Wenn es rosa wird

itsme

Mitglied
Nur wenige Kilometer entfernt, und wenn man eine gute Wegbeschreibung bekommt, auch bequem erreichbar, gibt es in einem schmalen Tal, an einem Bachlauf eine kleine Ansiedlung, die gerade mal aus fünf Häusern besteht, wenn man die Hühnerställe und Schuppen nicht mitzählt. Die Straße, über die man fahren muß, ist dicht gesäumt von Holunder und Ebereschen. Ja, sie ist fast überwuchert davon, und so schmal, daß sich eigentlich nur Zweiräder ungefährdet begegnen können.

In dem kleinsten der fünf Häuser wohnt Andreas seit einiger Zeit. Wie er genau an dieses Haus gekommen ist, muß eine ziemlich verrückte Geschichte sein. Fragt man ihn danach, lächelt er vielsagend und sagt, es sei ihm zugelaufen. Es ist bestimmt älter als die Straße und die ältesten Bäume auf den Hügeln ringsum. Die angegraute weiße Farbe an den Außenwänden hält nur noch mühsam den bröckeligen Putz zusammen. Die Tonziegeln auf dem Dach, die mal leuchtend rot waren, streben der Auflösung entgegen. Das schönste an dem Haus, sagt Andreas, ist die Obstwiese hinter dem Haus. Dort wachsen Apfel- und Kirsch-, Aprikosen- und Mirabellenbäume, ja sogar ein Orangenbaum. Andreas schwört nie bessere Orangen gegessen zu haben. Für Andreas gibt es an diesem Haus viel "Das schönste". Im Obergeschoß des Hauses befinden sich zwei Schlafräume. Nach Süden liegt das Bergwaldzimmer, weil man auf Laubwald blickt, der eine steilere Flanke des Talhanges bedeckt nennt er es so. Ein Ausblick in ein Märchenland, besonders abends im frühen Sommer, wenn die Sonne bereits unter die Baumkronen versunken ist, und warmes Licht durch die Wipfel schimmert. Es träumt sich leicht mit einem solchen Ausblick.

Aber trotzdem, Andreas bevorzugt das Schlafzimmer auf der anderen Seite des Hauses. Für ihn ist es das rosa Zimmer. Es heißt nicht so, weil die Wände darin rosa gestrichen sind. Sind sie es nämlich garnicht. Rosa Zimmer hat er es getauft, weil..... halt, warten wir noch einen Moment mit der Erklärung. Jedenfalls kann er von hier aus fast bis zum Anfang des kleinen Tales schauen. Und er tut das oft, wenn er auf Paula wartet. Er schaut dann aus dem Fenster, den Kopf in die Hände gestützt, blickt über die Wiesen und Felder zur Straße, die sich das Tal entlang schlängelt. Manchmal hat er Glück, und er entdeckt sie bereits, wenn sie mit ihrem kleinen roten Auto in die Talstraße einbiegt. Im Spätherbst und im Winter, wenn die Büsche und Bäume an der Straße kein Laub tragen, kann er sie auf dem letzten Stück ihres Weges begleiten. Besucht sie ihn während der grünen Jahreszeiten, springt sein Blick von Lücke zu Lücke im Bewuchs an der Straße. Er kennt jede Lücke, und er würde niemals den Farbtupfer, der für Sekundenbruchteile in den Lücken sichtbar wird, mit einem anderen Auto verwechseln. Nein, das Auto ist rot und nicht rosa lackiert.

