Wellengang

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leonce

Mitglied
WELLENGANG

Die Türen schlossen sich laut und quälend mit der Bahnsteigdurchsage. Marie, ganz außer Atem, ließ ihren Rucksack neben mich auf den Sitzplatz fallen, auf den ich das Buch gelegt hatte, dass ich die letzten Stunden der Bahnfahrt unentschlossen in der Hand gehalten hatte wie einen Schirm. Ein Begrüßungskuss, und ihre Finger suchten eine Stelle an mir, auf der sie liegen bleiben könnten. So fing er an, unser Sommer. Die Tage, die vor uns lagen, waren die einzigen, die wichtig waren. Nach all den einzelnen Wochenenden wollten wir uns an sie verschwenden.

Als wir am Flughafen ankamen, waren die Schalter noch geschlossen und diverse Pärchen lagen in Schlafsäcken davor, hielten in der süßlich sterilen Hallenluft Händchen. Ein großes rotes Schild zeichnete in gelben Lettern aus, dass Fliegen nicht teuerer sein muss als Taxifahren. Katharina hätte sich darüber aufgeregt und den Rest der Nacht den Sinn der Kerosinbesteuerung insbesondere von Kurz- und Mittelstrecken erläutert. Marie murmelte nur müde „scheiß vergleichen“ und legte ihren Kopf in meinen Schoß. Die Spitzen ihrer langen blonden Haare kräuselten sich auf dem synthetischen Stoff meiner braunen Faltenhose. Ich versuchte, das Gewicht ihres Kopfes gleichmäßig auf beide Oberschenkel zu verlagern. Der Zeitungskiosk hatte natürlich auch noch zu.

Nach drei Tagen im Haus stieg langsam eine Ahnung in mir auf, ich schaute gerade von der Terrasse über die kleinen Villendächer hinweg auf das blaue Meer, dass ich in diesem Sommer vielleicht das erste Mal die Anzahl der Tage hier nicht hinunterzählen würde, wie ich es seit meinen Kindertagen immer getan hatte, sondern sich die anwachsende Summe der Tage wie ein wuchernder Alp über meine Stirn legen könnte. Ich sah hinüber zu Marie, die mit geschlossenen Augen in der Sonne lag.
„Willst du später noch an den Strand?“
Sie zeigte keine Reaktion und ich streifte ihr zaghaft mit den Fingern durch die Haare. „Marie, magst du vielleicht noch schwimmen gehen?“
Sie versuchte meine Hand zu ergreifen. „Weiß nicht, vielleicht später.“
„Ja.“, ich drehte mich aus ihrer versuchten Umarmung, „Vielleicht später. Können wir ja spontan entscheiden.“, als suchte ich mit den Augen etwas auf dem Meer.

Das Wochenende kam konsequent, und damit der Tag, an dem wir ein Jahr zusammen waren. Marie hatte mit der ihr eigenen Bestimmtheit seit Wochen dieses Datum in meinem Taschenkalender für uns reklamiert. Nur für uns. Nicht für Freunde, nicht für die Arbeit, nicht für ein Verhalten, wie ich an ihrem Geburtstag stundenlang mit dem Hund spazieren gegangen war. Frisch rasiert und mit langer Hose saß ich also unter sternenschwarzem Himmel, neben mir wuschen die Wellen in regelmäßiger Geduld die Spuren von vorbeischlendernden Nachtspaziergängern aus dem noch warmen Sand. Der Kellner antworte jedes Mal auf Deutsch, wenn wir ihn auf Spanisch anredeten. Ich musste an Katharina denken, die immer fluchend der Unmöglichkeit getrotzt hatte, irgendetwas Vegetarisches auf der Speisekarte finden. Jetzt saß ich mit Marie vor frittierten Paprikaschoten und einem halben Liter Weißwein, später Fisch. Als wir irgendwann in den Dünen lagen und unsere weißen Körper im Mondlicht glänzten, fragte ich mich, ob jede Lücke gleich zu schließen ist.

