Wetterumschwung

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Wetterumschwung

Wenn sie den rechten Arm ausstreckte, konnte sie den Himmel berühren. Er fühlte sich zart an, ein Schleier aus geflochtenen Wolken. Und kalt war er, Eis war nicht kälter.
Durch den Fensterspalt wehte ein Frühlingswind und ließ den Winterhimmel schmelzen. Er rann in schmalen Spuren über ihre Wangen und näßte den Halsausschnitt ihres T-Shirts.
Manchmal war sie morgens traurig.
Ein langer Weg, den sie morgens hatte. Vom Bett zum Schrank, vom Schrank zum Bad, vom Bad zum Küchentisch. Auf dem Weg zum Schrank ließ sie ihre Träume hinter sich, zerwühlte Bettlaken ohne wärmenden Inhalt. Auf dem Weg zum Bad faltete sie ihre Phantasie auf die Größe eines Taschentuchs zusammen, das sie in der Hosentasche verschwinden ließ. Mehrere Male hatte sie es vergessen und in der 40 Grad Wäsche mitgewaschen, deshalb war es schon ein bißchen löchrig geworden und ließ sich abends manchmal nicht mehr auffalten. Ihre Kreativität sperrte sie in das Badezimmer. Immer öfter fing sie an, zu quengeln und wollte mit zur Arbeit genommen werden. Das ging nicht, Kreativität war auf der Arbeit nicht erlaubt. Sie drehte den Schlüssel zweimal um. Hinter der Tür hörte sie ein leises Weinen. Ein langer Weg. Sie bestrich ein Toast mit Butter und Marmelade, steckte eine Flasche Wasser in den schwarzen Rucksack und schaltete das Radio an. Fünf Minuten Musik, um einen Mundwinkel nach oben zu bekommen. Der andere hing. Vielleicht würde Gesichtbügeln helfen. Über der Idee fing sie an, zu lachen. Ein paar Sekunden konnte sie den Mundwinkel oben halten, dann rutschte er in eine endgültige Position zurück. Sie mußte sich beeilen, um den Bus noch zu kriegen.
Die Landschaft rauschte an ihr vorbei. Da waren viele Zäune, die verhinderten, daß die Felder fett wurden, und kleine Feldbäche, die sich an Straßensäumen schmerzhaft verengten. Das Gras war cholesterinüberdüngt. Häuser bekamen puterrote Köpfe und atmeten mühsam durch viel zu kleine Fenster. Alles stand kurz vor dem Herzschlag. Ihr wurde übel, sie wandte sich vom Plastikfenster ab und starrte auf den Boden. Sie starrte noch auf den Boden, als sie ausstieg. Sie lief über einen Plattenweg in der Fußgängerzone. Zwei Jugendliche mit Nike-Turnschuhen rempelten sie an.
Da lagen viele plattgetretene Kaugummis. Auf den dunklen Platten sahen sie aus, wie Wolken an einem Winterhimmel. Sie mußte das Taschentuch aus der Hosentasche ziehen und sich die Nase putzen. Sie blickte nach oben und sah eine gelbe Leuchtreklame. Nagelstudio, stand da. Hinter der beklebten Glasscheibe saß eine ältere rosagekleidete Frau und lackierte sich die Fingernägel. Die Farbe war, sie trat näher, die Farbe war pink. Sie schaute auf ihre eigenen Fingernägel. Nichtssagender Klarlack. Auf der Computertastatur konnte sie ihre Finger tagtäglich verfolgen. Wie sie von Buchstabe zu Buchstabe klapperten, ohne Schattenwurf, dafür waren sie zu schnell. Sie hinterließen nichts. Nicht mal Tintenflecke. Es klingelte leise, als sie eintrat. Ein Gemisch aus Aceton und Lavendel schlug ihr entgegen. Die rosafarbene Dame blickte auf und lächelte ihr zu.
„Guten Tag“, sagte sie, „ich dachte, sie kommen nicht mehr.“
„Wie bitte?“
„Ich habe sie da draußen schon eine ganze Weile beobachtet, aber sie sahen aus, als wollten sie weiter gehen.“
