Wie die Götter

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Gonzo

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Schmerverkrümmt zieht sich Ned am Waschbecken hoch. Sein Körper fühlt sich an, als ob sich sein Skelett eigenmächtig erhitzt hätte, um sich vom unnützen Fleisch los zu brennen. Schweißbäche rasen sein Gesicht hinunter, und sammeln sich zu großen Tropfen am kantigen Kinn, ehe sie zu Boden fallen. Seine jugendliche Haut und die pechschwarzen Haare täuschen: Er ist bereits 58. Ein letztes Mal übergibt er sich ins Waschbecken, dann hangelt er sich von Möbelstück zu Möbelstück Richtung Tür. Die verbogene Optik und die Übelkeit sind nicht halb so schlimm wie die schmerzenden Knochen. Dieses elendige Brennen, denkt sich Ned. Mit letzten Kräften öffnet er die Tür.

"Ach du heilige Scheiße, du hängst ziemlich drinnen, oder?" Lea wartet schon seit geraumer Zeit, und hat bereits mehrmals die Klingel gedrückt. Sie ist vom Erscheinungsbild ihres Bruders sichtlich geschockt. Tiefe Augenringe hängen ihm in sein langes Gesicht und lassen die blasse Haut noch viel blasser aussehen. Der Schweiß hat seine halblangen Haare völlig durchnässt und dunkle Flecken auf sein graues Hemd gezeichnet.

"Ja", keucht Ned, "hast du was dabei? Ich halt's nicht mehr aus. Allmählich schlägt's mir schon auf den Kopf." Lea ist etwas kleiner, hat ihre braunen Locken stets zum Zopf gebunden, und ihren zierlichen Körper in gemütliche Stoffklamotten gepackt. Ihre dunklen Augen blicken besorgt drein.

Eine kleine Träne läuft Ned über die knochige Wange. Nach der Übelkeit und dem Schmerzen kam immer die psychische Labilität. Anschließend Halluzinationen, erst ganz kleine, versteckte, und wenn man zu viel Zeit verstreichen ließ, absolutes Delirium. Totaler Kontrollverlust. Das geht dann einige Zeit lang, und was danach kommt, wissen alle viel zu gut.

"Nein, tut mir leid Ned. Komm, wir bringen dich hier raus."

"Scheiße! Ich dachte du bringst was mit!" Ned krallt sich am Türrahmen fest, um nicht wieder das Gleichgewicht zu verlieren.

"Woher soll ich's denn haben? Hab doch selbst nur meine Ration. Komm, wir bringen dich hier erst mal raus, uns wird schon was einfallen."

Lea schleppt Ned die Treppen hinunter. Er kann sich kaum auf den Beinen halten.

Die Zeiten haben sich vielleicht geändert, denkt sich Lea oft, aber die Menschen sind im Prinzip die selben wie früher geblieben; es gibt die Reichen, die Armen, die Choleriker, die Trinker, die Familienmenschen und die ganzen Anderen. Mit Einigen kommt man gut aus, mit Anderen weniger. So wie das eben schon immer war. Dass die Leute schon immer so waren, wusste sie aus Büchern und Videos, die vor der ersten Generation entstanden. Oft hat sie diese als Kind zusammen mit Ned nächtelang durchstöbert, und sie haben sich vorgestellt, wie das früher gewesen sein muss, als die Menschen noch nicht über ihren Körper bestimmen konnten, als man besorgt jeden Morgen aufstand und auf jede mögliche Krankheit wartete. Als man ständig mit der Unsicherheit herumlief, wann man Fieber, Durchfall oder Krebs bekommen würde. Gut, denkt sie sich oft, sie waren mit 60 schon alt, starben an Herzinfarkten und fürchteten sich bei der kleinsten Grippe vor dem Tod. Aber andererseits war ihnen ihr kurzes Leben selbst überlassen, sie konnten einfach für ein paar Tage in den Bergen wandern gehen, eine Weltreise machen, nach Frankreich ziehen, sich als Musiker probieren, irgendwas. Frei sein. Offiziell hat sich daran bist heute nichts geändert. De facto schon.

Den ersten Menschen wurde Trizin als pflanzliches Präparat zur Gesundheitsförderung verkauft. Es war die zufällige Entdeckung des damals noch unbekannten chinesischen Forschers Jin Toa. Doch die Kapseln übertrafen alle Erwartungen: Der körperliche Verschleiß nahm nahezu bis auf Null ab; das Immunsystem wurde massiv gestärkt und brachte die Menschen in eine adonische Verfassung, die, bei täglicher Einnahme, Jahrzehnte lang andauern würde. Karzinome, Blinddarmentzündungen, Depressionen – alles Schnee von gestern. Nebenwirkungen? Egal wie lang man suchte, man fand keine.

