine Zeilen lösen viele Fragen in mir aus.
Wenn spricht das lyrische Ich an, sich selbst, einen Geliebten, alle?
Was ist das "Weiß" das gnädige Vergessen?
Für was stehen die Polarnachtaugen, für Sterne?
Wie du siehst habe ich für fast alles (m)eine Interpretation gefunden.
Einziger Kritikpunkt sind aus meiner Sicht die gebräuchlichen Redewendungen "Schnee von gestern" und "Lügen haben lange (kurze?) Beine." Ich weiß, so was wird in Lyrikerkreisen gerne genommen (nehme mich da nicht aus -lächel) aber ich finde solche Allgemeinplätze hat dein Text gar nicht nötig.
LG
Manfred
 

ENachtigall

Mitglied
Lieber Manfred,

Du hast Dir Zeit genommen, zum Lesen, Bedenken und Formulieren von Fragen; dadurch schenktest Du dem Gedicht Deine Anerkennung. Ein herzliches Danke dafür vorab.

Auch ich habe mir Zeit genommen für die Antworten. Sie zu ordnen bedeutete, Grenzen erneut abzuschreiten, hier und da Formulierungen abzuklopfen und Verbindungsstellen auf Haltbarkeit zu prüfen. Das bestärkte meine Überzeugung von der Solidität der Substanz. Deshalb hier gerne mein Bericht dazu:
Wen spricht das lyrische Ich an, sich selbst, einen Geliebten, alle?
Zutreffend ist Deine erste Vermutung (First impressions are often correct): es ist eine Autosuggestion. Sie hat die Aufgabe den Prozess der Umwandlung schonend und konstruktiv zu gestalten.

Was ist das "Weiß" das gnädige Vergessen?
Für was stehen die Polarnachtaugen, für Sterne?
Manche Zeiten hinterlassen starke Spuren, die uns tiefer ins Dunkel ihrer Schattenwelt hineinziehen, als das Bewußtsein erkennt. Diese Dauertrübung steigert sich - wie die Länge der Polarnächte - bis zu dem Punkt, da ein meist lange überfälliger Entschluss zum "Neuanstrich" (sowohl konkret als auch symbolisch) endlich umgesetzt wird. Das Weiß erscheint in diesem Moment, da es die empfindliche Netzhaut trifft, gleichzeitig schmerzhaft blendend und euphorieauslösend. Was für eine leere Bühne, ein unbeschriebenes Blatt, unschuldiger Grund, Projektionsfläche neuer Ideen, Auferstehungsort begrabener Wünsche, Arena der Fantasie!
Das Lyrich aber ist vorsichtig. Es kennt die Gefahr, die im unkontollierten Wuchern dieser agilen, vorwärts stürmenden Kräfte schlummert. Daher nimmt es nur wohldosiert (Fünkchen) davon auf und vermeidet, sich an der Unerfüllbarkeit unausgegorener Zukunftsvisionen (Lügen lange Beine machen) langfristig neue Wunden zu schlagen. Aus dem Vertrauen, das aus der Empfindung wächst, hier und jetzt richtig zu sein, entwickelt sich Vermögen für Morgen (Feuer entfachen können).
Einziger Kritikpunkt sind aus meiner Sicht die gebräuchlichen Redewendungen "Schnee von gestern" und "Lügen haben lange (kurze?) Beine."
Der Schriftsteller Miguel de Cervantes definierte:
"Ein Sprichwort ist ein kurzer Satz, der sich auf lange Erfahrung gründet."
Ich erachte viele diese Wendungen für erhaltenswerte Errungenschaften unserer Sprachkultur und nutze sie gerne und überzeugt als aussagekräftige Hilfsmittel. Vor allem wenn sie sich so gut einfügen wie hier und/oder abwandeln lassen.

In der Hoffnung auf ebensoviel Aufmerksamkeit für diese Antwort wünsche ich Dir ein erfrischendes Wochenende mit Regenguss bei all der Hitze.