Das Spülwasser war schon wieder kalt geworden. Marie stand neben mir und wollte das Geschirr abtrocknen, obgleich ich das für überflüssig hielt. Irgendwo im Haus hatte jemand die eine Musik-CD eingelegt. „Glaubst du, du bist ein Mensch, der eher allein glücklich ist, oder eher ein Mensch, der zu zweit glücklich ist?“
Ich konzentrierte mich auf geschmolzene Käsereste an den Innenseiten der Löffel. „Meinst du allein oder einsam?“
„Na, du weißt schon, hauptsächlich eben. Bist du lieber allein oder brauchst du jemanden um dich rum?“
Ich schaute kurz zu ihr herüber. Ihr Blick war ernst auf mich gerichtet, ihr rotes Kleid schimmerte durch den Teller in ihrer Hand leicht grünlich. Ich versuchte die Lippen entschuldigend zu schürzen, „Du?“
„Ich hab dich zuerst gefragt.“
„Ich denke, ich bin nicht eines jener aufgespalteten Wesen, das seine andere Hälfte sucht, die ehedem alle glückliche Hermaphroditen waren.“
„Würdest du es dir denn wünschen?“
Es fiel mir schwer, die Frage ernst zu nehmen und nicht als durchsichtig innerlich zu belächeln. Als ich aufschaute, um „Ja“ zu sagen, hatte Marie die Küche bereits verlassen.

Der Rhythmus von täglichen Strand- und abendlichen Barbesuchen strukturierte sich wie von selbst durch die wiederkehrenden Mahlzeiten. Morgens joggte ich zum Bäcker, abends kochten wir gemeinsam. Die Sonne war heiß und brannte auf alles, was nicht im Schatten lag. Wir pendelten meist so unbekleidet wie möglich zwischen Meer und Pool. Irgendwann fuhren wir für einen Tagesausflug nach Gibraltar. Einzelne Wolken deuteten einen milderen Tag als sonst an und der Verkehr auf der Schnellstraße trug uns flüssig auf den sich immer deutlicher abzeichnenden Berg an der Spitze der Küste zu. Auf der Hälfte der Strecke leuchtete plötzlich die Batterieanzeige rot auf, aber das kannte ich schon aus den letzten Jahren, das bedeutete nichts und man durfte einfach nicht anhalten, bis die Anzeige wieder erlöscht war. Auf der Insel tauschten wir etwas Geld, freuten uns im Bus über Reminiszenzen des British Empire und wanderten Hand in Hand zum höchsten Punkt des Berges. Während einige Touristen die Affen mit Obst fütterten, suchten wir Afrika am Horizont auszumachen. Vor der Steilküste vermischten sich Atlantik und Mittelmeer unidentifizierbar und überspülten in heller Gischt ein paar alte Schiffswracks, deren Reste aus den Untiefen immer wieder sichtbar wurden. Wir küssten uns. Ein schöner Tag, dachte ich.

Der Sand, der langsam durch ihre Hände glitt, machte mich nervös. Immer wieder quoll der feine Sand zwischen ihren Fingern hervor und fiel auf ein und dieselbe Stelle, von der sie wieder eine Handvoll Sand aufnahm, um ihn wieder stoisch herabfließen zu sehen. Ich konnte nicht genau erkennen, ob die Faust, die sie dabei machte, den Sand schneller gleiten ließ, als ohne den Druck ihrer Finger, da ich aus den Augenwinkeln nur sehr unscharf ihre Bewegungen nachvollziehen konnte. Ich versuchte zu lesen. Marie fragte, ob ich ihr den Rücken eincremen könne. Im Sand spielten kleine Kinder und im Wasser versuchten sich ein paar Jungen mit Surfbrettern. Die Wasseroberfläche war nur mäßig bewegt, nur an einer, wie unsichtbar gezogenen Linie erhoben sich einzelne Wellen, wo sie sich kurz aufwarfen, dann schnell brachen und sich im kaum hüfthohen Wasser auf den langen Sandbänken ausliefen. Die Jungen warfen sich eifrig mit ihren Brettern in die Wellen, doch diese trugen immer nur für Sekunden und begruben dann alles mit einem genüsslichen Rauschen unter sich. Plötzlich beschwerte sich Marie: „Du, ich glaub die Sonnencreme ist eingezogen, danke fürs Einreiben“. Ich wusste nicht, wohin mit meinen öligen Fingern. Mein Buch konnte ich so nicht anfassen.

