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Sunyata

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Die Luft war belebend und, durch ihre Reinheit, kraftspendend. Sonnenstrahlen erwärmten die Wiese unter seinen Füßen, sodass er die noch vom Morgentau feuchte Erde riechen konnte. Der Himmel schimmerte blau, blau so wie ein Türkis; feine, weiße Wolkenspuren verstärkten den Eindruck, unter einer Kuppel aus diesem Edelstein zu stehen.
Vor ihm erstreckte sich eine Landschaft aus unzähligen Kuppen, kleinen Bergen und lang gestreckten Tälern. Leuchtend grüne Grasflächen wurden unterbrochen von kleinen, schwarzgrünen Überbleibseln von jenen Wäldern, die sich hier einst befanden. In den entlegensten Winkeln der Täler fanden sich Siedlungen, so als wären sie Dreck, der in kleinen Ritzen vom reinigenden Regen verschont wurde.
Rolfs Rucksack fühlte sich heute sehr leicht an, denn er hatte nichts außer einer Karte, einem kleinen Getränk, einen alten Müsliriegel und einer Regenjacke dabei. Er war zu der Überzeugung gekommen, dass ihn zu viel Gepäck nur bremste. Schließlich wollte er ja nur eine kurze Tour machen. Außerdem ging es ihm heute nicht ganz so gut, ihm war ein wenig schwindelig, deshalb würde er sich schonen. Er war sich sicher, dass seine Übelkeit durch frische Luft und Bewegung verschwinden würde, also brauchte er sich nicht allzu viel Sorgen zu machen.
Sein Ziel war ein markanter Berg, der sich von den kleineren Kuppen um ihn herum abhob. Kein Weg führte zu ihm hinauf, weshalb er ihn querfeldein erklimmen wollte. Der Wanderer musste nur eine Möglichkeit finden, an den Basaltfelsen vorbei zu kommen, die die Route zum Gipfel blockierten.
Rolf blickte noch einmal zurück zu seinem Auto, holte tief Luft und begann seine Tour. Die erst vor einer Stunde aufgegangene Sonne wärmte seinen Rücken, als er auf einer windigen Anhöhe im strammen Marsch voranschritt. Bald darauf ging es bergab, und es war nur dem guten Profil seiner Schuhe zu verdanken, dass er nicht abrutschte. Durch das Tal hatte sich eine Straße gefressen, jedoch wurde sie kaum genutzt, sodass der Wanderer sie problemlos überqueren konnte.
Dann begann der Aufstieg. Zwar wollte Rolf einen weniger steilen Abhang wählen, doch dieser wurde über eine eingezäunte Weide versperrt. Nichts konnte ihn aufhalten. Selbst wenn es hart auf hart kam, zog er sich an kleinen Felsen und Ästen hoch und überquerte so jedes Hindernis.
Zwischendurch hatte er einen kleinen Bach gesucht und in diesen seine erschöpften Füße abgekühlt. Als er den Müsliriegel auspacken wollte, hatte sich die pappige, graue Masse nur ungern von der Verpackung trennen wollen, doch Rolf konnte zumindest Bruchstücke befreien.
Nach einem Schluck Wasser brach er erneut auf, um bald darauf ein paar Felsen zu überwinden, danach meisterte der Wanderer eine längere Steigung und durchquerte dorniges Gestrüpp, um letztendlich am Gipfel anzukommen.
Er hatte den Berg erklommen, das Ziel erreicht. Im stundenlangen Kampf zwischen Mensch und Natur hatte er gesiegt. Ein gewaltiges Glücksgefühl durchströmte seinen Körper.
Die Sonne stand bereits an ihrem höchsten Punkt und brannte unerbittlich auf die Haut des Gipfelstürmers, aber Rolf war von Stolz erfüllt, mit eigener Kraft einen Weg hinauf auf diesen Berg gefunden zu haben. Eine Urkraft schien durch seine Adern zu strömen, und er war sich nie so sicher wie jetzt, dass ihn nichts und niemand aufhalten könnte. Keiner war fähig, ihn zu stoppen, weder die Natur, noch die Menschen, die ihn immer wieder enttäuscht hatten.
Der Wanderer schaute gen Westen. Ein schroffer Basaltkegel, kaum höher als der Berg, auf dem er stand, schien ihn magisch anzuziehen. Er spürte zwar, dass er mittlerweile schon ziemlich entkräftet war, aber der Ehrgeiz packte ihn. Sollte er müde werden, könnte er auch langsamer laufen. Auf dem Rückweg würde er dann einfach um die Erhebungen herum laufen und sich so schonen, obwohl sein Schwindel nicht mehr so schlimm war wie am Morgen und er nicht übervorsichtig sein wollte, schließlich war er im besten Alter.
Dieser Berg war schon bezwungen, den Nächsten würde er genau so einfach meistern.