Herzlich

Elke
 
S

Sandra

Gast
Ein sehr schönes, stimmiges Gedicht, liebe Elke.
Die Brüche hacken die Sätze nicht ab, sondern lassen sie doppeldeutig weiterlaufen. Die Demenz unserer Zeit - Übel und Krankheit, die den Menschen erst überlebensfähig machen. Ars memoria, ars oblivio. Die Bilder lassen stimmig Vergessen und Erinnern ineinander fließen. Einen Satz könntest du m.E. jedoch überdenken:

Erschrick nicht vor dem
Weiß Es tüncht
die Spuren zu Schnee
von Gestern Von
Morgen wollen
Polarnachtaugen noch
nichts wissen Sie
ringen den Lichtfluten
Fünkchen von Selbst
Erkenntnis ab und zu
blinzeln wäre Lügen
lange Beine machen
Und wer sollte
dann neues Feuer
entfachen können
in der Dämmerung
kommender Eiszeiten…


Mit der Zeile: '(ringen den Lichtfluten) Erkenntnis ab'
hast du zu der vorherigen Zeile (Fünkchen von Selbst) eine Art Dopplung oder nähere Erklärung gesetzt. Darauf konnte der Text bisweilen verzichten. Den Raum oder die Lücken zur nächsten Zeile schließt bis dahin der Leser. Der Funken ist natürlich ein stimmiges u. schönes Bild zum folgenden Feuer, was ich durchaus ebenfalls so sehe. Ich gebe dir diese Info einfach zum Überdenken. (Wie immer du möchtest)
So oder so - deine Zeilen haben mir sehr gut gefallen.

LG
Sandra


P.S. Oh ja - der Titel. Er wird dem Gedicht nicht gerecht. Ich denke nicht nur, dass er schlecht gewählt ist, sondern, dass er sogar völlig falsch ist. Sorry.
 

ENachtigall

Mitglied
Liebe Sandra,

Treffsicherheit zählt zu Deinen Stärken: an genau dieser Stelle haderte ich, weil einerseits das Wort "Selbsterkenntnis" nicht exakt dem entspricht, was ich brauchte, andererseits ein Trennungsstrich die Zusammengehörigkeit anzeigen müsste (aber optisch fragwürdig schien).
Mit der Zeile: '(ringen den Lichtfluten) Erkenntnis ab'
hast du zu der vorherigen Zeile (Fünkchen von Selbst) eine Art Dopplung oder nähere Erklärung gesetzt.
Schlicht "Erkenntnis" zu schreiben wäre mir zu umfassend und damit anmaßend. Das "Selbsterkenntnis" komprimiert es, suggeriert aber mittels des "er-", eine vorhandene Blindheit, mit der ich nicht einverstanden bin. Ich brauche einen Lernprozess, der wohl vom Wort "Selbstkenntnis" am Geeignetsten transportiert wird. Und ein Trennungsstrich unterscheidet sich optisch nicht vom Gedankenstrich, den ich gerne verwende. Also: her damit.

Der zweite Treffer ist der Titel. Ich gebe Dir unumwunden recht und tausche ihn gegen "Weiß".

Ganz herzlichen Dank für die Hilfe!

Lieben Gruß

Elke
 

namaqool

Mitglied
hallo elke,

eine frau, die noch nicht bereit ist, ihr herz für einen neuen verehrer zu öffnen, so lese ich dein Gedicht.

wunderschöne worte, traumwortbögen in eis.

zur letzten Frage: was hälst du von einem eisbären?

grüsse, namaqool.
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo namaqool,

auch an Deinem zwischen-den-Zeilen-Lesen ist Wahres.
Ich habe sehr über die schöne Formurlierung geschmunzelt - und über die geniale Idee mit dem Eisbären auch. Leider ist diese Spezies in unseren Breitengraden eher rar.

Herzliche Grüße aus dem bunten Eckchen.

Elke
 

namaqool

Mitglied
ja, elke, das herz muss bunt bleiben, auch wenn es nur ein kleines eckchen ist...

übrigens - eisbären gibt es überall. selbst in wüstengegenden. dort sind sie allerdings meist rasiert.

grüsse aus der kopfüberwelt.
 



 
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