Die neue Sprinkleranlage funktionierte prima. Sie war letzten Sommer installiert worden und versorgte den Garten mit Wasser. Niemand musste sich um die Pflanzen kümmern. Täglich abends nach Sonnenuntergang sprang sie automatisch an, und ich hörte das rhythmische Plätschern durch die offenen Fenster. Ich saß im Flur am Telefon und – unser Rückflug nach Deutschland stand bevor – hörte meine Mailbox ab. Ich hatte versucht bewusst kurz angebunden auf der Bandansage zu klingen und erstaunlicherweise hatte auch nur ein einziger Kollege aus der Universität eine Anmerkung zur nächsten Fakultätsratssitzung hinterlassen. Der Rest der Nachrichten waren lauter sekundenhafte Momente, wenn die Anrufer zu spät auflegten und die Mailbox bereits übernahm. Einige Aufzeichnungen wurden sofort durch das Geräusch des Auflegens beendet. Zwei, drei andere jedoch gefroren für ein paar Sekunden bevor sie auflegten, als ob sie unsicher seien, ob sie etwas sagen sollten. Ich konnte ihr atmendes Schweigen hören, und drückte lustvoll die Telefonziffer, um die Reste endgültig zu löschen. Dann ging ich ins Wohnzimmer, wo Marie vor dem Fernseher lag. Auf dem Kaminsims standen noch die Teelichter der vergangenen Nacht. Ich meinte, wir hätten sie ausbrennen lassen, aber vielleicht hatte Marie auch schon wieder neue hingestellt.

Irgendwann nachts saß ich noch im dunklen Esszimmer und fragte mich, ob Marie wohl schon eingeschlafen sei. An der Wand konnte ich umrisshaft die Gästeliste erkennen, die schon meine Großeltern geführt hatten, wenn sie Freunde oder Bekannte für ein paar Tage im Haus zu Besuch gehabt hatten. Inzwischen waren die Eintragungen seltener geworden und die meisten Namen beschränkten sich auf die Familienmitglieder. Ungefähr im mittleren Drittel stand in regelmäßigen Abständen ein Name immer wieder neben dem meinen. Ich schrieb mit dem Finger die Unterschrift in die schwarze Luft der Dunkelheit. Katharina hatte das Haus sehr gemocht und wir waren immer mindestens eine Woche geblieben, meistens im Sommer. Plötzlich meinte ich sie in der Esszimmertür stehen zu sehen und mir wurde erst in dem Moment, in dem Marie das Licht anschaltete, klar, wie sehr sich die beiden in ihrer Gestalt ähnelten. „Warum kommst du nicht ins Bett?“
Ihre Stimme klang belegt, als ob sie schon geschlafen hätte. Oder geweint.
„Du hast mich erschreckt“ sagte ich und suchte nach einem Lächeln. Eine Pause entstand.
Marie blinzelte, „Bitte“.
„Ja“, sagte ich, unfähig mich zu bewegen.

