Wenn Zufall und Schicksal sich die Hand reichen (Erzählung in 7 Teilen)

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Art.Z.

Mitglied
Wir leben, wie wir träumen – einsam. – Joseph Conrad „Herz der Finsternis“

I
Irgendwo zwischen Tag und Nacht breche ich auf, ohne mich umzusehen. Mein Ziel ist unklar – allein das Gehen ist sicher, muss sein, ergibt sich aus dem Atemreflex und folgt diesem. Hier gestehe ich mir keine Luft mehr zu, darum atme ich mich los.
Bin ich allein? Neben mir geht jemand, genauso unbeteiligt wie ich schaut er nach vorne. Er weiß genau, dass ich an seiner Seite seiner Einsamkeit folge, sie ignoriere, weil ich sie kenne. Weiß er um meine Einsamkeit? Er lässt es sich nicht ansehen, bleibt aber stets neben mir, geht nicht schneller und nicht langsamer. Wir schweigen im Gleichschritt.
Ich habe kein Ziel. Sein Ziel wird zu meinem, Schicksal und Zufall reichen sich die Hand – sie kennen sich gut, sind alte Bekannte der Unsicherheit, Kinder der Hoffnung. Doch was ist, wenn er kein Ziel hat und genauso wie ich auf jemanden hofft? Auf mich vielleicht? Gehen wir dann ziellos bis in die Unendlichkeit? Und kreuzen sich unsere Wege dort?
Ich bleibe stehen, bücke mich und löse den Schnürsenkel meines linken Schuhs. Ob mein Begleiter weitergegangen ist? Ich wage es nicht hochzuschauen, binde langsam und voller Zweifel. Hoffe, dass er weggeht und doch bleibt. Was will ich? Hätte ich bloß nicht angehalten. Ich wünsche mich zurück an seine Seite. Lege alle Zuversicht in den nächsten Blick und lasse ihn aufschauend fliegen.
Er ist weg.
Ich richte mich auf und gehe weiter. Enttäuscht und zufrieden. Immer noch ohne Ziel. Meine Gedanken legen sich schlafen, Emotionen emigrieren in Meditation. In meinem Kopf ist Nacht. Der Himmel ist sternenschön. So viele Sterne! Sie erzählen Geschichten. Einer nach dem anderen – und ich höre jedem zu, lasse sie aussprechen und warte auf die nächste Geschichte. Es sind unendlich viele, weil es unendlich viele Sterne sind und jeder seine Geschichte hat. Keine wiederholt sich, jede ist einzigartig und hell – an Weisheit reich. Geschichten aus fernen Reichen, geschrieben von fremden Leben und vertrauten Zufällen. Manche Dinge sind überall gleich: Liebe, Gott, Hoffnung, Tod und Einsamkeit. Jede Geschichte pflegt eines dieser Themen, entwickelt es und nährt sich von ihm. Nur schade, dass ich mir nicht alles merken kann, was die Sterne erzählen. Die erste Geschichte verschwindet aus meinem Gedächtnis, wenn die nächste es zu bezirzen beginnt. Ein kurzes Vergnügen, ein flüchtiger Bericht, erzählt, um zu gehen, nicht um zu bleiben. So viele Geschichten, so viele Schicksale und Zeit, Zeit, unendlich viel Zeit, die beschrieben, belebt und bedacht wurde. Und so wenig darf ich erfahren, erlesen, erhören. Durch Zufall. Welcher Stern zu mir spricht, kann ich nicht bestimmen. Der Stern genauso wenig. Schicksal und Zufall reichen sich die Hand und ich hoffe dazwischen, das Richtige erleben zu dürfen.
Mein einsamer Begleiter steht wieder vor mir. Er wartet an einer Bushaltestelle. Ich sehe ihn an und habe nun keinen Zweifel daran, dass er auf mich wartet.
Ich stelle mich neben ihn. Sein Blick liegt immer noch fern, begibt sich auf Wanderschaft über graue Blockbauten, kahle Gewächse und schweigende Straßen. Was sucht er? Ich schaue ihn an. – Sein Kopf ist groß, das Gesicht weich, die Augen blind.
„Was suchst du?“, frage ich.
„Wie bitte?“
„Was suchst du?“, wiederhole ich meine Frage im selben Tonfall.
„Kennen wir uns?“, fragt er irritiert.
Nein, so mache ich es nicht. Ich frage ihn nicht. Werde seine Einsamkeit nicht gefährden. Sie ist immerhin alles, was uns verbindet. Fällt sie, bleibt uns nichts mehr. Sie ist alles, was uns trennt und eint.
Der Bus kommt und er steigt ein, nimmt am Fenster platz und schaut mich zum ersten Mal richtig an. Er schaut mir in die Augen und ich sehe … mich. Durch das Busfenster spiegelt sich mein Bild und meine Augen liegen auf seinen. Es sind seine Augen, mein Gesicht. Mit einem Ruck trennt sich unsere Symmetrie. Ich starre vor mich hin und verliere mich im Grau der Blockbauten, im Kahl der Gewächse und im Schweigen der Straße. Meine Augen sind blind.

II
Vom Stehen müde setze ich mich hin. Meine Jacke ist dick, meine Schuhe warm. Zwei Paar Hosen schützen meine Beine. Hier könnte ich lange sitzen und warten. Der Regen könnte mir nichts anhaben, der Wind ebenso wenig. Hotel Bushaltestelle. Hier hat man immer jemanden zum Sprechen, man ist nie allein. Und die Bekanntschaften bleiben nicht lange, sind alle unter Zeitdruck und unterwegs. Manche wollen gar nicht reden, sind in Gedanken irgendwo anders gefangen und nur physisch hier, an der Haltestelle.
Eine ältere Dame setzt sich neben mich.
„Kalt heute“, sagt sie beiläufig mit einem Ausdruck des gespielten Ernstes auf dem Gesicht; – reibt sich die Hände.
Ich nicke.
„Wobei früher die Winter um einiges schlimmer waren. Kein so wischi-waschi Brei. Damals fror man im Winter und schwitzte im Sommer. Aber richtig – keine halben Sachen. Und jetzt kommt dieser Klimawandel, Erderwärmung, bla, bla, bla. Mein Enkel kennt sich damit aus. Er studiert. Da bekomme ich auch was mit, verstehe zwar nur die Hälfte, aber das reicht mir schon. Man muss ja nicht alles wissen, sonst wird man ja ganz meschugge. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, hehe, Erderwärmung hin oder her, hehe. Sie sehen aber so aus, als ob Sie viel wüssten. Studieren Sie auch?“
„Nein. Ich arbeite.“
„Ja, arbeiten muss man. Natürlich. Arbeit macht … ach Gott, das darf man ja gar nicht mehr sagen. Ich hab früher als Näherin geschafft. Von nichts kommt nichts. Hat mir aber Spaß gemacht. Natürlich war nicht immer alles rosig, aber ein paar Sonnenblumen tuns auch zur Not. Doch, doch, ich bin zufrieden. Würde es noch mal genauso machen. Ach, jung müsste man sein. Sie haben noch alles vor sich, so viele Chancen, Möglichkeiten und Freuden. Greifen Sie zu, Jüngchen!“
„Sind sie einsam?“, frage ich, ohne sie anzuschauen.
„Wie bitte?“
„Sind Sie einsam?“, frage ich im selben Tonfall und schaue die Straße vor mir an.
Sie schweigt. Eine Minute. Kein Wort.
„Nein, ich bin nicht einsam. Ich habe meinen Enkel und … meine Tochter … ja.“
Der Bus kommt und nimmt sie mit. Ich bleibe sitzen und sinne ihren Worten nach. „Nein, ich bin nicht einsam.“ – Eine Lüge? Eine Fassade, ein Ornament der Leere, die das Alter mit sich bringt? Egal was sie sagt – sie ist einsam. Ich weiß es. Ich habe es gesehen, an ihrem Verhalten erkannt. Allein ihres Alters wegen muss sie nahe Menschen verloren haben. Ihr Mann ist sicher tot, weil sie nichts von ihm sagte. Wieso sprach sie mich an? Aus Einsamkeit, aus dem Drang heraus, sich jemandem mitzuteilen, mit jemandem zu reden, seine Stimme zu hören und sich zu versichern, dass sie gehört wird.
„Nein, ich bin nicht einsam.“ – Eine Lüge? Ich weiß es nicht, kann es nur vermuten. Wieso sollte sie mir ihre Einsamkeit anvertrauen? Auch wenn ich sie gefragt hätte, hätte sie mir nicht die Wahrheit verraten. Diese Geschichte wird unerzählt bleiben.