Keuchend schafft es Lea mit Ned zum Mobil. Obwohl ihr Bruder kaum Körperfett besitzt, glänzen dem schmächtigen Mädchen jetzt auch Schweißperlen auf der Stirn. Sie hat ihr Mobil direkt vor dem Gebäudekomplex geparkt. Draußen dämmert es, und der Schatten einiger Ratten huscht über die menschenleere Straße. Es ist ein kühler Herbsttag.

"O.K. Und was jetzt?", fragt Ned, während er den Kopf erschöpft auf dem Beifahrersitz fallen lässt.

"Ich weiß es auch nicht. Überhaupt, wieso hast du kein Trizin mehr?"

"War seit Tagen nicht mehr in der Fabrik."

"Wieso gehst du nicht mehr arbeiten? Bist du verrückt?" Lea blickt Ned entsetzt an.

"Ich weiß, ich weiß. Ich konnte es einfach nicht mehr. Diese ständige Eintönigkeit, diese Monotonie, ich scheiß 'drauf, ich scheiß auf alles, lieber verrecke ich, als noch einen Schritt im Hamsterrad zu gehen!"

Ein bedrücktes Schweigen tritt ein. Beide starren auf das Armaturenbrett des Mobils.

"Ja und jetzt? Wie stellst du dir vor, dass es weiter geht? Wie willst du an Trizin kommen?", will Lea mit weit aufgerissenen Augen wissen.

"Wie gesagt. Ich weiß es nicht." Ned blickt seine Schwester mit verschwitztem Gesicht an. "Teil mit mir deine Ration, bis ich was Anderes gefunden habe." Seine blassen blauen Augen blicken voller Verzweiflung in die Leas.

"Scheiße Ned, ..." Sie dreht ihren Kopf beschämt weg, und man meint, dass sie gleich zu weinen beginnen könnte. "Ich kann das nicht. Und das weißt du."

"Komm schon, das kannst du mir nicht antun ..." Geschockt greift Ned nach Leas Arm, doch diese zuckt ihn abweisend weg.

"Das wäre der Untergang für uns beide."

"Wieso denn Untergang? Ich brauche bloß ein paar Tage, nur bis ich etwas Neues gefunden habe!"

"Einer von uns muss klar bleiben!", schreit Lea ihrem Bruder ins Gesicht und schlägt voller Wut gegen das Lenkrad.

Bereits nach kurzer Zeit patentierte die chinesische Regierung die Rezeptur von Trizin und hütet sie bis heute als ihr größtes Staatsgeheimnis. Es gab unzählige Versuche, das Präparat zu kopieren oder illegal herzustellen. Alle schlugen fehl. Das Einzige, was bekannt ist, ist, dass Trizin das Produkt eines genmanipulierten Gewächses ist, das wiederum erst nach endlosen Kreuzungen mit verschiedensten modifizierten Pflanzen entsteht.

Während viele der ersten Generation dem neuen Medikament äußerst skeptisch gegenüber standen, vergaß die Folgegeneration jegliche Bedenken und erfreute sich einem langen und unbeschwerten Leben, denn keine der düsteren Prophezeiungen, die die Skeptiker den Konsumenten der ersten Generation vorhersagten, trat ein. Selbst nachdem Einige zu dieser Zeit Trizin wieder absetzten, verspürten sie keine Entzugserscheinungen, lediglich ihr Körper begann wieder schneller zu altern, und die kleinen Kränkeleien störten den Alltag. Die Nachfrage nach dem Mittel stieg innerhalb weniger Jahre so rapide an, dass Trizin zu einer Haupteinnahmequelle für China heranwuchs. Durch die enorme Produktion war das Medikament jetzt für nahezu jeden Durchschnittsbürger der Welt bezahlbar, versprach es doch, bis zu 140 Jahre frei von Krankheiten zu ermöglichen. Einige Sekten glaubten sogar, Gott habe ihnen endlich den lang ersehnten Jungbrunnen geschenkt. Das Paradies schien zum Greifen nahe zu sein.

"Das kannst du mir nicht antun!", plärrt Ned Lea an. "Komm schon, ich bin dein Bruder! Wärst du mal ohne, würde ich sofort meine Ration mit dir teilen! Wir sind doch eine Familie! Mutter würde sich für dich schämen!" Seine Hände beginnen zu zittern. "Weist du, ich kann da einfach nicht mehr hingehen. Das musst du doch verstehen. Ich kann keine Metallstangen mehr 17 Stunden am Tag sehen, nicht mehr diese beschissenen Stanzen sieben Tage die Woche hören!"