„Ach so, also... nein.“ Sie blickte sich im Raum um und betrachtet eine Reihe von Bildern und Fotos mit bunten Fingernägeln. Manche waren einfach lackiert, aber es gab auch welche, die mit Glitzerpulver bestreut waren und verschiedene Farben und Motive hatten.
Die rosa Frau drehte das pinkfarbene Nagellackfläschchen zu und wedelte ihre Finger durch die Luft.
„An was hatten sie denn gedacht?“
Sie blieb vor einem Foto stehen. „Vielleicht so was?“
„Nein“, sagte die Frau, „das ist viel zu grell für sie. Oder arbeiten sie in einer Tanzbar.“
Sie blickte an sich hinunter, braune Lederschuhe ohne Absatz, schwarze Jeanshose, darüber eine dunkelblaue Jacke aus Cordstoff. Nichts an ihr sah irgendwie nach Tanzbar aus.
„Also, ich lackiere Nägel individuell“, sagte die rosa Frau und wirkte dabei ganz individuell in ihrem pastellfarbenen Kleid mit Rüschen am Ärmel. Sie stand auf und ging hinter einen Vorhang.
Wenn ich schnell bin, bin ich weg, dachte sie, und komme pünktlich.
Der Vorhang raschelte, als die rosa Frau zurück kam. Sie trug einen Kasten mit vielen kleinen Fächern. Auf der einen Seite lagen in jedem Fach künstliche Fingernägel in verschiedenen Größen und Formen, auf der anderen Seite waren kleine Glitzersterne und –herzen und Sachen, die man früher mal in Poesiealben geklebt hatte.
„Setzen sie sich doch, ich hole noch eine Auswahl von Nagellacken.“
Sie nahm ihren Rucksack ab und setzte sich auf einen gelben Plastikschalenstuhl. Auf dem Tisch stand ein Telefon, daneben lag eine Zigarettenspitze und ein Block mit kleinen Zeichnungen von Landschaften. Früher hatte sie auch mal gemalt. Die Landschaften gefielen ihr gut, sie waren winzig aber man konnte alles erkennen, Bäume und das Meer und die Wolken.
„So!“, sagte die Frau und setzte sich ihr gegenüber. Sie stellte eine Palette mit verschiedenen Nagellackfarben auf dem Tisch ab. „Haben sie sich für etwas entschieden?“
„Was würden sie mir den vorschlagen?“
Die rosafarbene Frau lächelte und griff nach ihren Händen. „Sie haben schöne Hände. Und kräftige Fingernägel“, sagte sie. „Sie inspirieren mich. Könnte ich etwas an ihnen ausprobieren?“
Sie wurde rot. „Ja“, sagte sie, „von mir aus.“
„Sie müssen auch nur den halben Preis bezahlen“, sagte die Frau, „weil es ein Versuch ist.“
Sie träufelte etwas Nagellackentferner auf einen Wattebausch und nahm den farblosen Lack von ihren Nägeln. Dann schob sie die Nagelhaut mit einem Orangenholzstäbchen nach hinten. „So“, sagte sie, „dann wollen wir mal!“
Sie schraubte Fläschchen mit blau und grau auf, und silber, weiß und goldgelb. Erst lackierte sie eine Schicht Unterlack auf die linke und rechte Hand, dann kam eine Schicht blau mit etwas silber, aber nur an einigen Nägeln, manche ließ sie aus, nahm etwas dunkelblau und griff dann zum weiß, auf dem Daumennagel benutzte sie den goldgelben Lack.
Zwischendurch trocknete sie die Schichten mit einem Warmluftfön, der ihre Hände aufwärmte, so daß sie prickelten. „Sie haben wirklich schöne und gesunde Fingernägel!“, sagte sie nebenbei, „Sonst klebe ich oft künstliche Nägel an, aber bei ihnen ist das nicht nötig.“
„Jetzt noch eine Schicht Überlack, dann bin ich fertig!“, sagte sie nach einer Weile und strich sich das graumelierte Haar zurück. Ihre Wimpertusche war unter dem linken Auge etwas verlaufen. Sie fönte über die Hände, betrachtete die Nägel prüfend und schnalzte mir der Zunge. „Gar nicht schlecht“, murmelte sie, „wirklich gar nicht schlecht!“ „So, fertig!“, sagte sie einen Moment später. „Schauen sie doch.“