Am Flughafen standen wir noch gemeinsam zwischen den endlosen Kofferreihen und den dazugehörigen Besitzern, die meist so bekleidet waren, als ob es kurz zum Strand ginge und nicht endgültig zurück in die deutsche Kälte. Ich wollte Marie noch vorgeschlagen, sich auf die beiden Warteschlangen unseres Fluges aufzuteilen, um in jedem Fall die kürzere zu erwischen, aber Marie blickte immer in eine andere Richtung und ich konnte hinter den dunklen Gläsern ihrer Sonnenbrille keine Augen erkennen. Ohne das Ziel des Fluges zu wissen, konnte man genau ausmachen, für welche Stadt die deutschen Touristen jeweils anstanden. Bemüht modisch die jungen Leute in hautengen Röhrenjeans nach Berlin, angestrengt offensichtlich das Geld der braun durchgebratenen Damen ab 50 nach München. Marie schaute auf die Uhr. Ich überschlug, dass wir seit unserem gehetzten Aufbruch am Haus, kein Wort mehr miteinander gewechselt hatten.
„Wusstest du, dass manche Paare stets getrennte Flüge buchen, damit sie nicht gemeinsam abstürzen?“
Marie zögerte und der zynische Ton ihrer Stimme hätte mir eine Warnung sein können: „Wer alleine fliegt, stürzt nicht ab?“
„Nein, manche Paare wollen sich absichern,“ und ich wollte jetzt witzig sein. „Zum Beispiel versuchen manche Eltern sicherzustellen, dass im Falle eines Flugzeugabsturzes zumindest ein Elternteil für die Kinder überlebt. Oder dieses Künstlereherpaar Christo hat mal in einem Interview gesagt, dass sie unbedingt sicher gehen wollen, dass wenigstens einer von ihnen ihr gemeinsames Verpackungswerk weiterführen kann. Der Verlust wäre ein zu großer für die Welt.“
Marie hob nur skeptisch ihre Augenbrauen und zog ihre Unterlippe langsam unter den Schneidezähnen durch wie immer, wenn sie über etwas nachdachte. Ihre Worte waren ganz leise und doch leicht wie Luft: „Für wen wäre denn unser gemeinsamer Absturz ein Verlust?“
Ich versuchte ihre Worte zu deuten, aber wie Sie sich mir direkt zuwendete, konnte ich in ihren Sonnenbrillengläsern nur mich selbst sehen.
„Vielleicht sollten wir auch getrennte Flüge nach Hause nehmen“, sagte sie.
Ich konnte sie nur verwundert anschauen, wie sie fast verträumt am Griff ihres Koffers spielte, und ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog.
„Weißt du, nur um sicher zu gehen...“, sagte sie, und das war unsere Zeit gewesen.
 

leonce

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Die Türen schlossen sich laut und quälend mit der Bahnsteigdurchsage. Marie, ganz außer Atem, ließ ihren Rucksack neben mich auf den Sitzplatz fallen, auf den ich das Buch gelegt hatte, das ich die letzten Stunden der Bahnfahrt unentschlossen in der Hand gehalten hatte wie einen Schirm. Ein Begrüßungskuss, und ihre Finger suchten eine Stelle an mir, auf der sie liegen bleiben könnten. So fing er an, unser Sommer. Die Tage, die vor uns lagen, waren die einzigen, die wichtig waren. Nach all den einzelnen Wochenenden wollten wir uns an sie verschwenden.

Als wir am Flughafen ankamen, waren die Schalter noch geschlossen und diverse Pärchen lagen in Schlafsäcken davor, hielten in der süßlich sterilen Hallenluft Händchen. Ein großes rotes Schild zeichnete in gelben Lettern aus, dass Fliegen nicht teuerer sein muss als Taxifahren. Katharina hätte sich darüber aufgeregt und den Rest der Nacht den Sinn der Kerosinbesteuerung insbesondere von Kurz- und Mittelstrecken erläutert. Marie murmelte nur müde „scheiß vergleichen“ und legte ihren Kopf in meinen Schoß. Die Spitzen ihrer langen blonden Haare kräuselten sich auf dem synthetischen Stoff meiner braunen Faltenhose. Ich versuchte, das Gewicht ihres Kopfes gleichmäßig auf beide Oberschenkel zu verlagern. Der Zeitungskiosk hatte natürlich auch noch zu.