"Es ist ein guter Job Ned! Und das weißt du! Es gäbe einige, die sich freuen würden, so einen guten Beruf wie du zu haben! Du bekommst dort drei anständige Mahlzeiten, die tägliche Dosis Trizin und etwas Geld für die Miete! Was willst du mehr?"

"Was will ich mehr, was will ich mehr!", äfft Ned nach, während seine Beine auch langsam zu wackeln beginnen. "Ich will raus hier! Weg! So wie jeder hier! So wie du!" Ein kleiner Schwung Erbrochenes schwappt aus seinem Mund.

"Mist, mach dir Tür auf!" Lea springt aus dem Mobil, rennt um was Fahrzeug, und öffnet die Beifahrertüre. Ned kippt wie ein nasser Sack heraus und übergibt sich. Lea kann ihn gerade noch auffangen, bevor er auf den Asphalt knallt.

Während der zweiten Generation von Trizinnutzern, auch die goldene Generation genannt, vollzog sich ein enormer gesellschaftlicher Wandel. Die Anzahl der Ärzte nahm drastisch ab, denn sie waren nahezu überflüssig geworden, konnte man doch mit einer kleinen Kapsel am Tag jegliche Krankheiten und Beschwerden vorbeugen oder behandeln. Die Skeptiker verstarben – im Gegensatz zu den Konsumenten – bereits sehr früh. Die Goldenen bekamen auf Grund ihres verlängerten Lebens und ihrer höheren Fruchtbarkeit im Schnitt bis zu sieben Kinder. Bedenkt man, dass der Zeitgeist der Skeptiker bei im Schnitt 1,4 Kinder lag, kann man sich leicht erklären, wieso die Trizinnutzer auf langer Sicht klar in der Überzahl sein würden, denn um jedes Risiko präventiv zu begegnen, gewöhnte man natürlich bereits seine Kinder im Schulalter die tägliche Dosis Vitalität an.

Lea rast mit enormer Geschwindigkeit durch die Straßen von Hamburg. Im Sekundentakt wird das Mobil durch ein neues Schlagloch erschüttert. Die Schatten riesiger Windräder sind am Horizont der Nordsee zu erkennen, geblendet durch asiatische Frauen, die auf leuchtenden Reklamewänden über den Straßen für die neuesten Produkte werben.

Die Schüttelfrost hat Ned bereits am ganzen Körper erreicht. Seine Klamotten sind völlig durchnässt und er stammelt wirres Zeug vor sich her. Lea hat Tränen in den Augen und holt alles aus dem Elektromotor heraus, was er hergibt. "Halt noch ein bisschen durch, Neddie! Gleich haben wir's geschafft!" Ned dreht seinen zittrigen Kopf zum Fahrersitz und nuschelt etwas vor sich hin. "Pill.. gb... Triz...!" Ein langer Speichelfaden läuft ihm aus den Mund. Er muss seit Tagen nichts gegessen haben, denkt sich Lea, und alles was er herunter bekommen hat, muss ihm gleich wieder hochgekommen sein. Sie erinnert sich an ihr letztes Mal. Sie hatte aus Versehen zwei an einem Tag geschluckt. Das machten früher viele so, als es Trizin noch in Massen gab, das gibt einen kleinen Kick. Aber sie machte das nicht absichtlich, das wäre wirklich dumm, denkt sie sich. Sie war den ganzen Tag unglaublich gut gelaunt gewesen, ist abends feiern gegangen und musste gar nicht schlafen, ehe sie am nächsten Tag in die Fabrik ging. Doch am Ende des Monats kam es dann. Es fehlte die eine Pille, die für den 31. Den ganzen Tag hatte sie gekotzt, vor Schmerzen im Bett gelegen, und konnte sich kaum selbstständig am nächsten Tag zur Arbeit schleppen, um die neue Ration abzuholen. Es war die Hölle. Doch was machte Ned wohl jetzt durch, der hatte seit Tagen nichts genommen, denkt sich Lea.