III
Vorstellung und Wirklichkeit verschmelzen in meiner Fantasie zu einem Buch, aus dem ich lese. Das Drehbuch meines Lebens. – Unergründliche, ziellose Dramaturgie trifft auf einen schlaffen Spannungsbogen. Ich lese aber immer noch jede Seite, überspringe keine Zeile. Der Stil gefällt mir. – Schöne Metaphern, Sprach- und Wortspiele schmücken die Leere des Inhalts. Selbst zwischen den Zeilen ist nichts zu finden, egal wie sehr man das dritte Auge bemüht. Die Dialoge sind unrealistisch, weil immer nur einer spricht und auch antwortet. Eindimensionale Ansichten lassen Unreife und Ängstlichkeit vermuten. Nein, es ist nicht einmal Angst – Ängstlichkeit – eine Andeutung, Vermutung eines Gefühls. Theorie.
„Wenn ich Sie bitten dürfte, mich ausreden zu lassen, könnte ich Ihnen erklären, worum es mir geht.“ – „Sie dürften und könnten.“ – „Also, der Punkt ist folgender: Der Mensch ist nur ein Tier, das zu viel nachdenkt. Dadurch wird er krank.“ – „Ach, was Sie nicht sagen.“ – „Sie glauben mir nicht?“ – „Doch sicher. Sie sind gerade das Paradebeispiel für Ihre These.“ – „Wie meinen Sie das?“ – „Sie denken, dass sie denken, und das zu viel, mein Freund. So kommen Sie auf solch einen Unsinn, wie das eben.“ – „Aber dann ist es ja kein Unsinn. Dann hätte ich ja recht.“ – „Denken Sie?“ …
„Entschuldigung, hätten Sie mal nen Euro?“
Ich schaue verwundert auf und sehe einen gut gepflegten Penner vor mir. Er trägt einen wohl gestutzten Drei-Tage-Bart, eine modische Jeans und eine Jacke mit einem flauschigen Kragen. Doch es handelt sich zweifelsohne um einen Penner, was der Pappbecher in seiner Hand bezeugt.
Ich hole einen Euro aus meiner Tasche und lasse ihn in den Becher plumpsen.
Der Kaffee spritzt im hohen Bogen auf seine Jacke und Jeans.
„Spinnst du, du Penner“, schreit er entsetzt, hält den Becher hoch und schaut sich die Flecken an. Mit der nächsten Bewegung kippt er den Rest des Kaffees auf mich und stampft murrend davon.
Nein, ich gebe ihm den Euro besser in die Hand, dann gibt’s auch keinen Ärger.
Ich hole einen Euro aus meiner Tasche und gebe ihn dem Penner. Er bedankt sich herzlich.
„Wieso tragen Sie so gute Kleider und betteln um einen Euro“, will ich wissen.
„Betteln!?“, fragt er verwundert. „Ich brauche Geld für den Parkautomaten.“
„Ach so“, nicke ich verständig. „Entschuldigen Sie meine Frage.“
„Kein Problem. Danke für Ihre Hilfe“, sagt er und geht davon.
Und doch lügt er. – Ich gebe ihm keinen Euro, weil er sich davon eh nur Alkohol kaufen wird. Ich sehe ihm an, dass er trinkt: Sein Gesicht ist rot und aufgedunsen, die Nase wie eine reife Erdbeere – mit vielen kleinen Poren.
„Nein, ich habe keinen Euro. Tut mir leid.“ sage ich zu ihm.
„Trotzdem danke.“
Er geht davon. Nimmt einen Schluck aus seinem Becher.
So hätte ich das gemacht, wäre es dazu gekommen. Hoffentlich. Aber auch diese Geschichte wird es nicht schaffen. Deswegen – zurück zur Wirklichkeit. Wo bin ich? Wer bin ich? Wo komme ich her? – Ich muss mich erinnern.

IV
Ich war schon immer zu fantasievoll, um die Wirklichkeit einfach so hinnehmen zu können. Was ich als Kind erträumte, gefiel mir besser als das, was ich im Laufe des Erwachsens als „echt“ vorgesetzt bekam. Es schmeckte mir nicht. Aber essen musste ich. – Von Träumen wird man nicht satt. In meinem Fall bestand auch das Problem, dass meine Mutter, neben Suppe und Kartoffeln mit Würstchen, strikte Disziplin und Fleiß sich aufzutischen gemusst sah. Um ihrem Sohn eine gute und sichere Zukunft zu bieten.
Als Kind konnte ich noch nicht ahnen, dass die Alternative des Träumens nicht unbedingt so verwerflich war, wie meine Erzieher es mir weiß machen wollten. In einer kalten und disziplingenormten Welt ist der Funke eines inspirierten, träumenden Geistes mehr als nötig – entfacht er doch das Feuer, das Wärme und Licht spendet. Und dessen bedarf es immer mehr inmitten der Depression und Düsternis unseres Jahrhunderts.
Doch bevor mein Feuer atmen konnte, musste ich einen langen und beschwerlichen Weg antreten, den wahrscheinlich jeder von uns gehen muss. – Ich musste erwachsen. Von erwachsen werden konnte bei mir nie die Rede sein, da ich den Prozess des Wachsens nie als abgeschlossen sehen werde – ich entwickle mich immer weiter und wachse, erwachse aus einem kleineren, vorhergehenden Zustand in einen neuen und anderen – nicht immer besseren, leider.
Bereits in der Schule musste ich feststellen, dass ich dem Großteil meiner Mitschüler nicht glich. Der Unterschied wurde deutlicher, je mehr ich sah und hörte, wahrnahm und nicht wahrhaben wollte. Natürlich kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob mein Anderssein schon immer da war, oder sich erst durch den Kontakt zu anderen entwickelte. Ich denke aber, dass beides zu einem gewissen Teil zum Ergebnis beigetragen hatte. Es gibt kein Schwarz oder Weiß, kein Richtig oder Falsch bei solchen Fragen. Die Antwort wird immer ein gräuliches Könnte-sein bleiben.
Aber denkt nicht jeder irgendwo, dass er anders ist und dass ihn die anderen nicht verstehen?
Dieser Gedanke war mir damals noch nicht geläufig, – also verlief ich mich in meinen eigenen Gedankengängen und erschloss mir eine Wahrheit, die plausibel und schlüssig genug war, um der Dimension meiner Fragen eine ausreichende Definition zu bieten. Ausreichend – das war immer das Ziel – gut genug, um in die nächste Klasse versetzt zu werden, um wieder ein Jahr weiter zu kommen, auf dem Weg zum Abschluss. Und dann? Ich verstand diejenigen nicht, die sich bemühten und gute Noten schrieben, für ein gutes Zeugnis, für ein gutes Studium, für einen guten Beruf, für ein gutes Leben. Aber die Faulen, die wie ich meistens um die Versetzung bangen mussten, waren mir ebenfalls ein Rätsel. Entweder waren sie zu dumm, um gute Noten zu schreiben oder sie sahen ebenfalls keinen Sinn darin, für ihre Zukunft zu lernen. Aber wieso waren sie dann nicht wie ich? Wieso fügten sie sich so makellos in das System der anderen ein?
So bliebe sie mir alle fremd und unverständlich.
Heute ahne ich um ihre Gründe und begreife nur langsam die Ausmaße meines Unwissens.
Nach der Schule, als es Zeit wurde, die geregelten Bahnen zwischen Bänken und Tafeln zu verlassen, setzte ich mein zielloses Herumirren fort. Ich nahm eine Arbeit an und lebte von Monat zu Monat in der Erwartung des nächsten Monats. Immer mehr schmeckte ich die Sinnlosigkeit und Leere meines Lebens, immer einsamer wurde ich im Rahmen meines selbst gemalten Lebensbildes. Nein, ich war nie ganz allein. Immer gab es ein paar Menschen, die an meiner Seite die Tür zur Normalität offen hielten. Ich ging durch die Tür, schaute mich um und kehre stets zurück ins Dunkle meines Zimmers. Drehte den Schlüssel einmal um und genoss die Ruhe vor dem nächsten Klopfen. Bis das Klopfen immer seltener wurde und die Ruhe ausuferte, mich immer mehr in wache Nächte sinken und verstummen ließ. Die Nacht wurde mein bester Freund. Sie war still und friedlich, erhaben und allwissend ruhten unzählige Sterne in ihrem Schoß und nahmen mich in ihrer Mitte auf. Ich begab mich auf nächtliche Spaziergänge und schaute den Sternen zu. Ich lauschte ihrem Schweigen und wartete höflich ab, bis sie zu erzählen begangen. Ich wartete lange, doch meine Geduld zahlte sich aus. Sie sprachen und erzählten mir Tausende Geschichten, von Liebe, Gott, Hoffnung, Tod und Einsamkeit. Sie begleiteten mich überallhin, auch wenn ich sie bei Tag nicht sah, waren sie doch da, ich musste nur die Augen schließen und meinen Gedanken folgen. Immer, wenn ich wollte, erzählten sie mir Geschichten und ich merkte sie mir, bevor sie verblassten, und schrieb sie auf.