Nach drei Tagen im Haus stieg langsam eine Ahnung in mir auf, ich schaute gerade von der Terrasse über die kleinen Villendächer hinweg auf das blaue Meer, dass ich in diesem Sommer vielleicht das erste Mal die Anzahl der Tage hier nicht hinunterzählen würde, wie ich es seit meinen Kindertagen immer getan hatte, sondern sich die anwachsende Summe der Tage wie ein wuchernder Alp über meine Stirn legen könnte. Ich sah hinüber zu Marie, die mit geschlossenen Augen in der Sonne lag.
„Willst du später noch an den Strand?“
Sie zeigte keine Reaktion und ich streifte ihr zaghaft mit den Fingern durch die Haare. „Marie, magst du vielleicht noch schwimmen gehen?“
Sie versuchte meine Hand zu ergreifen. „Weiß nicht, vielleicht später.“
„Ja.“, ich drehte mich aus ihrer versuchten Umarmung, „Vielleicht später. Können wir ja spontan entscheiden.“, als suchte ich mit den Augen etwas auf dem Meer.

Das Wochenende kam konsequent, und damit der Tag, an dem wir ein Jahr zusammen waren. Marie hatte mit der ihr eigenen Bestimmtheit seit Wochen dieses Datum in meinem Taschenkalender für uns reklamiert. Nur für uns. Nicht für Freunde, nicht für die Arbeit, nicht für ein Verhalten, wie ich an ihrem Geburtstag stundenlang mit dem Hund spazieren gegangen war. Frisch rasiert und mit langer Hose saß ich also unter sternenschwarzem Himmel, neben mir wuschen die Wellen in regelmäßiger Geduld die Spuren von vorbeischlendernden Nachtspaziergängern aus dem noch warmen Sand. Der Kellner antworte jedes Mal auf Deutsch, wenn wir ihn auf Spanisch anredeten. Ich musste an Katharina denken, die immer fluchend der Unmöglichkeit getrotzt hatte, irgendetwas Vegetarisches auf der Speisekarte finden. Jetzt saß ich mit Marie vor frittierten Paprikaschoten und einem halben Liter Weißwein, später Fisch. Als wir irgendwann in den Dünen lagen und unsere weißen Körper im Mondlicht glänzten, fragte ich mich, ob jede Lücke gleich zu schließen ist.

Das Spülwasser war schon wieder kalt geworden. Marie stand neben mir und wollte das Geschirr abtrocknen, obgleich ich das für überflüssig hielt. Irgendwo im Haus hatte jemand die eine Musik-CD eingelegt. „Glaubst du, du bist ein Mensch, der eher allein glücklich ist, oder eher ein Mensch, der zu zweit glücklich ist?“
Ich konzentrierte mich auf geschmolzene Käsereste an den Innenseiten der Löffel. „Meinst du allein oder einsam?“
„Na, du weißt schon, hauptsächlich eben. Bist du lieber allein oder brauchst du jemanden um dich rum?“
Ich schaute kurz zu ihr herüber. Ihr Blick war ernst auf mich gerichtet, ihr rotes Kleid schimmerte durch den Teller in ihrer Hand leicht grünlich. Ich versuchte die Lippen entschuldigend zu schürzen, „Du?“
„Ich hab dich zuerst gefragt.“
„Ich denke, ich bin nicht eines jener aufgespalteten Wesen, das seine andere Hälfte sucht, die ehedem alle glückliche Hermaphroditen waren.“
„Würdest du es dir denn wünschen?“
Es fiel mir schwer, die Frage ernst zu nehmen und nicht als durchsichtig innerlich zu belächeln. Als ich aufschaute, um „Ja“ zu sagen, hatte Marie die Küche bereits verlassen.

