Wie alles begann oder der verhängnisvolle Karneval
Das ist das erste "Kapitel" aus einer geplanten Serie unter dem Arbeitstitel "Wie wird man sein Haus los".
Wie alles begann, oder der verhängnisvolle Karneval
Draußen rollt der Karneval über das Rheinland. Die wunderschöne närrische Zeit, die uns jeden Wunsch erfüllt und jeden Streich erlaubt. In der fünften Jahreszeit werden unsere Träume wahr. Wir sind Indianer und reiten auf heißen Pferden durch die endlose Prärie, oder wir sind Sternenkrieger und fuchteln mit den Laser-Schwertern, oder wir sind Massenmörder und meucheln in der Gegend herum. Alles ist möglich. Ich, zum Beispiel, sitze nun in meinem kleinen Arbeitszimmer. Eben hat sich das nächste Putzstück von der Wand abgelöst und ist auf die zerkratzten Dielen gekracht. Von so einem Haus: mit Wänden aus Bruchsteinen, einem Schieferdach und kleinen Fenstern ohne Isolierglas, von genau so einem Haus habe ich auch mal geträumt. Nicht direkt von dem rieselnden Putz, doch das ist schon Nebensache. Und ausgerechnet der Karneval hat mir diesen Wunsch meines Lebens erfüllt. Die tief empfundene Dankbarkeit bewegte mich zu diesem Buch.
Es wird die Geschichte meines Lebens sein. Erschreckt euch nicht. Ich habe nicht vor, über meine ersten Schritte in dieser Welt, meine ersten Schultage, erste sexuellen Erfahrungen und erste Zigarette zu berichten. Nein, ich werde euch nur über ein Jahr berichten. Und dieses Jahr begann mit dem Karneval. Deckt sich irgendwie mit der chinesischen Zeitrechnung, bei denen beginnt das Jahr doch auch im Februar, oder liege ich falsch?
Egal. Also, Karneval. Wisst ihr, was Kölner Karneval ist? Wir wussten es auch, theoretisch. Bis vor einem Jahr. Damals hatten wir nämlich beschlossen, diese wunderbare Show auch mal zu erleben. Und wir taten es auch. Züge, Umzüge, das wilde Trommeln in den Lautsprechern und im nächsten Moment ohrenbetäubende Technomusik. Und natürlich Kamellen. Es war kalt im Februar. Versteht ihr, worauf ich hinaus will? Nein? Dann werde ich auf diesen Punkt genauer eingehen, denn der ist wohl der entscheidende Punkt in der ganzen Leidensgeschichte. Nach den äußerst sinnvoll verbrachten Tagen waren unsere Abende mit wärmenden Getränken gefüllt, ausschließlich mit hohem Alkoholgehalt. Denn nichts erwärmt die steifen Glieder und belebt die müden Sinne wie ein Schnäpsle. Zwei tun das noch besser. Bei drei bist du ein ganz anderer Mensch, was auch gut ist, aber nicht immer. Das letztere war gerade unser Fall. Aber darüber später.
Es war Rosenmontag. Das weiß ich noch genau. Wie immer saßen wir bei den Freunden, aßen und tranken. Was kann man sonst bei den Freunden machen? Mir fällt da nichts ein. Was wir tranken, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich alles, was in diesem gastfreundlichen Haus an Resten noch übrig blieb. Gegessen hatten wir die vorhin gesammelten Kamellen. Es war ein schöner Abend, und es wurde spät.
Die Uhr schlug Mitternacht und mit ihrem letzten Schlag öffnete sich plötzlich die Seele meines Mannes. Man muss dazu sagen, er hat eine russische Seele. Alles umfassend, mit allem mitleidend, wehmütig, und so weiter und so weiter. Kurz all das, was man unter einer russischen Seele versteht. Und diese Seele schmerzte. Nach unendlichen Weiten hatte sie sich gesehnt, nach verschneiten Hügeln und einfachem Leben, fern von der profitgierigen Hektik des Alltags.
„Ich wünsche mir ein Haus“, klagte Jakob, mein Mann. „Irgendwo weit-weit weg, weiß nicht…“ Er verstummte und betrachtete konzentriert die leer getrunkene Weinflasche. Der Herr des Hauses nahm die Flasche vom Tisch und stellte sie zu den anderen, großen und kleinen, dicken und dünnen, die sich bereits stolz in einer Ecke aufreihten. Dann stand der gute Mann auf und verschwand wackelnd in der Küche, um kurze Zeit später mit der nächsten Pulle und einer Zeitung in der Hand zu erscheinen. Die trübe Flüssigkeit schwappte in der Flasche und versprach uns weitere gemütliche Stündchen. Die Zeitung legte er vor Jakob.
„Schau sie dir mal an“, sagte er. „Falls mich nicht alles täuscht, waren da ein paar Höfe angeboten, die zu deinem „weit-weit-weg“ passen würden.“
Jakob fing an zu lesen. Zuerst las er kopfüber. Zum Glück, oder Unglück?, bemerkte er das bald und drehte das Blatt um.