V
Die Nacht legt sich auf die Stadt. Es ist bewölkt, eine Wand aus trockenen, rissigen Wolken hängt zwischen Himmel und Hölle.
Die Temperatur fällt weit unter Null, meine Hände frieren entsetzlich, meine Nase brennt und läuft. Doch in meinem Herzen ist es warm. Es fühlt die Freiheit und schlägt beschwingt im Wissen, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ich bin hier richtig. Genau hier, auf dieser verlassenen Straße, bei Minusgraden und Nacht – ich weiß es, ich bin richtig.
Ich setze das Gehen fort, bis ich an einer roten Aufschrift halte, die lasziv die Dunkelheit durchdringt und in blinkenden Buchstaben „Reibekuchenecke“ in die Nacht schreit.
In der Kneipe empfängt mich eine dicke Nebelwand aus dichtem Rauch. Musik dudelt leise; irgendwas zwischen Rock und Schlager. Geschäftiges Treiben. Frauenlachen. Billardtische und Tischfußball. Keiner beachtet mich.
An der Theke bestelle ich ein Bier und nippe etwas daran.
„Trinkt so ein echter Mann?“, höre ich jemanden hinter mir fragen.
Ich drehe mich um und sehe den Fragenden an. Er ist einer Beschreibung kaum wert, aber ziemlich betrunken. Ein Lächeln verlässt meine Lippen – ob aus Freundlichkeit, Unbeholfenheit oder wirklicher Sympathie, weiß es selbst nicht. Er versteht es als Aufforderung, sich neben mich zu setzen.
Er gibt einen Monolog von sich. Der Inhalt ist leer und für diese – meine – Geschichte unbedeutend. Allein, dass er ist und spricht, soll sein Sein definieren. Das reicht.
Mein Bier ist gut. Irgendwie erfüllend. Er lädt mich ein: noch eins bitte! Noch eins bitte und noch eins, bis ich mich nicht mehr frage, wieso ich trinke. Mein neuer Bekannter scheint wirklich viel auf dem Herzen zu haben, dessen er sich ohne lästige Satzzeichen zu entledigen weiß. Er gestikuliert mit den Händen, schlägt auf den Tresen und schimpft laut. Dann leert er seinen Becher mit einem gesunden Durst und freut sich lautstark über das folgende Bäuerchen. Ich wundere mich nicht besonders – irgendwie passt es nur zu gut ins Gesamtbild. Ich mache einen schlechten Scherz und er lacht ausgiebig. Seine Hand wandert über meinen Rücken, bis sein Arm meine Schultern umklammert. Er lässt Freundschaftsbekundungen los, in seinen Augen blinzelt ein Funke und seinem Mund entweichen Worte, die mir den Magen umdrehen. Was hat er vor? – Was er vorhat, drückt seine Hand auf meinem Oberschenkel unmissverständlich aus … nein, diese Geschichte ist nicht meine. War es überhaupt eine gute Idee in diese Kneipe zu gehen? – Ich bleibe lieber draußen in der Kälte vor der „Reibekuchenecke“. Ein Hotel werde ich suchen. Ein Bett, fremd, ein Tisch, fremd – im Spiegel über dem Waschbecken liegt doch etwas Vertrautes – mein Gesicht. Wie sehe ich aus? – Zu normal, um stolz oder enttäuscht zu sein.