Sie hat mir einen Himmel auf die Hände gezaubert, dachte sie und betrachtete ihre Fingernägel. Einen Winterwolkenhimmel.
„Hier habe ich die Sonne gemalt“, sagte die rosafarbene Frau und zeigte auf ihren rechten Daumen. „Wissen sie, ohne Sonne wäre es zu eintönig gewesen. Ich hoffe, es gefällt ihnen.“ „Warum weinen sie denn?“, fügte sie dann hastig hinzu, als sie sah, wie die Tränen auf ihre Cordjacke hinuntertropften. „Gefällt es ihnen nicht? Soll ich es wieder ablackieren?“
„Nein!“, sagte sie und wischte die Tränen ab, „nein, lassen sie es so, ich finde es schön. Sie haben das ganz toll gemacht.“
Die rosa Frau blickte sie aufmerksam an, wie sie ihr Taschentuch aus der Hose holte und sich die Nase putzte. „Wissen sie“, sagte die rosa Frau und betrachtete das zerfledderte Taschentuch, „sie sehen etwas verloren aus. Gehen sie nach Hause und tun sie sich etwas Gutes. Bei mir hilft manchmal schon eine heiße Schokolade.“ Sie lächelte ihr aufmunternd zu und wühlte dann in der Tasche ihres Rüschenkleides. „Hier!“, sagte sie, „nehmen sie das!“ Sie drückte ihr eine Packung Taschentücher in die Hand und schob sie zur Tür. „Das Lackieren war kostenlos. Kommen sie wieder, wenn der Lack abblättert, ich würde mich freuen.“ Die Ladenglocke läutete leise. Dann stand sie außen, vor der großen bunten Fensterscheibe und setzte ihren Rucksack auf. Die rosa Frau winkte ihr zu und verschwand hinter dem Vorhang.

Sie setzte sich in Bewegung. Die Packung Taschentücher hielt sie mit der Hand umklammert. Sie preßte sich fest in ihre Handfläche. Nach ein paar Schritten blieb sie stehen und zog die Packung aus der Jackentasche. Das Silber auf den Nägeln blitzte. Sie zog ein schneeweißes Taschentuch heraus und schüttelte es auf. Der Wind griff hinein. Es blähte sich auf und flatterte wie eine Fahne. Lange betrachtete sie es. Dann öffnete sie die Winterhimmelfinger und es flog fort. Sie sah ihm nach, wie es fortflog, durch die Straße tanzte und immer höher, über die Dächer sprang. Die Sonne auf ihren Nägeln entflammte und schnitt die graue Luft in Streifen. Sie lachte.
Daheim sprang eine Tür auf, Wind fegte durch die leeren Laken und füllte sie mit warmer Frühlingsluft.


Für meine liebe Kristina zum Geburtstag
 

GabiSils

Mitglied
Liebe Friederike,

ein beeindruckender Text, sprachlich schön, und am Shcluß möchte ich mit"ihr" befreit lachen. Danke!

Gabi
 
A

annabelle g.

Gast
liebe friederike,

ein schöner text, mit einem feuerwerk an einfällen.

viele grüße von annabelle
(mit langweiligen klarlackfingernägeln)
 



 
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