Wenn der Briefträger keinmal klingelt

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Timaro

Mitglied
Herr Sonderegger ist ein zuverlässiger, pünktlicher Briefträger, welcher sich im ganzen Quartier grosser Beliebtheit erfreut. Ich mochte ihn auch. Früher. Ein eingeschriebener Brief hat die Beziehung zwischen uns nachhaltig verändert.

Am ersten Tag, als es zwischen uns zu kriseln beginnt, warte ich ungeduldig, nägelkauend und fast schon etwas verzweifelt auf das Klingeln von Herrn Sonderegger, welches die Ankunft des für mich so wichtigen,eingeschriebenen Briefes ankündigen soll. Es geschieht nichts. Kein Klingeln, kein Herrn Sonderegger, kein eingeschriebener Brief. Nichts.
Beim späteren Durchsehen meiner Post entdecke ich eine Abholungseinladung für eine Einschreibsendung. Dieser zuverlässige, allseits so beliebte Postbote hat nicht geläutet. Hat bei mir nicht geläutet. Ich fühle mich persönlich angegriffen. Ein Griff zum Telefonhörer, die Nummer vom Zustellamt gewählt und schon habe ich den Anrufbeantworter am anderen Ende der Leitung.
“Bitte haben Sie etwas Geduld...Ihr Anruf ist uns wichtig....sie befinden sich in der Warteschlaufe auf Position 175.” Zwei Minuten später habe ich mich um zwei Ränge auf “173” hochgearbeitet. Meine Geduld hat sich ausbezahlt. Am nächsten Morgen, nachdem ich mich übers Natel bei meinem Arbeitgeber krankgemeldet habe (schließlich will ich Position 13 nicht gefährden), komme ich dem Podest langsam, aber stetig näher.
“Zustellamt St.Gallen, Brülisauer”. Ich werde aus meinen Träumen gerissen. Ich habe es geschafft !
Fast schon euphorisch ob meiner erfolgreichen Beharrlichkeit schildere ich Herrn Brülisauer meinen Wunsch nach Zweitzustellung meines eingeschriebenen Briefes. Um meinen allseits beliebten Pöstler Herr Sonderegger bei seinen Vorgesetzten nicht zu diskreditieren, erwähne ich nichts von dessen Versagen.

Wieder warte ich...und warte....,diesmal dicht bei der Wohnungstüre, mit einem Ohr an der Türglocke, mit dem anderen in Richtung Anfahrtsweg meines Briefträgers. Eine halbe Stunde später halte ich die zweite Abholungseinladung für denselben Brief in den Händen. Ich spüre einen gewissen Zorn in mir aufsteigen. Zuerst telefoniere ich mit meinem Arbeitgeber, um mich für einen weiteren Tag krankzumelden und reihe mich anschliessend in Position 233 in der Warteschlange ein.
Wenige Stunden später spreche ich wieder mit Herrn Brüliauer. Diesmal deute ich zumindest an, dass ich in diesem speziellen Fall nicht ganz auf derselben Linie mit Herrn Sonderegger stehe. Ich bekräftige aber auch meine grundsätzliche Zufriedenheit mit der Postzustellung. Meiner Bitte um Drittzustellung der Sendung wird entsprochen.

Diesmal warte ich gleich bei den Briefkästen und reihe mich schon mal telefonisch in die Warteschlange beim Zustellamt ein. Herr Sonderegger muss den Moment, als ich verklärt und glücklich ob dem Sprung von Position 443 auf Position 441 vor mich hintriumphiert habe, dazu genutzt haben, die Abholungseinladung zu schreiben und zusammen mit meiner Post in den Briefkasten zu stecken.

Zwei Wochen später (die Arbeitsstelle wurde mir zwischenzeitlich gekündigt) stehe ich, mit dem Handy am Ohr (auf Position 1763) beim Ausgang des Postamtes, um Herr Sonderegger beim Verlassen des Gebäudes persönlich zu stellen.

Weitere zwei Wochen später sitze ich in einem leicht verdunkelten Raum. Man sagte mir, dass es einige Zeit dauern könne, bis ich, dank den Medikamenten und dem steten Reizüberflutungsabbau, als ersten Schritt wieder alleine in die Cafeteria dürfe.
Nach der Entlassung werde ich mein Leben von Grund auf ändern: Als erstes nehme ich mir ein Postfach.
 
L

Lotte Werther

Gast
An Timaro

Schön schräg, deine Geschichte. Flüssig geschrieben und durch sprachliches Lokalkolorit noch sympathischer.

Sie hat mich an Ionescus "Kahle Sängerin" erinnert, wo die Türklingel und der Postbote auch in Relation und dann ad absurdum geführt werden.

Nur umgekehrt. Es klingelt dreimal ...

Lotte Werther
 

Timaro

Mitglied
Hoi Lotte

Vielen Dank für’s Lesen und deinen Kommentar ! “Lokalkolorit” musste ich doch gleich mal nachschauen. Jetzt habe ich wieder etwas gelernt. :)
Ich persönlich läute ja zweimal, mit anderen Worten, fehlt nun noch das gute, alte "einmal läuten". ;)

Danke für die Zeit, die du dir genommen hast !

Liebe Grüsse Rolf
 



 
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