VI

Am Morgen wache ich auf. Das Zimmer sieht bei Tageslicht viel schäbiger aus. Ich nehme mein Schreibbuch und notiere: Liebe und Gott fehlen.
Nach einem leichten Frühstück verlasse ich das Hotel und begebe mich auf die Suche nach meiner Geschichte.
In der Fußgängerzone ist es recht leer. Ein paar schwänzende Schüler schlendern durch die Läden. Selbstständige und Hausfrauen, Arbeitslose und Millionäre bummeln geschäftig. Was ihnen allen eigen ist, sind die gesenkten Augen, die flinken Daumen – beides auf einen Bildschirm fixiert. Sie sind online. Vernetzt. Doch ich kann nicht einmal Kritik üben und meinen freien Zeigefinger schwingen – ich hatte noch nie ein Smartphone in den Händen und will mir kein Vorurteil bilden. Leben und surfen lassen. Doch das Netz scheint uns langsam gänzlich einzuschließen; es ist überall und wird immer unsichtbarer, die Fäden immer dünner und leistungsstärker. Sie leiten Informationen – für uns und über uns – verschmelzen mit unserem Wesen und dann … sie sitzt auf einer Bank und liest ein Buch. Es ist tatsächlich ein gedrucktes Buch, das sie in den Händen hält, kein E-Reader, kein Tablet oder Smartphone. Ich kann nicht genau erkennen, wie der Titel ist, also komme ich näher, setze mich neben sie und lese: „Sputnik Sweetheart“. Was für ein Zufall, ich kenne das Buch tatsächlich. Vor ein paar Monaten war es mir wie zufällig in die Hände gefallen, als ich auf einem Flohmarkt träumend durch die Gegend schlenderte. „Hey, Sie da!“, rief der Verkäufer mir zu. „Haben 50 Cent über? Ich habe etwas für Sie.“ Dabei hielt er das Buch in der Rechten und winke damit durch die Luft. So erstand ich Sputnik Sweetheart von Haruki Murakami und las es wenige Tage später. Das war erst der Anfang meiner Murakami-Reise. Ich las jeden Roman, den ich von ihm bekommen konnte. Sogar ein Buch über das Laufen, das mich schließlich dazu motiviert hatte, mit dem Laufen zu beginnen.
Sie schaut flüchtig zu mir, liest dann weiter. Und ich … kein Gedanke schafft es mich zu verunsichern, mein Kopf ist leer, leicht und locker gehen die Worte zwischen meinen Lippen hindurch und klingen wunderbar unbedacht und ehrlich, als ich mich fragen höre: „Murakami ist wie ein Traum.“
Sie schaut mich verwundert an. Überraschung liegt in ihrem Blick, der im ersten Moment offenbart, dass sie nicht weiß, wovon und wieso ich überhaupt rede. Ihre braunen Augen werden groß und größer, die Brauen sind leicht hochgezogen.
„Bitte was?“, fragt sie.
Ich deute mit dem Finger auf das Buch und sage: „Er kann toll schreiben, aber ich finde es schade, dass er es nur selten schafft, eine perfekte Geschichte zu kreieren.“
„Und wer beurteilt, was perfekt und was nicht perfekt ist?“, protestiert sie.
„Na ja“, schaffe ich mir Zeit zum Überlegen, „er schlängelt sich oft mit dem Traummotiv aus brenzligen Situationen und lässt manche Frage offen.“
„Was genau meinst du?“, fragt sie mit einem kritisch neugierigen Ton in der Stimme.
„Ich will dir nicht das Ende des Buches verraten …“ – „Ich kenne es schon, lese es zum zweiten Mal, weil's so toll ist“, unterbricht sie mich, lächelt leise, zieht die Schultern hoch und verleiht mit dem linken Daumen ihrer Aussage Nachdruck.
„Okay, dann kann ich ja offen reden. Schau mal, dass er dauernd Träume einbaut, wenn es nicht mehr weitergeht oder zu kompliziert wird … das ist doch fantasielos.“
„Aber gerade das macht doch das Wunderbare an ihm aus“, sagt sie. „Er lässt zwei Welten verschmelzen und man weiß nicht mehr, was wahr und was erfunden ist. Außerdem macht er es sehr souverän und schlüssig, wie ich finde. Seine Figuren sind so konzipiert, dass ihnen das Träumen eher als das wahre Leben liegt.“
Im Bann ihrer Aussage versuche ich etwas Sinnvolles zu kontern, doch sage wie automatisch „Konzipiert … das ist ein schönes Wort.“
Sie lächelt verlegen, sagt dann: „Ich stelle mir manchmal vor, wie es wäre, eine Figur in seinem Roman zu sein. Wie würde er mich beschreiben, welche Metaphern würden mein Tun bezeichnen?“ Ihr Blick liegt auf dem hellgrünen Cover des Buchs. Sie nimmt es in die rechte Hand und lässt die Finger ihrer linken Hand über die Seiten gleiten, elegant wie eine weiße Möwe über einem schlafenden Meer.
„Wie ist dein Name?“, frage ich.
„Weißt du es nicht schon längst?“, antwortet sie und schaut mit fordernd an. Ich erwidere ihren Blick und lächle unwillkürlich. Nein, Willkür ist es nicht. Schon eher eine zu glatte Romanze, die mir zu entgleiten droht. Und warnend fragt meine Heldin dazwischen, versucht noch etwas zu retten, doch das ist mir egal. Ich will es so.
„Nein, woher soll ich wissen, wie du heißt?“, frage ich treudoof.
„Lassen wir das mit den Namen. Was nützen sie schon? – Nur Buchstaben. Ich will dich nicht anlügen.“
„Kennst du andere Bücher von Murakami“, frage ich.
„Frag mich lieber, welche Bücher ich nicht von ihm kenne“, sagt sie ironisch mit einem frechen Grinsen auf den Lippen, bei dem sich kleine Fältchen um ihre Augen bilden. – Kleinen Fächern gleich.
Ich sehe sie an und weiß nicht mehr, was ich sagen soll.
Dieser Moment entbehrt aller Worte und ich habe das Gefühl, dass sie auch so denkt. Ob Traum oder echt ist gerade wirklich egal. – Das wird meine Geschichte sein.

VII

Die Sterne. Zu ihnen aufgestiegen, möchte man nie wieder in die dunkle Welt hinunter. Ob Träumer oder Realist, ob kleiner oder groß, ob Mann oder Frau – alle schauen irgendwann nach oben und fragen sich … was?, ich weiß es nicht. Jeder fragt etwas anderes, doch es sind diese Sekunden, die uns frei machen, die und erheben uns von allen weltlichen Sorgen erlösen.
Jeder ist einsam, jeder hat Fragen, die er sich nicht zu stellen wagt, denen er sich nicht zu stellen wagt, und die er lange mit sich herumträgt. Man kann nicht alles erklären und vielleicht sollte man es auch nicht versuchen. Wir sind viel mehr, als ein Verstand fassen kann. Wir sind nicht umsonst hier unten, und leiden und lieben und erleben die Zeitspanne, die uns gegeben wurde, so gut wir können. Manche wollen sie nur hinter sich bringen, manche wollen glänzen, andere wollen nur ruhig und friedlich leben und fragen sich nicht, welchen Sinn das Leben hat. Vielleicht gibt es auch keinen Sinn, vielleicht ist alles Zufall und wir erfinden nur Erklärungen, um uns zu beruhigen, um uns aus dem Chaos zu erheben und mehr zu sein als Willkür. Wer will es uns verübeln? Wir sind alle nur Menschen und schaffen uns unsere Wahrheit, so gut wir können und hoffen, dass sie überlebt und besteht in einer kalten Welt voller Tiere, die zu viel nachdenken und vergessen, zu fühlen. Gefühl – das ist das, was uns zu Menschen macht. Gefühl im Herzen und im Kopf – Fantasie, ein Traum, den wir selbst träumen und gestalten, aufschreiben und festhalten. Wir waren da, wir haben gelebt, erzählt und geträumt. Wir sind Sterne. So viele, so verschiedene und weit entfernte, sich suchende und einsame Sterne, die hinausziehen, zwischen Tag und Nacht, und hoffen, dass sie etwas finden, jemanden finden, dass ihre Geschichte nicht ungehört bleibt, auch wenn diese Geschichte erst noch geschrieben werden will.
Wenn Zufall und Schicksal sich die Hand reichen und wir dazwischen hoffen, das Richtige zu erleben.
 

Vagant

Mitglied
Hallo Art, ich sehe mich eigentlich nicht im Stande dir zu dem Text eine kritische Anmerkung zu schreiben. Vielleicht soviel; der Einstig fiel mir nicht leicht . Dieser larmoyante Protagonist, dazu der überfrachtete Symbolismus; das waren so Sachen, bei denen ich mir sagte: lies es lieber nicht. So ein Ich-Erzähler hat ja meist das Problem, dass er dazu verdammt ist, eine Story nach vorn zu treiben. Nur in der Aktion die er selbst voran treibt kann er agieren, ist aber meist am stärksten wenn er von anderen erzählt. Ich bin dann doch drangeblieben und wurde im zweiten Teil angenehm überrascht. Die Bushaltestellenstory hat mir stilistisch wunderbar gefallen, atmosphärisch sehr dicht geschrieben (wobei ich sagen muss, dass mir dein Stil hier ohnehin sehr gut gefallen hat).
Den Murakami-Teil fand ich auch klasse. Ich kenne leider nur 'wovon ich rede, wenn ich vom laufen rede', werde da aber sicher mal nach legen. Ansonsten immer wieder Highlight, gefolgt von Passagen denen ich nicht so viel abgewinnen konnte. Das Fazit, welches dein Protagonist im 7. Teil zieht, fand ich (wie übrigens den gesamten Text) sehr gut durchdacht, ambitioniert und reif, möchte es dann aber eigentlich, so geballt und literarisch auf 2 Seiten ausgebreitet, auch nicht lesen. Ich habe die 7 Teile dann eher wie eine Episoden-Story gelesen, und - na was soll ich sagen? - es hat sich gelohnt. Vagant
 

Art.Z.