Beim Losgehen ahnte Rolf bereits, dass es vielleicht doch nicht so einfach werden würde. Es war schon ziemlich heiß, an die dreißig Grad könnten es heute schon gewesen sein. Er musste wieder das Tal zwischen beiden Gipfeln durchqueren, sodass wieder ein Abstieg bevorstand. Als er vorsichtig einen Abhang hinunterlief, schmerzten ihm bereits die Knie, aber davon ließ er sich nicht stören. Auf gewisse Weise motivierte es ihn, immer weiterzumachen, sich nicht bremsen zu lassen. Er musste sich selbst überwinden, denn man wächst nur mit Zielen, die größer sind als man selbst.
Als er auch dieses Tal durchquert hatte, wurde ihm erst bewusst, wie groß dieses Ziel war. Es gab zwar einen Weg nach oben – aber er war lang und steil.
Doch Rolf ging – trotz der zu erwartenden Mühen – weiter. Er war zu stolz, um aufzugeben, er würde sich vor sich selbst schämen, sollte er angesichts von ein paar Mühen kapitulieren.
Der Wanderer setzte einen Fuß vor den anderen, blickte nicht nach oben, sondern auf den lehmbraunen Boden und keuchte. Jeder Schritt wurde zur immer grausamer werdenden Qual, sein Herzschlag war so schwer und schnell, dass er drohte, seinen Brustkorb zu zerreisen. Sein Gehirn hatte die Arbeit eingestellt, ans Denken war nicht mehr zu denken.
Rolf war bemüht, die Signale seines Körpers zu ignorieren. Er war der felsenfesten Überzeugung, nur noch wenige Schritte vom Gipfel entfernt zu sein. Dann würde er sich selbst feiern, seine Leiden vergessen und gemütlich nach Hause schlendern.
Aus wenigen Schritten wurden Meilen. Selbst wenn er sich verlaufen hätte, so wäre ihm das nicht aufgefallen. Die Erschöpfung hatte ihm die Sinne geraubt, und so ging er einfach geradeaus weiter.
Es muss bereits Abend gewesen sein, denn es wurde langsam düster, als er aufhörte seine Schmerzen zu spüren. Rolf fühlte sich, als hätte er seinen Körper verlassen und wäre hinweggeschwebt, wie ein Vogel, der sich federleicht erhebt. Losgelöst von seinem trägen Leib träumte er sich schon triumphierend auf dem Gipfel.
Bald darauf sah er sich weiterfliegen, jeden noch so großen Berg bezwingen; alle Enttäuschungen, aber auch seine Unzulänglichkeiten schienen vergessen. Kein Felsen, keine Steigung und keine Schwäche sollten ihn aufhalten. Jeden noch so langen und beschwerlichen Weg würde er in Sekunden bezwingen.
Während Rolfs Geist in die unendlichen Weiten hinausstrebte, kämpfte sich sein Körper voran, durchnässt und vor Erschöpfung zitternd. Der Schweiß floss ihm brennend in die tränenden Augen, auf seinen Wangen war er bereits verdunstet und bildete winzige Salzkristalle. Sein Leib war inzwischen ausgetrocknet, seine Kehle verdorrt, sein Blut zäh wie Sirup. Muskeln und Knochen brannten vor Überlastung, die Fersen badeten bereits im Blut, das an den am Schuh seit Stunden scheuernden Stellen austrat.
Ohne es zu bemerken, hatte er mittlerweile eine steinige Wiese an einer langen Steigung erreicht. Das Abendrot tauchte alles in ein unwirkliches Zwielicht.
Rolf kehrte aus seiner Verwirrung erst wieder zurück, als er über einen Stein stolperte. Er konnte sich nicht erinnern, wie er es bis hier oben geschafft hatte. Ein Schmerz in seiner Brust ließ ihm den Atem stocken, und er hätte schwören können, dass ein glühendes, mit Sägezähnen ausgestattetes Schwert seine Brust langsam durchbohrte. Seine Eingeweide verkrampften sich, als würden sie ein Eigenleben entwickeln.
Doch selbst das hielt ihn nicht auf. Während das Stechen langsam auf jedes Körperteil ausstrahlte und er das dröhnende Pochen des Pulses am Hals bis in den Kopf spürte, stolperte er Meter für Meter, solange, bis er den ersehnten Gipfel erspähte. Hinter ihm war die Nacht, vor ihm, von der Bergspitze verdeckt, die Abendsonne.
Kurz, nachdem es vor Rolfs Augen zu flimmern begann, kroch er bereits auf den geschundenen Händen und Füßen weiter.
Dann war er am vorerst letzten Ziel.
Er blickte erst triumphierend ins Tal hinunter, danach auf die orangefarbene Abendsonne.
Schlussendlich schloss Rolf die Augen und ergab sich glückselig dem gnadenlosen Schmerz.
 



 
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