Der Rhythmus von täglichen Strand- und abendlichen Barbesuchen strukturierte sich wie von selbst durch die wiederkehrenden Mahlzeiten. Morgens joggte ich zum Bäcker, abends kochten wir gemeinsam. Die Sonne war heiß und brannte auf alles, was nicht im Schatten lag. Wir pendelten meist so unbekleidet wie möglich zwischen Meer und Pool. Irgendwann fuhren wir für einen Tagesausflug nach Gibraltar. Einzelne Wolken deuteten einen milderen Tag als sonst an und der Verkehr auf der Schnellstraße trug uns flüssig auf den sich immer deutlicher abzeichnenden Berg an der Spitze der Küste zu. Auf der Hälfte der Strecke leuchtete plötzlich die Batterieanzeige rot auf, aber das kannte ich schon aus den letzten Jahren, das bedeutete nichts und man durfte einfach nicht anhalten, bis die Anzeige wieder erlöscht war. Auf der Insel tauschten wir etwas Geld, freuten uns im Bus über Reminiszenzen des British Empire und wanderten Hand in Hand zum höchsten Punkt des Berges. Während einige Touristen die Affen mit Obst fütterten, suchten wir Afrika am Horizont auszumachen. Vor der Steilküste vermischten sich Atlantik und Mittelmeer unidentifizierbar und überspülten in heller Gischt ein paar alte Schiffswracks, deren Reste aus den Untiefen immer wieder sichtbar wurden. Wir küssten uns. Ein schöner Tag, dachte ich.

Der Sand, der langsam durch ihre Hände glitt, machte mich nervös. Immer wieder quoll der feine Sand zwischen ihren Fingern hervor und fiel auf ein und dieselbe Stelle, von der sie wieder eine Handvoll Sand aufnahm, um ihn wieder stoisch herabfließen zu sehen. Ich konnte nicht genau erkennen, ob die Faust, die sie dabei machte, den Sand schneller gleiten ließ, als ohne den Druck ihrer Finger, da ich aus den Augenwinkeln nur sehr unscharf ihre Bewegungen nachvollziehen konnte. Ich versuchte zu lesen. Marie fragte, ob ich ihr den Rücken eincremen könne. Im Sand spielten kleine Kinder und im Wasser versuchten sich ein paar Jungen mit Surfbrettern. Die Wasseroberfläche war nur mäßig bewegt, nur an einer, wie unsichtbar gezogenen Linie erhoben sich einzelne Wellen, wo sie sich kurz aufwarfen, dann schnell brachen und sich im kaum hüfthohen Wasser auf den langen Sandbänken ausliefen. Die Jungen warfen sich eifrig mit ihren Brettern in die Wellen, doch diese trugen immer nur für Sekunden und begruben dann alles mit einem genüsslichen Rauschen unter sich. Plötzlich beschwerte sich Marie: „Du, ich glaub die Sonnencreme ist eingezogen, danke fürs Einreiben“. Ich wusste nicht, wohin mit meinen öligen Fingern. Mein Buch konnte ich so nicht anfassen.

Die neue Sprinkleranlage funktionierte prima. Sie war letzten Sommer installiert worden und versorgte den Garten mit Wasser. Niemand musste sich um die Pflanzen kümmern. Täglich abends nach Sonnenuntergang sprang sie automatisch an, und ich hörte das rhythmische Plätschern durch die offenen Fenster. Ich saß im Flur am Telefon und – unser Rückflug nach Deutschland stand bevor – hörte meine Mailbox ab. Ich hatte versucht bewusst kurz angebunden auf der Bandansage zu klingen und erstaunlicherweise hatte auch nur ein einziger Kollege aus der Universität eine Anmerkung zur nächsten Fakultätsratssitzung hinterlassen. Der Rest der Nachrichten waren lauter sekundenhafte Momente, wenn die Anrufer zu spät auflegten und die Mailbox bereits übernahm. Einige Aufzeichnungen wurden sofort durch das Geräusch des Auflegens beendet. Zwei, drei andere jedoch gefroren für ein paar Sekunden bevor sie auflegten, als ob sie unsicher seien, ob sie etwas sagen sollten. Ich konnte ihr atmendes Schweigen hören, und drückte lustvoll die Telefonziffer, um die Reste endgültig zu löschen. Dann ging ich ins Wohnzimmer, wo Marie vor dem Fernseher lag. Auf dem Kaminsims standen noch die Teelichter der vergangenen Nacht. Ich meinte, wir hätten sie ausbrennen lassen, aber vielleicht hatte Marie auch schon wieder neue hingestellt.