„Da-da-da-leiden“, stammelte mein Gatte.
„Hier wird nicht gelitten!“, mischte sich die Frau des Hauses ein.
„Was?“ Jakob blickte hoch. Die Dame schob ihm das bis zum Rande gefüllte Schnapsglas.
„Hier wird nicht gelitten“, wiederholte sie.
Jakob trank in einem Schluck und blinzelte.
„Wo liegt Daleiden“, fragte er mit klarer Stimme.
„Zeig mal“, der Hausherr beugte sich über die Annonce.
„Haus und Waldfläche zu verkaufen“, las er laut. „Daleiden“.
Und wieder musste er aufstehen, was zu diesem Zeitpunkt für ihn recht erschwerlich wurde. Er wühlte im Bücherregal und fischte nach einiger Zeit und einigen vergeblichen Versuchen den ADAC-Atlas heraus. Dabei fielen die übrigen literarischen Schätze, wie „Hausfrauenfibel“ und „Meine Reise nach Singapur“, in sich zusammen.
Der alte Mann ignorierte die aufgewirbelte Staubwolke, ging direkt am Bücherregal in die Hocke und ließ den Staub auf sich regnen. Er war zu beschäftigt, um dies überhaupt zu bemerken. Er suchte „Daleiden“.
Wir hatten das Thema mittlerweile fast vergessen, als eine Stimme aus dem Untergrund triumphierend röhrte:
„Ich hab´s!“
„Was denn?“ fragte seine Frau verwundert.
Der Mann stand krächzend auf und knallte den Atlas auf den Tisch.
„Hier!“ er zeigte mit dem Finger auf eine dicke rote Linie, die, wie ich aus der Schulzeit noch wusste, eigentlich die Staatsgrenze darstellen sollte.
„Luks-em-bo-urg“, schaffte Jakob endlich das lange Wort, auf das sein Freund mit dem Finger zeigte, und runzelte die Stirn. „Eh?“
„Nein“, sagte dieser verärgert. „Hier!“
Wir sahen nichts.
Ich murmelte: „Aha“, und nickte, um die Suche endlich zu beenden.
Wir blieben noch eine Weile am Tisch, redeten über dies und jenes und, als unser Freund von seinem nächsten Besuch in der Küche mit leeren Händen zurückkam, beschlossen unsere Schlafplätze aufzusuchen.
In der Nacht träumte ich von den verschneiten Hügeln, die die Stadt Luxemburg zierten, und Jakob warf sich im Bett und keuchte: „Kanada, dein blauer Himmel…“
Das ist das erste "Kapitel" aus einer geplanten Serie unter dem Arbeitstitel "Wie wird man sein Haus los".
Wie alles begann, oder der verhängnisvolle Karneval
Draußen rollt der Karneval über das Rheinland. Die wunderschöne närrische Zeit, die uns jeden Wunsch erfüllt und jeden Streich erlaubt. In der fünften Jahreszeit werden unsere Träume wahr. Wir sind Indianer und reiten auf heißen Pferden durch die endlose Prärie, oder wir sind Sternenkrieger und fuchteln mit den Laser-Schwertern, oder wir sind Massenmörder und meucheln in der Gegend herum. Alles ist möglich. Ich, zum Beispiel, sitze nun in meinem kleinen Arbeitszimmer. Eben hat sich das nächste Putzstück von der Wand abgelöst und ist auf die zerkratzten Dielen gekracht. Von so einem Haus: mit Wänden aus Bruchsteinen, einem Schieferdach und kleinen Fenstern ohne Isolierglas, von genau so einem Haus habe ich auch mal geträumt. Nicht direkt von dem rieselnden Putz, doch das ist schon Nebensache. Und ausgerechnet der Karneval hat mir diesen Wunsch meines Lebens erfüllt. Die tief empfundene Dankbarkeit bewegte mich zu diesem Buch.
Es wird die Geschichte meines Lebens sein. Erschreckt euch nicht. Ich habe nicht vor, über meine ersten Schritte in dieser Welt, meine ersten Schultage, erste sexuellen Erfahrungen und erste Zigarette zu berichten. Nein, ich werde euch nur über ein Jahr berichten. Und dieses Jahr begann mit dem Karneval. Deckt sich irgendwie mit der chinesischen Zeitrechnung, bei denen beginnt das Jahr doch auch im Februar, oder liege ich falsch?
Egal. Also, Karneval. Wisst ihr, was Kölner Karneval ist? Wir wussten es auch, theoretisch. Bis vor einem Jahr. Damals hatten wir nämlich beschlossen, diese wunderbare Show auch mal zu erleben. Und wir taten es auch. Züge, Umzüge, das wilde Trommeln in den Lautsprechern und im nächsten Moment ohrenbetäubende Technomusik. Und natürlich Kamellen. Es war kalt im Februar. Versteht ihr, worauf ich hinaus will? Nein? Dann werde ich auf diesen Punkt genauer eingehen, denn der ist wohl der entscheidende Punkt in der ganzen Leidensgeschichte. Nach den äußerst sinnvoll verbrachten Tagen waren unsere Abende mit wärmenden Getränken gefüllt, ausschließlich mit hohem Alkoholgehalt. Denn nichts erwärmt die steifen Glieder und belebt die müden Sinne wie ein Schnäpsle. Zwei tun das noch besser. Bei drei bist du ein ganz anderer Mensch, was auch gut ist, aber nicht immer. Das letztere war gerade unser Fall. Aber darüber später.