Für seinen Geschmack besucht ihn Paula viel zu selten. Und wenn, will er eben keine Sekunde verpassen. Er fühlt sich Paula ja immer nahe, nur etwas näher noch, wenn er sie auf dem Weg zu sich weiß, und wenn sie dann in das Tal einbiegt.... Ob sie auch lächelt? Dabei ist Paula eine ganz und gar unmögliche Person. Sie mag nicht mal seine Orangen, auch nicht im Kuchen. Und wenn er ihr von dem rosa Zimmer erzählen würde; sie würde ihn auslachen. Nein, davon darf er nicht sprechen. Schon Stunden vor ihrer Ankunft rückt er den alten Schreibtischstuhl zurecht. Der leere Aschenbecher steht auf der Fensterbank, bereit für viele Kippen. Ein Fernglas benutzt er nicht. Er ist schließlich kein Jäger. Jedes Blatt, jeden Halm, jeden Maulwurfshügel bis zum Ende des Tales kennt er auch so. Er ist halt ganz schön kindisch? ....versponnen? ....skurril? Egal, er fürchtet nur den Tag, an dem er es nicht mehr tut. Paula bleibt, wenn sie ihn besucht, einen Tag oder länger. It depends. Wovon? Sie weiß das oft selbst nicht.

Fährt sie wieder, hinterläßt sie Fragen, Aufruhr, Glücksgefühle, Trauer; das eine, das andere oder eine bunte Mischung aus allem.

Fährt sie wieder, würde er am liebsten Türen und Fenster versiegeln, damit die Luft, die sie geatmet hat, nicht verloren geht in seinem Haus.

Fährt sie wieder, schaut er ihr nach aus dem rosa Zimmer, und dann geht er auf die Wiese hinter dem Haus, zu den Obstbäumen, weil er die Leere im Haus nicht erträgt. Doch das soll niemals aufhören, das mit Paula. Es ist gut so wie es ist.

Ist er schlecht drauf, dann, wenn sie nicht bei ihm ist, kann der Blick auf den Wald, und die Sonne dahinter ihn nicht aufheitern, selbst seine Orangen nicht. Dann rückt er sich im rosa Zimmer den Stuhl zurecht, stellt neben den Aschenbecher eine Flasche Wein, und schaut so lange aus dem Fenster, bis die Bonbon rosa Gardinen des Nachbarhauses abfärben auf die Mais- und Kartoffelfelder, auf die Büsche und Bäume, die Wiesen und Maulwurfshügel, bis er rosa Orangen in seinem Garten sieht, und selbst die Wolken am Himmel sich einfärben. Warum sollte nicht eines der rosa Autos, die für Augenblicke auf der Straße erkennbar werden, das ihre sein. Manchmal sind auch zwei Flaschen Wein geleert, bevor es rosa wird, bevor schließlich alles rosa wird.
 
W

willow

Gast
Hallo,

eine wirklich schön erzählte Geschichte. Vor allem der Erzählstil ist interessant, wie aus dem Leben, aus einem Gespräch, nur eben besser. Was ich sehr geschickt finde ist, die Erklärung für das "rosa" Zimmer anzubieten und dann einen Umweg zu schlagen. Statt den Leser weiterzuführen, führst du ihn damit erst einmal wieder zurück. Das wirkt echt und ungezwungen. Ich liebe es, wenn jemand mir eine Geschichte so erzählt, das macht sie spannend und ich versuche automatisch zu raten, bis dann am Ende die Erklärung kommt. Allein über Paula hätte ich gerne noch ein kleines bisschen mehr erfahren, aber ich schätze, das geht Andreas ganz genauso ;)!

Lieber Gruß,

willow
 

itsme

Mitglied
rehallo verehrte willow

Danke :) .....

Richtig, Andreas geht es wie dir. "Du fragst zu viel", könnte Paula irgendwann gesagt haben. "Sei geduldig mit mir und verlass dich auf dein Gefühl." Er liebt und er leidet. Er fühlt Verbundenheit, aber auch Abgrenzung. Paula ist halt eine sehr eigenwillige Person, autonom, aber nicht Femme fatale. Angedeutet habe ich das ja. Liefert nicht gerade der Kontrast ein besonderes Gefühl von Lebendigkeit? .... oder er zerstört.

In Kurzgeschichten liefere ich gerne gerade so viel von den Persönlichkeiten der Protagonisten wie notwendig, um dem Leser Spielmaterial für eigene Ausdeutungen oder Weitungen zur Verfügung zu stellen. Figuren wie Andreas und Paula wird es in meinen Geschichten immer wieder geben.

Ein lieber Gruß
itsme
 



 
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