Irgendwann nachts saß ich noch im dunklen Esszimmer und fragte mich, ob Marie wohl schon eingeschlafen sei. An der Wand konnte ich umrisshaft die Gästeliste erkennen, die schon meine Großeltern geführt hatten, wenn sie Freunde oder Bekannte für ein paar Tage im Haus zu Besuch gehabt hatten. Inzwischen waren die Eintragungen seltener geworden und die meisten Namen beschränkten sich auf die Familienmitglieder. Ungefähr im mittleren Drittel stand in regelmäßigen Abständen ein Name immer wieder neben dem meinen. Ich schrieb mit dem Finger die Unterschrift in die schwarze Luft der Dunkelheit. Katharina hatte das Haus sehr gemocht und wir waren immer mindestens eine Woche geblieben, meistens im Sommer. Plötzlich meinte ich sie in der Esszimmertür stehen zu sehen und mir wurde erst in dem Moment, in dem Marie das Licht anschaltete, klar, wie sehr sich die beiden in ihrer Gestalt ähnelten. „Warum kommst du nicht ins Bett?“
Ihre Stimme klang belegt, als ob sie schon geschlafen hätte. Oder geweint.
„Du hast mich erschreckt“ sagte ich und suchte nach einem Lächeln. Eine Pause entstand.
Marie blinzelte, „Bitte“.
„Ja“, sagte ich, unfähig mich zu bewegen.

Am Flughafen standen wir noch gemeinsam zwischen den endlosen Kofferreihen und den dazugehörigen Besitzern, die meist so bekleidet waren, als ob es kurz zum Strand ginge und nicht endgültig zurück in die deutsche Kälte. Ich wollte Marie noch vorgeschlagen, sich auf die beiden Warteschlangen unseres Fluges aufzuteilen, um in jedem Fall die kürzere zu erwischen, aber Marie blickte immer in eine andere Richtung und ich konnte hinter den dunklen Gläsern ihrer Sonnenbrille keine Augen erkennen. Ohne das Ziel des Fluges zu wissen, konnte man genau ausmachen, für welche Stadt die deutschen Touristen jeweils anstanden. Bemüht modisch die jungen Leute in hautengen Röhrenjeans nach Berlin, angestrengt offensichtlich das Geld der braun durchgebratenen Damen ab 50 nach München. Marie schaute auf die Uhr. Ich überschlug, dass wir seit unserem gehetzten Aufbruch am Haus, kein Wort mehr miteinander gewechselt hatten.
„Wusstest du, dass manche Paare stets getrennte Flüge buchen, damit sie nicht gemeinsam abstürzen?“
Marie zögerte und der zynische Ton ihrer Stimme hätte mir eine Warnung sein können: „Wer alleine fliegt, stürzt nicht ab?“
„Nein, manche Paare wollen sich absichern,“ und ich wollte jetzt witzig sein. „Zum Beispiel versuchen manche Eltern sicherzustellen, dass im Falle eines Flugzeugabsturzes zumindest ein Elternteil für die Kinder überlebt. Oder dieses Künstlereherpaar Christo hat mal in einem Interview gesagt, dass sie unbedingt sicher gehen wollen, dass wenigstens einer von ihnen ihr gemeinsames Verpackungswerk weiterführen kann. Der Verlust wäre ein zu großer für die Welt.“
Marie hob nur skeptisch ihre Augenbrauen und zog ihre Unterlippe langsam unter den Schneidezähnen durch wie immer, wenn sie über etwas nachdachte. Ihre Worte waren ganz leise und doch leicht wie Luft: „Für wen wäre denn unser gemeinsamer Absturz ein Verlust?“
Ich versuchte ihre Worte zu deuten, aber wie Sie sich mir direkt zuwendete, konnte ich in ihren Sonnenbrillengläsern nur mich selbst sehen.
„Vielleicht sollten wir auch getrennte Flüge nach Hause nehmen“, sagte sie.
Ich konnte sie nur verwundert anschauen, wie sie fast verträumt am Griff ihres Koffers spielte, und ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog.
„Weißt du, nur um sicher zu gehen...“, sagte sie, und das war unsere Zeit gewesen.
 



 
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