Es war Rosenmontag. Das weiß ich noch genau. Wie immer saßen wir bei den Freunden, aßen und tranken. Was kann man sonst bei den Freunden machen? Mir fällt da nichts ein. Was wir tranken, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich alles, was in diesem gastfreundlichen Haus an Resten noch übrig blieb. Gegessen hatten wir die vorhin gesammelten Kamellen. Es war ein schöner Abend, und es wurde spät.
Die Uhr schlug Mitternacht und mit ihrem letzten Schlag öffnete sich plötzlich die Seele meines Mannes. Man muss dazu sagen, er hat eine russische Seele. Alles umfassend, mit allem mitleidend, wehmütig, und so weiter und so weiter. Kurz all das, was man unter einer russischen Seele versteht. Und diese Seele schmerzte. Nach unendlichen Weiten hatte sie sich gesehnt, nach verschneiten Hügeln und einfachem Leben, fern von der profitgierigen Hektik des Alltags.
„Ich wünsche mir ein Haus“, klagte Jakob, mein Mann. „Irgendwo weit-weit weg, weiß nicht…“ Er verstummte und betrachtete konzentriert die leer getrunkene Weinflasche. Der Herr des Hauses nahm die Flasche vom Tisch und stellte sie zu den anderen, großen und kleinen, dicken und dünnen, die sich bereits stolz in einer Ecke aufreihten. Dann stand der gute Mann auf und verschwand wackelnd in der Küche, um kurze Zeit später mit der nächsten Pulle und einer Zeitung in der Hand zu erscheinen. Die trübe Flüssigkeit schwappte in der Flasche und versprach uns weitere gemütliche Stündchen. Die Zeitung legte er vor Jakob.
„Schau sie dir mal an“, sagte er. „Falls mich nicht alles täuscht, waren da ein paar Höfe angeboten, die zu deinem „weit-weit-weg“ passen würden.“
Jakob fing an zu lesen. Zuerst las er kopfüber. Zum Glück, oder Unglück?, bemerkte er das bald und drehte das Blatt um.
„Da-da-da-leiden“, stammelte mein Gatte.
„Hier wird nicht gelitten!“, mischte sich die Frau des Hauses ein.
„Was?“ Jakob blickte hoch. Die Dame schob ihm das bis zum Rande gefüllte Schnapsglas.
„Hier wird nicht gelitten“, wiederholte sie.
Jakob trank in einem Schluck und blinzelte.
„Wo liegt Daleiden“, fragte er mit klarer Stimme.
„Zeig mal“, der Hausherr beugte sich über die Annonce.
„Haus und Waldfläche zu verkaufen“, las er laut. „Daleiden“.
Und wieder musste er aufstehen, was zu diesem Zeitpunkt für ihn recht erschwerlich wurde. Er wühlte im Bücherregal und fischte nach einiger Zeit und einigen vergeblichen Versuchen den ADAC-Atlas heraus. Dabei fielen die übrigen literarischen Schätze, wie „Hausfrauenfibel“ und „Meine Reise nach Singapur“, in sich zusammen.
Der alte Mann ignorierte die aufgewirbelte Staubwolke, ging direkt am Bücherregal in die Hocke und ließ den Staub auf sich regnen. Er war zu beschäftigt, um dies überhaupt zu bemerken. Er suchte „Daleiden“.
Wir hatten das Thema mittlerweile fast vergessen, als eine Stimme aus dem Untergrund triumphierend röhrte:
„Ich hab´s!“
„Was denn?“ fragte seine Frau verwundert.
Der Mann stand krächzend auf und knallte den Atlas auf den Tisch.
„Hier!“ er zeigte mit dem Finger auf eine dicke rote Linie, die, wie ich aus der Schulzeit noch wusste, eigentlich die Staatsgrenze darstellen sollte.
„Luks-em-bo-urg“, schaffte Jakob endlich das lange Wort, auf das sein Freund mit dem Finger zeigte, und runzelte die Stirn. „Eh?“
„Nein“, sagte dieser verärgert. „Hier!“
Wir sahen nichts.
Ich murmelte: „Aha“, und nickte, um die Suche endlich zu beenden.
Wir blieben noch eine Weile am Tisch, redeten über dies und jenes und, als unser Freund von seinem nächsten Besuch in der Küche mit leeren Händen zurückkam, beschlossen unsere Schlafplätze aufzusuchen.
In der Nacht träumte ich von den verschneiten Hügeln, die die Stadt Luxemburg zierten, und Jakob warf sich im Bett und keuchte: „Kanada, dein blauer Himmel…“