Mitglied
Danke für dein ausführliches Feedback. Ich kann dir nur raten, jedes Murakami Buch zu lesen, das du in die Hände bekommst. -- Es lohnt sich.

Zu meiner Erzählung hab ich auch ein Hörbuch gemacht. Vielleicht mag der eine oder andere eher hören als lesen.
 

Art.Z.

Mitglied
Hörbuch zur Erzählung:

https://www.youtube.com/watch?v=aWaXqeeoiy4&feature=youtu.be

Einsame Sterne
Wir leben, wie wir träumen – einsam. – Joseph Conrad „Herz der Finsternis“

I
Irgendwo zwischen Tag und Nacht breche ich auf, ohne mich umzusehen. Mein Ziel ist unklar – allein das Gehen ist sicher, muss sein, ergibt sich aus dem Atemreflex und folgt diesem. Hier gestehe ich mir keine Luft mehr zu, darum atme ich mich los.
Bin ich allein? Neben mir geht jemand, genauso unbeteiligt wie ich schaut er nach vorne. Er weiß genau, dass ich an seiner Seite seiner Einsamkeit folge, sie ignoriere, weil ich sie kenne. Weiß er um meine Einsamkeit? Er lässt es sich nicht ansehen, bleibt aber stets neben mir, geht nicht schneller und nicht langsamer. Wir schweigen im Gleichschritt.
Ich habe kein Ziel. Sein Ziel wird zu meinem, Schicksal und Zufall reichen sich die Hand – sie kennen sich gut, sind alte Bekannte der Unsicherheit, Kinder der Hoffnung. Doch was ist, wenn er kein Ziel hat und genauso wie ich auf jemanden hofft? Auf mich vielleicht? Gehen wir dann ziellos bis in die Unendlichkeit? Und kreuzen sich unsere Wege dort?
Ich bleibe stehen, bücke mich und löse den Schnürsenkel meines linken Schuhs. Ob mein Begleiter weitergegangen ist? Ich wage es nicht hochzuschauen, binde langsam und voller Zweifel. Hoffe, dass er weggeht und doch bleibt. Was will ich? Hätte ich bloß nicht angehalten. Ich wünsche mich zurück an seine Seite. Lege alle Zuversicht in den nächsten Blick und lasse ihn aufschauend fliegen.
Er ist weg.
Ich richte mich auf und gehe weiter. Enttäuscht und zufrieden. Immer noch ohne Ziel. Meine Gedanken legen sich schlafen, Emotionen emigrieren in Meditation. In meinem Kopf ist Nacht. Der Himmel ist sternenschön. So viele Sterne! Sie erzählen Geschichten. Einer nach dem anderen – und ich höre jedem zu, lasse sie aussprechen und warte auf die nächste Geschichte. Es sind unendlich viele, weil es unendlich viele Sterne sind und jeder seine Geschichte hat. Keine wiederholt sich, jede ist einzigartig und hell – an Weisheit reich. Geschichten aus fernen Reichen, geschrieben von fremden Leben und vertrauten Zufällen. Manche Dinge sind überall gleich: Liebe, Gott, Hoffnung, Tod und Einsamkeit. Jede Geschichte pflegt eines dieser Themen, entwickelt es und nährt sich von ihm. Nur schade, dass ich mir nicht alles merken kann. Die erste Geschichte verschwindet aus meinem Gedächtnis, wenn die nächste es zu bezirzen beginnt. Ein kurzes Vergnügen, ein flüchtiger Bericht, erzählt, um zu gehen, nicht um zu bleiben. So viele Geschichten, so viele Schicksale und Zeit, Zeit, unendlich viel Zeit, die beschrieben, belebt und bedacht wurde. Und so wenig darf ich erfahren, erlesen, erhören. Durch Zufall. Welcher Stern zu mir spricht, kann ich nicht bestimmen. Der Stern genauso wenig. Schicksal und Zufall reichen sich die Hand und ich hoffe dazwischen, das Richtige erleben zu dürfen.
Mein einsamer Begleiter steht wieder vor mir. Er wartet an einer Bushaltestelle. Ich sehe ihn an und habe nun keinen Zweifel daran, dass er auf mich wartet.
Ich stelle mich neben ihn. Sein Blick liegt immer noch fern, begibt sich auf Wanderschaft über graue Blockbauten, kahle Gewächse und schweigende Straßen. Was sucht er? Ich schaue ihn an. – Sein Kopf ist groß, das Gesicht weich, die Augen blind.
„Was suchst du?“, frage ich.
„Wie bitte?“
„Was suchst du?“, wiederhole ich meine Frage im selben Tonfall.
„Kennen wir uns?“, fragt er irritiert.
Nein, so mache ich es nicht. Ich frage ihn nicht. Werde seine Einsamkeit nicht gefährden. Sie ist immerhin alles, was uns verbindet. Fällt sie, bleibt uns nichts mehr. Sie ist alles, was uns trennt und eint.
Der Bus kommt und er steigt ein, nimmt am Fenster platz und schaut mich zum ersten Mal richtig an. Er schaut mir in die Augen und ich sehe … mich. In dem Busfenster spiegelt sich mein Bild und meine Augen liegen auf seinen. Es sind seine Augen, mein Gesicht. Mit einem Ruck trennt sich unsere Symmetrie. Ich starre vor mich hin und verliere mich im Grau der Blockbauten, im Kahl der Gewächse und im Schweigen der Straße. Meine Augen sind blind.