Die dritte Generation war jene, die die verheerenden Auswirkungen von Trizin erstmals zu spüren bekam. Obwohl es eines der am besten erforschten Medikamente war, konnte niemand die Langzeitfolgen des Trizinkonsums beim Homo sapiens sapiens erahnen. Tests an Kaninchen, Affen, Ratten – alle komplett nutzlos. Nach drei menschlichen Generationen bemerkten zahlreiche Mütter, dass ihre Neugeborenen komische Symptome aufwiesen: Sie schwitzten, bekamen Schüttelfrost, Fieber und Übergaben sich. Die verdutzten wenigen Mediziner, die es noch gab, taten natürlich das Einzige, was sie für wirklich effektiv hielten: Trizin verabreichen. Hatte man lange Zeit Kleinkinder aus der "Trizinbehandlung zur Gesundheitsförderung" herausgehalten, war es nun die einzige Möglichkeit für unzählige Säuglinge, zu überleben. Und somit hatte sich der Teufelskreis geschlossen.

Lea bringt das Mobil über einer Parkfläche vor einem riesigen Gebäude zum Stehen. Sie sind vor der Fabrik, in der Ned noch vor einigen Tagen gearbeitet hat. Lea steigt aus, hievt Ned aus dem Beifahrersitz, und schleppt ihn einige Meter in Richtung Fabrik. "Gleich sind wir da Ned, nur noch ein paar Schritte!" Die Parkfläche öffnet sich, und das Mobil wird in das automatische Parksystem hinuntergelassen. Ned steht völlig neben sich. Seine Augen starren leer vor sich hin, Speichel läuft ihm aus dem Mund, seine Beine können vor lauter Wackeln kaum gehen, und würde er nicht von seiner Schwester gestützt werden, würde er auf der Stelle zusammenbrechen. "Ned? Neddie? Bist du noch da?" Die beiden bleiben stehen. Lea nimmt sein Kinn in die Hand und dreht sein Gesicht zu sich, so dass sie ihm in die Augen sehen kann. Sie scheinen durch ihren Kopf hindurch zu starren. In Neds Gesicht vermischen sich Tränen mit dem Schweiß, der immer noch in großen Mengen durch seine Drüsen gepresst wird. "Komm schon, wach wieder auf!" Lea ohrfeigt Ned, erst ganz leicht, und dann immer stärker, ehe der apathische Blick verschwindet, Ned zusammenzuckt, und wieder Leben in seine Augen zurückkehrt. "Ja... Alles klar... Gleich sind wir da..."

Die beiden schleppen sich zu einem steinernen Torbogen. Es ist der Eingang. Davor sitzt ein entspannter Asiat in grüner Uniform und liest Zeitung. Es ist der Wächter.

Nachdem die Öffentlichkeit der dritten Generation von der plötzlichen Sucht ihres Nachwuchses erfuhr, versuchten Zahlreiche sich ihrem Jungbrunnen zu entwöhnen. Doch erschrocken über das schnelle Altern und der Krankheiten, die man bereits fast vergessen hatte, fielen die meisten in ihr altes Verhaltensmuster zurück. Als die chinesische Führung von dem enormen Abhängigkeitspotential ihres Produktes erfuhr, nutzte sie es für ihre machtpolitischen Zwecke aus. Sie untersagte in mehreren kleinen Schritten die Ausfuhr von Trizin aus ihrem Land, und vergab lediglich an im Ausland ansässige chinesische Firmen die Lizenz, ihre Mitarbeiter mit Trizin zu versorgen. "Trizintherapie zur Sicherstellung der Vitalität unserer Mitarbeiter und deren Familie" nannte man das. Dieses Monopol missbrauchten sie schamlos. Das war der Anfang vom Untergang Vieler, denn die unzähligen Trizinabhängigen hatten keine andere Wahl, als Arbeiten anzufangen zu verrichten, die sonst keiner verrichten wollte, nur um an den begehrten Stoff zu kommen. Produktionsmaschinen wurden zunehmend unprofitabel, denn die große Zahl an billiger Arbeitskraft konnte kein Roboter unterbieten. Unzählige Städte auf dem Globus verkamen zu Produktionsslums, riesige Fertigungskomplexe mit Wohnsiedlungen, in der die trizingefütterten Ameisen für die Gier ihrer Väter einbüßten.

"Bitte, Sie müssen uns helfen!"

"你想要什麼?", nuschelt der Wärter vor sich hin, während er gelangweilt in seiner Zeitung blättert.

"Äh... 他們必須幫助我們!"

"你的男朋友是怎麼回事? [Was ist mit deinem Freund los?]", fragt der Chinese und beäugt nun angewidert Ned.

"他在這裡工作,他釀造法王![Er arbeitet hier, und er braucht Trizin!]"

Der Wärter steht nun langsam auf, drückt seine Brust heraus, zieht seine Hose etwas nach oben und kaut provokativ auf seinem Kaugummi herum.

"叫什麼名字? [Name?]", fragt er.

