Lieber Manfred,
Du hast Dir Zeit genommen, zum Lesen, Bedenken und Formulieren von Fragen; dadurch schenktest Du dem Gedicht Deine Anerkennung. Ein herzliches Danke dafür vorab.
Auch ich habe mir Zeit genommen für die Antworten. Sie zu ordnen bedeutete, Grenzen erneut abzuschreiten, hier und da Formulierungen abzuklopfen und Verbindungsstellen auf Haltbarkeit zu prüfen. Das bestärkte meine Überzeugung von der Solidität der Substanz. Deshalb hier gerne mein Bericht dazu:
Wen spricht das lyrische Ich an, sich selbst, einen Geliebten, alle?
Zutreffend ist Deine erste Vermutung (First impressions are often correct): es ist eine Autosuggestion. Sie hat die Aufgabe den Prozess der Umwandlung schonend und konstruktiv zu gestalten.
Was ist das "Weiß" das gnädige Vergessen?
Für was stehen die Polarnachtaugen, für Sterne?
Manche Zeiten hinterlassen starke Spuren, die uns tiefer ins Dunkel ihrer Schattenwelt hineinziehen, als das Bewußtsein erkennt. Diese Dauertrübung steigert sich - wie die Länge der Polarnächte - bis zu dem Punkt, da ein meist lange überfälliger Entschluss zum "Neuanstrich" (sowohl konkret als auch symbolisch) endlich umgesetzt wird. Das Weiß erscheint in diesem Moment, da es die empfindliche Netzhaut trifft, gleichzeitig schmerzhaft blendend und euphorieauslösend. Was für eine leere Bühne, ein unbeschriebenes Blatt, unschuldiger Grund, Projektionsfläche neuer Ideen, Auferstehungsort begrabener Wünsche, Arena der Fantasie!
Das Lyrich aber ist vorsichtig. Es kennt die Gefahr, die im unkontollierten Wuchern dieser agilen, vorwärts stürmenden Kräfte schlummert. Daher nimmt es nur wohldosiert (Fünkchen) davon auf und vermeidet, sich an der Unerfüllbarkeit unausgegorener Zukunftsvisionen (Lügen lange Beine machen) langfristig neue Wunden zu schlagen. Aus dem Vertrauen, das aus der Empfindung wächst, hier und jetzt richtig zu sein, entwickelt sich Vermögen für Morgen (Feuer entfachen können).
Einziger Kritikpunkt sind aus meiner Sicht die gebräuchlichen Redewendungen "Schnee von gestern" und "Lügen haben lange (kurze?) Beine."
Der Schriftsteller Miguel de Cervantes definierte:
"Ein Sprichwort ist ein kurzer Satz, der sich auf lange Erfahrung gründet."
Ich erachte viele diese Wendungen für erhaltenswerte Errungenschaften unserer Sprachkultur und nutze sie gerne und überzeugt als aussagekräftige Hilfsmittel. Vor allem wenn sie sich so gut einfügen wie hier und/oder abwandeln lassen.
In der Hoffnung auf ebensoviel Aufmerksamkeit für diese Antwort wünsche ich Dir ein erfrischendes Wochenende mit Regenguss bei all der Hitze.
Herzlich
Elke