II
Vom Stehen müde setze ich mich hin. Meine Jacke ist dick, meine Schuhe warm. Zwei Paar Hosen schützen meine Beine. Hier könnte ich lange sitzen und warten. Der Regen könnte mir nichts anhaben, der Wind ebenso wenig. Hotel Bushaltestelle. Hier hat man immer jemanden zum Sprechen, man ist nie allein. Und die Bekanntschaften bleiben nicht lange, sind alle unter Zeitdruck und unterwegs. Manche wollen gar nicht reden, sind in Gedanken irgendwo anders gefangen und nur physisch hier, an der Haltestelle.
Eine ältere Dame setzt sich neben mich.
„Kalt heute“, sagt sie beiläufig mit einem Ausdruck des gespielten Ernstes auf dem Gesicht; – reibt sich die Hände.
Ich nicke.
„Wobei früher die Winter um einiges schlimmer waren. Kein so wischi-waschi Brei. Damals fror man im Winter und schwitzte im Sommer. Aber richtig – keine halben Sachen. Und jetzt kommt dieser Klimawandel, Erderwärmung, bla, bla, bla. Mein Enkel kennt sich damit aus. Er studiert. Da bekomme ich auch was mit, verstehe zwar nur die Hälfte, aber das reicht mir schon. Man muss ja nicht alles wissen, sonst wird man ja ganz meschugge. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, hehe, Erderwärmung hin oder her, hehe. Sie sehen aber so aus, als ob Sie viel wüssten. Studieren Sie auch?“
„Nein. Ich arbeite.“
„Ja, arbeiten muss man. Natürlich. Arbeit macht … ach Gott, das darf man ja gar nicht mehr sagen. Ich hab früher als Näherin geschafft. Von nichts kommt nichts. Hat mir aber Spaß gemacht. Natürlich war nicht immer alles rosig, aber ein paar Sonnenblumen tuns auch zur Not. Doch, doch, ich bin zufrieden. Würde es noch mal genauso machen. Ach, jung müsste man sein. Sie haben noch alles vor sich, so viele Chancen, Möglichkeiten und Freuden. Greifen Sie zu, Jüngchen!“
„Sind sie einsam?“, frage ich, ohne sie anzuschauen.
„Wie bitte?“
„Sind Sie einsam?“, frage ich im selben Tonfall und starre die Straße vor mir an.
Sie schweigt. Eine Minute. Kein Wort.
„Nein, ich bin nicht einsam. Ich habe meinen Enkel und … meine Tochter … ja.“
Der Bus kommt und nimmt sie mit. Ich bleibe sitzen und sinne ihren Worten nach. „Nein, ich bin nicht einsam.“ – Eine Lüge? Eine Fassade, ein Ornament der Leere, die das Alter mit sich bringt? Egal was sie sagt – sie ist einsam. Ich weiß es. Ich habe es gesehen, an ihrem Verhalten erkannt. Allein ihres Alters wegen muss sie nahe Menschen verloren haben. Ihr Mann ist sicher tot, weil sie nichts von ihm sagte. Wieso sprach sie mich an? Aus Einsamkeit, aus dem Drang heraus, sich jemandem mitzuteilen, mit jemandem zu reden, seine Stimme zu hören und sich zu versichern, dass sie gehört wird.
„Nein, ich bin nicht einsam.“ – Eine Lüge? Ich weiß es nicht, kann es nur vermuten. Wieso sollte sie mir ihre Einsamkeit anvertrauen? Auch wenn ich sie gefragt hätte, hätte sie mir nicht die Wahrheit verraten. Diese Geschichte wird unerzählt bleiben.

III
Vorstellung und Wirklichkeit verschmelzen in meiner Fantasie zu einem Buch, aus dem ich lese. Das Drehbuch meines Lebens. – Unergründliche, ziellose Dramaturgie trifft auf einen schlaffen Spannungsbogen. Ich lese aber immer noch jede Seite, überspringe keine Zeile. Der Stil gefällt mir. – Schöne Metaphern, Sprach- und Wortspiele schmücken die Leere des Inhalts. Selbst zwischen den Zeilen ist nichts zu finden, egal wie sehr man das dritte Auge bemüht. Die Dialoge sind unrealistisch, weil immer nur einer spricht und auch antwortet. Eindimensionale Ansichten lassen Unreife und Ängstlichkeit vermuten. Nein, es ist nicht einmal Angst – Ängstlichkeit – eine Andeutung, Vermutung eines Gefühls. Theorie.
„Wenn ich Sie bitten dürfte, mich ausreden zu lassen, könnte ich Ihnen erklären, worum es mir geht.“ – „Sie dürften und könnten.“ – „Also, der Punkt ist folgender: Der Mensch ist nur ein Tier, das zu viel nachdenkt. Dadurch wird er krank.“ – „Ach, was Sie nicht sagen.“ – „Sie glauben mir nicht?“ – „Doch sicher. Sie sind gerade das Paradebeispiel für Ihre These.“ – „Wie meinen Sie das?“ – „Sie denken, dass sie denken, und das zu viel, mein Freund. So kommen Sie auf solch einen Unsinn, wie das eben.“ – „Aber dann ist es ja kein Unsinn. Dann hätte ich ja recht.“ – „Denken Sie?“ …
„Entschuldigung, hätten Sie mal nen Euro?“
Ich schaue verwundert auf und sehe einen gut gepflegten Penner vor mir. Er trägt einen wohl gestutzten Drei-Tage-Bart, eine modische Jeans und eine Jacke mit einem flauschigen Kragen. Doch es handelt sich zweifelsohne um einen Penner, was der Pappbecher in seiner Hand bezeugt.
Ich hole einen Euro aus meiner Tasche und lasse ihn in den Becher plumpsen.
Der Kaffee spritzt im hohen Bogen auf seine Jacke und Jeans.
„Spinnst du, du Penner“, schreit er entsetzt, hält den Becher hoch und schaut sich die Spritzer an. Mit der nächsten Bewegung kippt er den Rest des Kaffees auf mich und stampft murrend davon.
Nein, ich gebe ihm den Euro besser in die Hand, dann gibt’s auch keinen Ärger.
Ich hole einen Euro aus meiner Tasche und gebe ihn dem Penner. Er bedankt sich herzlich.
„Wieso tragen Sie so gute Kleider und betteln um einen Euro“, will ich wissen.
„Betteln!?“, fragt er verwundert. „Ich brauche Geld für den Parkautomaten.“
„Ach so“, nicke ich verständig. „Entschuldigen Sie meine Frage.“
„Kein Problem. Danke für Ihre Hilfe“, sagt er und geht davon.
Und doch lügt er. – Ich gebe ihm keinen Euro, weil er sich davon eh nur Alkohol kaufen wird. Ich sehe ihm an, dass er trinkt: Sein Gesicht ist rot und aufgedunsen, die Nase wie eine reife Erdbeere – mit vielen kleinen Poren.
„Nein, ich habe keinen Euro. Tut mir leid“, sage ich zu ihm.
„Trotzdem danke.“
Er geht davon. Nimmt einen Schluck aus seinem Becher.
So hätte ich das gemacht, wäre es dazu gekommen. Hoffentlich. Aber auch diese Geschichte wird es nicht schaffen. Deswegen – zurück zur Wirklichkeit. Wo bin ich? Wer bin ich? Wo komme ich her? – Ich muss mich erinnern.

