Wendezeit

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KathaSonne

Mitglied
Er wollte unbedingt, dass sie dieses Mal ein Glas nimmt. Früher hat sie es direkt in den Strahl gehalten. Meist aber zitterte ihre Hand so sehr, dass der Strahl versiegte, bevor das Stäbchen mit der Flüssigkeit benetzt werden konnte.
Es funktioniert nicht mit einem einzigen Tropfen, hat er gesagt. Sie hat es nicht sofort verstanden. Einmal fiel es ihr herunter, so aufgeregt war sie. Das ist schon eine Weile her, vielleicht zwei oder drei Jahre. Da musste sie sofort ein neues kaufen. Sonst durfte sie immer warten, eine Woche oder auch zwei. Das Stäbchen darf nicht zu nass werden, hat er gesagt.

Es muss diesmal einfach klappen. Wenn nicht, wird sie diese Nacht keinen Schlaf finden. Er wird wieder auf das Stäbchen schauen, sie wird den Kopf senken. Dann wird er sie schütteln, gegen die Wand pressen und würgen. So genau kann man es nicht voraussehen. Später dann, wenn er sich beruhigt hat, sein Blick wieder sanfter geworden ist, wird er wortlos das Haus verlassen und erst im Morgengrauen zurückkehren. Mit frischen Mohnblumen, manchmal sind einige Rosen dazwischen. Eine Mischung aus Aftershave und billigem Scotch wird noch Stunden später in der Luft liegen, wenn sie sein Frühstücksbrötchen belegt. Er wird seinen besten Anzug wählen, so wie er es immer macht, wenn ein wichtiger Geschäftstermin ansteht. Am späten nachmittag wird sie den BMW vorfahren hören, schnellen Schrittes wird er zur Haustür laufen. Sie wird prüfen, ob der Kaffee die richtige Temperatur hat. Einmal hatte sie sich vertan und die falsche Thermoskanne erwischt. Vom Vortag. Das war schlimm. Aber er kann ja auch anders sein. So liebevoll.

Wenn jemand sie auf die blauen Flecken auf den Oberarmen anspricht, wird sie sagen, sie sei die Treppe heruntergestürzt. Das kann ja schließlich mal passieren. Sie wird sich natürlich gut überlegen müssen, welche Treppe sie wählt. Am besten die Kellertreppe. Das Licht im Treppenhaus ist kaputt. Genau. Lächeln ist wichtig. Immer lächeln. Das sagt er ihr immer wieder. Nächste Woche wird der Vorstand zu Besuch sein. Er hat zum Dinner eingeladen. Ente wird es geben. Ente passt gut. Ihre schwarze Strickjacke wird sie tragen. Die mit den schwarzen Pailletten, die die Arme bedeckt. Schließlich ist es kalt im November. Dazu die silberne Kette, die er ihr zum 5. Hochzeitstag geschenkt hat. Er hat ihr vorgerechnet, wie viele Stunden er dafür arbeiten musste, für den kleinen Brillanten im Schmetterlings-Anhänger.

Die Ente muss hervorragend werden, mit schöner Kruste. Dann wird er sie zufrieden anlächeln und die Vorstandsmitglieder werden anerkennend mit dem Kopf wippen. Wenn er befördert wird, werden sie eine Kreuzfahrt machen, sagt er. Der erste Urlaub seit der Hochzeitsreise. Auf die Malediven. Oder die Seychellen. Mallorca ist ihm lieber. Nicht so weit. Außerdem bekommt man dort deutsches Essen. Sie werden die Reise im Winter machen. Dann kann sie wieder ihre schwarze Strickjacke tragen. Die steht ihr gut, findet er.

Bei ihrem ersten Kennenlernen, damals auf der Veranda eines gemeinsamen Freundes. Einen kurzen Rock trug sie. Sexy nannte er es. Sie kicherte nur verlegen. Den Rock von damals, sie hat ihn weggeworfen. Erinnerungen. Tragen kann sie ihn nicht mehr. Die Leute würden Fragen stellen. Krampfadern, nein,ja, ich muss es mal abklären lassen. Ein guter Arzt für Venenkrankheiten? Ja, gerne, schick mir doch eine email. Dann schaue ich da mal vorbei. Momentan sieht es aber zeitlich schlecht aus. Du weißt ja, der Haushalt.

Sie hält das Stäbchen ins Glas. Für genau fünf Sekunden. So hat er es ihr gesagt. Ein paar Minuten Geduld braucht sie jetzt. Das Stäbchen liegt vor ihr. Die chemischen Prozesse sind kompliziert. Er hat es ihr erklärt. So genau erinnert sie sich nicht. Bis jetzt ist alles gut gelaufen. Es war nur wenig Flüssigkeit für wenige Sekunden. Die letzten paar Minuten muss sie noch durchstehen. Sie muss es einfach schaffen.

Das Stäbchen liegt in einer Schatulle auf dem Küchentisch. Er wird sie öffnen, das Stäbchen herausnehmen und ein Photo machen. Dann wird er seinen Chef anrufen. Und die Kollegen. Die Eltern auch. Die Schwestern und Großeltern. Alle werden sie ein Photo bekommen von dem weißen Stäbchen mit den zwei blauen Balken. Es wird ein Mädchen werden. Da wird er sich sicher sein.

Sie füllt zwei Gläser mit Rotwein. Er möchte entspannen, wenn er müde von der Arbeit kommt. Wenige Tropfen Gift werden reichen. Es wird ein schneller Tod sein.

Sie lächelt, nimmt einen tiefen Schluck und schließt die Augen.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo KathaSonne, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

"Schöne" Geschichte mit hohem Gruselfaktor. Das offene Ende gefällt mir besonders gut!


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Silbenstaub

Mitglied
Hallo KathaSonne,
der Horror hinter verschlossenen Türen, sehr gut beschrieben und atmosphärisch dicht.
Sehr gern gelesen,
Silbenstaub
 

Marker

Mitglied
gut ausgedacht und geschrieben, ich kann mich dem lob meiner vorrednerinnen nur anschliessen. kurz und knacking und praegnant.
herzlich willkommen im forum, kathasonne!
lg, marker
 

Scorpio

Mitglied
Liebe KathaSonne,

Es lässt sich erahnen, dass die Geschichte nicht gut ausgehen wird. Jede, die etwas Ähnliches schon erlebt hat, spürt die Lethargie und die Hilflosigkeit der gut verheirateten jungen Frau.
Spannend bis zum Schluss, man will wissen, ob SIE es wirklich tut.
Ein paar Kleinigkeiten nur, zB: die Treppe fällt man hinunter, nicht herunter. Und dann hätte man nicht auf den (beiden) Oberarmen blaue Flecken.....Vorstandsmitglieder nicken mit dem Kopf - wippen ist hier falsch. Und das Wort „Gift“ im letzten Satz hätte ich weggelassen. Man weiss, was sie getan hat.

Freu mich jedenfalls auf neue spannende Stories von dir.

Gruß Scorpio
 



 
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