Weiterleben III

Gabriele

Mitglied
Sonja:

Ah, der Tee tut jetzt gut! Nach dem Glas Wein bei Irene war mir speiübel.
Nun noch ein heißes Bad und dann ab ins Bett.
War das ein Tag! Wenn ich Sabine nicht getroffen hätte, wäre jetzt wahrscheinlich alles vorbei. Oder ich läge auf der Intensivstation, im Koma oder – falls ich ohne Hirnschaden überlebt hätte – mit dem Gedanken: Warum habe ich nicht sterben dürfen? Oder vielleicht auch mit dem Gedanken: Hätte ich’s doch bloß nicht getan!?
Na egal, es sollte wohl nicht sein. Noch nicht... ich habe noch eine Chance bekommen.
Ja, heute Abend sehe ich das plötzlich wieder als Chance. Das liegt wohl an dem langen Gespräch mit Sabine, die im Vergleich zu mir viel Schlimmeres erlebt hat – was gibt es schon Schlimmeres als, das eigene Kind beerdigen zu müssen? – und die trotzdem nicht aufgegeben hat. Im Gegenteil, ihre Herzlichkeit und ihr Optimismus haben mich ganz seltsam berührt. Erst dachte ich ja noch, das sei nur Fassade. Aber was sie dann alles gesagt hat, lässt mich ernsthaft glauben, dass sie trotz der schrecklichen Erlebnisse – nach dem Tod der kleinen Sarah ist sie auch noch von ihrem Mann verlassen worden – sehr am Leben hängt, ja: richtig gerne lebt.
Klar, sie hat eine Therapie hinter sich; aber wenn sie nicht den Willen gehabt hätte weiterzumachen, hätte ihr wohl auch kein Therapeut helfen können.
Ob ich mir auch mal eine Psychotherapie überlegen sollte?
Jedenfalls habe ich Sabine bisher falsch eingeschätzt – und sie mich eventuell auch. Ob wir vielleicht sogar richtige Freundinnen werden könnten?
Aber so etwas habe ich schon so oft gehofft, und dann waren den anderen meine ständigen Probleme und meine Grübelei doch immer wieder zuviel für eine echte dauerhafte Freundschaft.
Nur bei Petra war es anders – aber die musste sich ja in einen Griechen verlieben und nach Korfu übersiedeln! Wann ich sie dort wohl endlich mal besuche? So oft hat sie mich schon eingeladen.
Aber halt, ich wollte ja Schluss machen! Seltsam, irgendwie erscheint mir das jetzt so irreal. Doch wer weiß, ob ich nicht morgen schon wieder denselben Lebensüberdruss empfinde wie heute Morgen und all die Tage davor...
Der Besuch bei Irene war auch eigenartig:
Alle waren sauer auf mich, weil ich so spät kam – nur dem kleinen Benni und Irene selbst schien es nichts auszumachen.
Aber irgendetwas stimmt mit Irene nicht. Den ganzen Abend über hatte ich das Gefühl, sie wollte uns etwas sagen und ließ es dann doch lieber bleiben.
Ob es in ihrer Ehe kriselt? Aber Günter schien zu sein wie immer – allerdings kenne ich ihn wohl nicht gut genug um zu beurteilen, wie gut er sich verstellen kann.
Na, vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein! Heute bin ich wohl etwas übersensibel...
Brrr, allmählich wird das Badewasser kalt! Vielleicht sollte ich doch endlich mal aus der Wanne steigen und mich zum Schlafengehen fertig machen.


Irene:

So ein Mist, nun habe ich es ihnen wieder nicht gesagt!
Alle waren so locker und gut gelaunt, nachdem Sonja endlich gekommen war. Auch Sonja war erstaunlich gut drauf heute.
Ob sie sich etwa verliebt hat? Leider ergab sich keine Gelegenheit, sie zu fragen. Ich würde es ihr so sehr wünschen, dass sie endlich mal dauerhaft glücklich sein darf – nicht wieder nur ein paar Wochen lang...
Es war ein gelungener Geburtstag für Benni und ein schöner Tag für uns alle. Den konnte ich doch wirklich nicht durch eine Hiobsbotschaft verderben!
„Irene! Wo bleibst du denn?“
„Ich hab’s gleich!“
Günter liegt schon im Bett.
Wenigstens ihm sollte ich es endlich sagen! Aber er hat heute ganz schön viel Wein getrunken. Ob das gerade der richtige Zeitpunkt ist?
Leise schleiche ich am Kinderzimmer vorbei ins Schlafzimmer.
„Na endlich Schatz – komm her!“
Ich lege mich neben Günter, und er nimmt mich in die Arme. Wie gut es tut, seine Wärme zu spüren und seinem leisen Atmen zuzuhören!
Sanft beginnt er mich zu streicheln. Plötzlich rinnen Tränen über meine Wangen. Ich versuche, das Weinen zu unterdrücken, aber als Günter mich küssen will, merkt er es doch.
„He, was ist denn los?“
„Ach nichts, ich bin nur ziemlich fertig!“
Er lässt mich abrupt los und seufzt. „Du hast auch heute wieder keine Lust, mit mir zu schlafen, stimmt’s? Macht nichts, das bin ich ja nun schon gewohnt!“
Der verärgerte Unterton in seiner Stimme bringt mich noch mehr zum Heulen.
„Günter, bitte! Ich...“
Er schaltet die Nachttischlampe ein und sieht mich forschend an.
„Gibt es einen anderen? Bitte sei doch wenigstens ehrlich! Ich spüre doch, dass da etwas ist, das du mir nicht sagen willst.“
„Aber es hat doch nichts mit einem anderen Mann zu tun!“
„Sondern?“
Er nimmt mich bei den Schultern und schaut mir tief in die Augen.
„Irene, was hast du?“
Stille. Meine Tränen sind versiegt.
Ich senke den Kopf. Auf das hellblaue Blümchenmuster der Bettdecke starrend beginne ich:
„Ich war doch vor drei Wochen bei meiner Frauenärztin wegen meiner häufigen Unterleibsschmerzen. Etwa zehn Tage später kam ein Brief: Der Krebsabstrich hatte einen sehr schlechten Wert ergeben. Ich ging dann gleich noch einmal zu Frau Dr. Huber. Die Ultraschalluntersuchung hat gezeigt, dass ich mit höchster Wahrscheinlichkeit einen bösartigen Tumor am Gebärmutterhals habe.“
Schweigen.
Langsam hebe ich den Kopf und schaue Günter an.
Er sitzt zusammengesunken da und hat die Hände übers Gesicht gelegt.
„Günter, du Lieber!“ Ich streiche ihm sanft übers Haar. „Ich habe doch schon einen OP-Termin, du wirst sehen, es wird alles gut!“
Er schaut mich zweifelnd an und fragt kopfschüttelnd.
„Warum hast du es denn bloß nicht früher erzählt?“
„Ich weiß nicht. Bennis Geburtstag – und du hattest dich gerade so über den gewonnenen Prozess gefreut...“
„Irene!“ Jetzt umarmt er mich ganz fest. „Du Dumme, Arme, Liebe...“
Ich klammere mich wie eine Ertrinkende an ihn und flüstere:
„Halt mich fest! Hilf mir, ich will stark sein! Benni darf nicht erfahren, wie ernst es ist. Ich hab dich so lieb...“
„Ich dich auch. Hab keine Angst, ich bin bei dir! Wir sagen Benni, dass es nichts Schlimmes ist. Wann ist denn die Operation?“
„In zwei Wochen, am 26. Ob du es mit Karin alleine schaffst in der Kanzlei?“
„Das ist doch nicht so wichtig, Schatz! Du musst jetzt mal an dich denken und nicht immer nur an die anderen. Wir schaffen das schon.“
„Ich werde kein Baby mehr bekommen können.“
Günter zuckt mit den Achseln.
Schon lange war mir nicht mehr so bewusst, wie sehr ich ihn liebe.
Wir reden noch ein bisschen, und dann übermannt uns trotz aller Sorgen doch noch die Lust. Es ist der schönste, zärtlichste und hemmungsloseste Sex seit vielen Monaten.
 



 
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