IV
Ich war schon immer zu fantasievoll, um die Wirklichkeit einfach so hinnehmen zu können. Was ich als Kind erträumte, gefiel mir besser als das, was ich im Laufe des Erwachsens als „echt“ vorgesetzt bekam. Es schmeckte mir nicht. Aber essen musste ich. – Von Träumen wird man nicht satt. In meinem Fall bestand auch das Problem, dass meine Mutter, neben Suppe und Kartoffeln mit Würstchen, strikte Disziplin und Fleiß sich aufzutischen gemusst sah. Um ihrem Sohn eine gute und sichere Zukunft zu bieten.
Als Kind konnte ich noch nicht ahnen, dass die Alternative des Träumens nicht unbedingt so verwerflich war, wie meine Erzieher es mir weiß machen wollten. In einer kalten und disziplingenormten Welt ist der Funke eines inspirierten, träumenden Geistes mehr als nötig – entfacht er doch das Feuer, das Wärme und Licht spendet. Und dessen bedarf es immer mehr inmitten der Depression und Düsternis unseres Jahrhunderts.
Doch bevor mein Feuer atmen konnte, musste ich einen langen und beschwerlichen Weg antreten, den wahrscheinlich jeder von uns gehen muss. – Ich musste erwachsen. Von erwachsen werden konnte bei mir nie die Rede sein, da ich den Prozess des Wachsens nie als abgeschlossen sehen werde – ich entwickle mich immer weiter und wachse, erwachse aus einem kleineren, vorhergehenden Zustand in einen neuen und anderen – nicht immer besseren, leider.
Bereits in der Schule musste ich feststellen, dass ich dem Großteil meiner Mitschüler nicht glich. Der Unterschied wurde deutlicher, je mehr ich sah und hörte, wahrnahm und nicht wahrhaben wollte. Natürlich kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob mein Anderssein schon immer da war, oder sich erst durch den Kontakt zu anderen entwickelte. Ich denke aber, dass beides zu einem gewissen Teil zum Ergebnis beigetragen hatte. Es gibt kein Schwarz oder Weiß, kein Richtig oder Falsch bei solchen Fragen. Die Antwort wird immer ein gräuliches Könnte-sein bleiben.
Aber denkt nicht jeder irgendwo, dass er anders ist und dass ihn die anderen nicht verstehen?
Dieser Gedanke war mir damals noch nicht geläufig, – also verlief ich mich in meinen eigenen Gedankengängen und erschloss mir eine Wahrheit, die plausibel und schlüssig genug war, um der Dimension meiner Fragen eine ausreichende Definition zu bieten. Ausreichend – das war immer das Ziel – gut genug, um in die nächste Klasse versetzt zu werden, um wieder ein Jahr weiter zu kommen, auf dem Weg zum Abschluss. Und dann? Ich verstand diejenigen nicht, die sich bemühten und gute Noten schrieben, für ein gutes Zeugnis, für ein gutes Studium, für einen guten Beruf, für ein gutes Leben. Aber die Faulen, die wie ich meistens um die Versetzung bangen mussten, waren mir ebenfalls ein Rätsel. Entweder waren sie zu dumm, um gute Noten zu schreiben oder sie sahen ebenfalls keinen Sinn darin, für ihre Zukunft zu lernen. Aber wieso waren sie dann nicht wie ich? Wieso fügten sie sich so makellos in das System der anderen ein?
So bliebe sie mir alle fremd und unverständlich.
Heute ahne ich um ihre Gründe und begreife nur langsam die Ausmaße meines Unwissens.
Nach der Schule, als es Zeit wurde, die geregelten Bahnen zwischen Bänken und Tafeln zu verlassen, setzte ich mein zielloses Herumirren fort. Ich nahm eine Arbeit an und lebte von Monat zu Monat in der Erwartung des nächsten Monats. Immer mehr schmeckte ich die Sinnlosigkeit und Leere meines Lebens, immer einsamer wurde ich im Rahmen meines selbst gemalten Lebensbildes. Nein, ich war nie ganz allein. Immer gab es ein paar Menschen, die an meiner Seite die Tür zur Normalität offen hielten. Ich ging durch die Tür, schaute mich um und kehre stets zurück ins Dunkle meines Zimmers. Drehte den Schlüssel einmal um und genoss die Ruhe vor dem nächsten Klopfen. Bis das Klopfen immer seltener wurde und die Ruhe ausuferte, mich immer mehr in wache Nächte sinken und verstummen ließ. Die Nacht wurde mein bester Freund. Sie war still und friedlich, erhaben und allwissend ruhten unzählige Sterne in ihrem Schoß und nahmen mich in ihrer Mitte auf. Ich begab mich auf nächtliche Spaziergänge und schaute ihnen zu .Ich lauschte ihrem Schweigen und wartete höflich ab, bis sie zu erzählen begangen. Ich wartete lange, doch meine Geduld zahlte sich aus. Sie sprachen und erzählten mir Tausende Geschichten, von Liebe, Gott, Hoffnung, Tod und Einsamkeit. Sie begleiteten mich überallhin, auch wenn ich sie bei Tag nicht sah, waren sie doch da, ich musste nur die Augen schließen und meinen Gedanken folgen. Immer, wenn ich wollte, erzählten sie mir Geschichten und ich merkte sie mir, überlegte, wie meine wäre, meine Geschichte, die ich erzählen würde, wäre ich einer von ihnen.

V
Die Nacht legt sich auf die Stadt. Es ist bewölkt, eine Wand aus trockenen, rissigen Wolken hängt zwischen Himmel und Hölle.
Die Temperatur fällt weit unter Null, meine Hände frieren entsetzlich, meine Nase brennt und läuft. Doch in meinem Herzen ist es warm. Es fühlt die Freiheit und schlägt beschwingt im Wissen, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ich bin hier richtig. Genau hier, auf dieser verlassenen Straße, bei Minusgraden und Nacht – ich weiß es, ich bin richtig.
Ich setze das Gehen fort, bis ich an einer roten Aufschrift halte, die lasziv die Dunkelheit durchdringt und in blinkenden Buchstaben „Reibekuchenecke“ in die Nacht schreit.
In der Kneipe empfängt mich eine dicke Nebelwand aus dichtem Rauch. Musik dudelt leise; irgendwas zwischen Rock und Schlager. Geschäftiges Treiben. Frauenlachen. Billardtische und Tischfußball. Keiner beachtet mich.
An der Theke bestelle ich ein Bier und nippe etwas daran.
„Trinkt so ein echter Mann?“, höre ich jemanden hinter mir fragen.
Ich drehe mich um und sehe den Fragenden an. Er ist einer Beschreibung kaum wert, aber ziemlich betrunken. Ein Lächeln verlässt meine Lippen – ob aus Freundlichkeit, Unbeholfenheit oder wirklicher Sympathie, weiß es selbst nicht. Er versteht es als Aufforderung, sich neben mich zu setzen.
Er gibt einen Monolog von sich. Der Inhalt ist leer und für diese – meine – Geschichte unbedeutend. Allein, dass er ist und spricht, soll sein Sein definieren. Das reicht.
Mein Bier ist gut. Irgendwie erfüllend. Er lädt mich ein: noch eins bitte! Noch eins bitte und noch eins, bis ich mich nicht mehr frage, wieso ich trinke. Mein neuer Bekannter scheint wirklich viel auf dem Herzen zu haben, dessen er sich ohne lästige Satzzeichen zu entledigen weiß. Er gestikuliert mit den Händen, schlägt auf den Tresen und schimpft laut. Dann leert er seinen Becher mit einem gesunden Durst und freut sich lautstark über das folgende Bäuerchen. Ich wundere mich nicht besonders – irgendwie passt es nur zu gut ins Gesamtbild. Ich mache einen schlechten Scherz und er lacht ausgiebig. Seine Hand wandert über meinen Rücken, bis sein Arm meine Schultern umklammert. Er lässt Freundschaftsbekundungen los, in seinen Augen blinkt ein Funke und seinem Mund entweichen Worte, die mir den Magen umdrehen. Was hat er vor? – Was er vorhat, drückt seine Hand auf meinem Oberschenkel unmissverständlich aus … nein, diese Geschichte ist nicht meine. War es überhaupt eine gute Idee in diese Kneipe zu gehen? – Ich bleibe lieber draußen in der Kälte vor der „Reibekuchenecke“. Ein Hotel werde ich suchen. Ein Bett, fremd, ein Tisch, fremd – im Spiegel über dem Waschbecken liegt doch etwas Vertrautes – mein Gesicht. Wie sehe ich aus? – Zu normal, um stolz oder enttäuscht zu sein.

VI
Am Morgen wache ich auf. Das Zimmer sieht bei Tageslicht viel schäbiger aus. Ich nehme mein Schreibbuch und notiere: Liebe und Gott fehlen.
Nach einem leichten Frühstück verlasse ich das Hotel und begebe mich auf die Suche nach meiner Geschichte.
In der Fußgängerzone ist es recht leer. Ein paar schwänzende Schüler schlendern durch die Läden. Selbstständige und Hausfrauen, Arbeitslose und Millionäre bummeln geschäftig. Was ihnen allen eigen ist, sind die gesenkten Augen, die flinken Daumen – beides auf einen Bildschirm fixiert. Sie sind online. Vernetzt. Doch ich kann nicht einmal Kritik üben und meinen freien Zeigefinger schwingen – ich hatte noch nie ein Smartphone in den Händen und will mir kein Vorurteil bilden. Leben und surfen lassen. Doch das Netz scheint uns langsam gänzlich einzuschließen; es ist überall und wird immer unsichtbarer, die Fäden immer dünner und leistungsstärker. Sie leiten Informationen – für uns und über uns – verschmelzen mit unserem Wesen und dann … sie sitzt auf einer Bank und liest ein Buch. Es ist tatsächlich ein gedrucktes Buch, das sie in den Händen hält, kein E-Reader, kein Tablet oder Smartphone. Ich kann nicht genau erkennen, wie der Titel ist, also komme ich näher, setze mich neben sie und lese: „Sputnik Sweetheart“. Was für ein Zufall, ich kenne das Buch tatsächlich. Vor ein paar Monaten war es mir wie zufällig in die Hände gefallen, als ich auf einem Flohmarkt träumend durch die Gegend schlenderte. „Hey, Sie da!“, rief der Verkäufer mir zu. „Haben 50 Cent über? Ich habe etwas für Sie.“ Dabei hielt er das Buch in der Rechten und winke damit durch die Luft. So erstand ich Sputnik Sweetheart von Haruki Murakami und las es wenige Tage später. Das war erst der Anfang meiner Murakami-Reise. Ich las jeden Roman, den ich von ihm bekommen konnte. Sogar ein Buch über das Laufen, das mich schließlich dazu motiviert hatte, mit dem Laufen zu beginnen.
Sie schaut flüchtig zu mir, liest dann weiter. Und ich … kein Gedanke schafft es mich zu verunsichern, mein Kopf ist leer, leicht und locker gehen die Worte zwischen meinen Lippen hindurch und klingen wunderbar unbedacht und ehrlich, als ich mich sagen höre: „Murakami ist wie ein Traum.“
Sie schaut mich verwundert an. Überraschung liegt in ihrem Blick, der im ersten Moment offenbart, dass sie nicht weiß, wovon und wieso ich überhaupt rede. Ihre braunen Augen werden groß und größer, die Brauen sind leicht hochgezogen.
„Bitte was?“, fragt sie.
Ich deute mit dem Finger auf das Buch und sage: „Er kann toll schreiben, aber ich finde es schade, dass er es nur selten schafft, eine perfekte Geschichte zu kreieren.“
„Und wer beurteilt, was perfekt und was nicht perfekt ist?“, protestiert sie.
„Na ja“, schaffe ich mir Zeit zum Überlegen, „er schlängelt sich oft mit dem Traummotiv aus brenzligen Situationen und lässt manche Frage offen.“
„Was genau meinst du?“, fragt sie mit einem kritisch neugierigen Ton in der Stimme.
„Ich will dir nicht das Ende des Buches verraten …“ – „Ich kenne es schon, lese es zum zweiten Mal, weil's so toll ist“, unterbricht sie mich, lächelt leise, zieht die Schultern hoch und verleiht mit dem linken Daumen ihrer Aussage Nachdruck.
„Okay, dann kann ich ja offen reden. Schau mal, dass er dauernd Träume einbaut, wenn es nicht mehr weitergeht oder zu kompliziert wird … das ist doch fantasielos.“
„Aber gerade das macht doch das Wunderbare an ihm aus“, sagt sie. „Er lässt zwei Welten verschmelzen und man weiß nicht mehr, was wahr und was erfunden ist. Außerdem macht er es sehr souverän und schlüssig, wie ich finde. Seine Figuren sind so konzipiert, dass ihnen das Träumen eher als das wahre Leben liegt.“
Im Bann ihrer Aussage versuche ich etwas Sinnvolles zu kontern, doch sage wie automatisch „Konzipiert … das ist ein schönes Wort.“
Sie lächelt verlegen, sagt dann: „Ich stelle mir manchmal vor, wie es wäre, eine Figur in seinem Roman zu sein. Wie würde er mich beschreiben, welche Metaphern würden mein Tun bezeichnen?“ Ihr Blick liegt auf dem hellgrünen Cover des Buchs. Sie nimmt es in die rechte Hand und lässt die Finger ihrer linken Hand über die Seiten gleiten, elegant wie eine weiße Möwe über einem schlafenden Meer.
„Wie ist dein Name?“, frage ich.
„Weißt du es nicht schon längst?“, antwortet sie und schaut mich fordernd an. Ich erwidere ihren Blick und lächle unwillkürlich. Nein, Willkür ist es nicht. Schon eher eine zu glatte Romanze, die mir zu entgleiten droht. Und warnend fragt meine Heldin dazwischen, versucht noch etwas zu retten, doch das ist mir egal. Ich will es so.
„Nein, woher soll ich wissen, wie du heißt?“, frage ich treudoof.
„Lassen wir das mit den Namen. Was nützen sie schon? – Nur Buchstaben. Ich will dich nicht anlügen.“
„Kennst du andere Bücher von Murakami“, frage ich.
„Frag mich lieber, welche Bücher ich nicht von ihm kenne“, sagt sie ironisch mit einem frechen Grinsen auf den Lippen, bei dem sich kleine Fältchen um ihre Augen bilden. – Kleinen Fächern gleich.
Ich sehe sie an und weiß nicht mehr, was ich sagen soll.
Dieser Moment entbehrt aller Worte und ich habe das Gefühl, dass sie auch so denkt. Ob Traum oder echt ist gerade wirklich egal. – Das wird meine Geschichte sein.

VII
Die Sterne. Zu ihnen aufgestiegen, möchte man nie wieder in die dunkle Welt hinunter. Ob Träumer oder Realist, ob klein oder groß, ob Mann oder Frau – alle schauen irgendwann nach oben und fragen sich … was?, ich weiß es nicht. Jeder fragt etwas anderes, doch es sind diese Sekunden, die uns frei machen, die uns erheben, uns von allen weltlichen Sorgen erlösen.
Jeder ist einsam, jeder hat Fragen, die er sich nicht zu stellen wagt, denen er sich nicht zu stellen wagt, und die er lange mit sich herumträgt. Man kann nicht alles erklären und vielleicht sollte man es auch nicht versuchen. Wir sind viel mehr, als ein Verstand fassen kann. Wir sind nicht umsonst hier unten, und leiden und lieben und erleben die Zeitspanne, die uns gegeben wurde, so gut wir können. Manche wollen sie nur hinter sich bringen, manche wollen glänzen, andere wollen nur ruhig und friedlich leben und fragen sich nicht, welchen Sinn das Leben hat. Vielleicht gibt es auch keinen Sinn, vielleicht ist alles Zufall und wir erfinden nur Erklärungen, um uns zu beruhigen, um uns aus dem Chaos zu erheben und mehr zu sein als Willkür. Wer will es uns verübeln? Wir sind alle nur Menschen und schaffen uns unsere Wahrheit, so gut wir können und hoffen, dass sie überlebt und besteht in einer kalten Welt voller Tiere, die zu viel nachdenken und vergessen, zu fühlen. Gefühl – das ist das, was uns zu Menschen macht. Gefühl im Herzen und im Kopf – Fantasie, ein Traum, den wir selbst träumen und gestalten, aufschreiben und festhalten. Wir waren da, wir haben gelebt, erzählt und geträumt. Wir sind Sterne. So viele, so verschiedene und weit entfernte, sich suchende und einsame Sterne, die hinausziehen, zwischen Tag und Nacht, und hoffen, dass sie etwas finden, jemanden finden, dass ihre Geschichte nicht ungehört bleibt, auch wenn diese Geschichte erst noch geschrieben werden will.
Wenn Zufall und Schicksal sich die Hand reichen und wir dazwischen hoffen, das Richtige zu erleben.
 



 
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