"Ned Fröhling. Blockwerk B-26."

Der Chinese zückt sein portables Display aus seiner Hemdtasche, tippt gelassen darauf herum, und sagt schließlich in holprigem Deutsch: "Nee, der nit mehr hier arbeiten!"

"Doch! Bitte! Er arbeitet noch hier! Er bekommt noch seine Monatsration Trizin!", schluchzt Lea.

"Sorry, keine Arbeit, kein Trizin. Und jetzt tschüs."

Tränen kullern Lea aus den Augen und sie beginnt zu schluchzen. Plötzlich wandelt sich Neds Zittern in ein heftiges Zucken. Seine Augen verschieben sich nach oben, und er fällt zu Boden. So muss früher ein epileptischer Anfall ausgesehen haben, denkt sich Lea kurz, bevor sie wieder flehend den Wärter ansieht. Dieser scheint das gar nicht zu kümmern. Gerade will er mit seinem Display den Sicherheitsdienst rufen, da kommt Lea ganz dicht an ihn heran und schaut ihm tief in die Augen. "Bitte." Sein ernster Gesichtsausdruck verwandelt sich in ein breites Lächeln.

"Kommst du mit, kriegst'e Trizin", haucht er ihr genüsslich ins Gesicht, während er sich an seinem Reißverschluss herumspielt. Lea hat sofort verstanden. Sie dreht sich zu ihrem zuckenden und röchelnden Bruder um, und steht wie paralysiert da. Nach einigen Sekunden willigt sie ein. "O.K."

Lea geht durch den Torbogen in das kleine Wärterhäuschen und kommt ein paar Minuten später wieder heraus. Sie wirkt geschockt. Ned hat sich etwas beruhigt und liegt nur noch regungslos auf dem Boden. Lässig stolziert der Chinese ihr hinterher.

"Da", sagt er barsch, "haste Trizin. 的傢伙回來,明天要上班 [Und der Kerl kommt morgen wieder zur Arbeit.]"

Er wirft einen kleinen Karton abwertend auf den Boden. Ned hat die Augen weit aufgerissen und scheint von der Außenwelt nichts mitzubekommen. Lea bückt sich zu ihm hinunter, drückt eine Kapsel aus der Packung heraus, und steckt sie in seinen Mund. Es wird einige Minuten dauern, ehe er wieder zu sich kommen wird. Sie setzt sich auf dem Asphalt neben ihn. Der Wärter war schon wieder durch den Torbogen in sein Häuschen verschwunden. Lea blickt auf ihre Armbanduhr: 17 Uhr. Zitternd wühlt sie in ihrer Jackentasche herum, und holt eine kleine Kapsel heraus. Sie legt sie sich auf die Zunge. Langsam werden ihre zittrigen Hände wieder ruhig. Tränen schießen ihr aus den Augen.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Schade um die Idee. Wäre sie neu, hätte diese Konstruktion ausgereicht. Aber so musst(*) du sie als Basis nehmen und eine echte Geschichte drauf stricken, statt nur eine Kaum-mehr-als-ein-Szene-Story mit Erkläreinschüben zu schreiben.

Die chinesischen Zeichen sind störend. Wie soll ein deutscher Otto-Normal-Leser die lesen?

PS: Ein Text, der schon mit einen Rechtschreibfehler anfängt, hat keine optimalen Start.


(* Müssen musst du natürlich gar nichts, es ist dein Text. Aber wenn es eine schöne, spannende, gute Geschichte werden soll, dann musst du es doch tun.)
 

Gonzo

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Schmerzverkrümmt zieht sich Ned am Waschbecken hoch. Sein Körper fühlt sich an, als ob sich sein Skelett eigenmächtig erhitzt hätte, um sich vom unnützen Fleisch los zu brennen. Schweißbäche rasen sein Gesicht hinunter, und sammeln sich zu großen Tropfen am kantigen Kinn, ehe sie zu Boden fallen. Seine jugendliche Haut und die pechschwarzen Haare täuschen: Er ist bereits 58. Ein letztes Mal übergibt er sich ins Waschbecken, dann hangelt er sich von Möbelstück zu Möbelstück Richtung Tür. Die verbogene Optik und die Übelkeit sind nicht halb so schlimm wie die schmerzenden Knochen. Dieses elendige Brennen, denkt sich Ned. Mit letzten Kräften öffnet er die Tür.

"Ach du heilige Scheiße, du hängst ziemlich drinnen, oder?" Lea wartet schon seit geraumer Zeit, und hat bereits mehrmals die Klingel gedrückt. Sie ist vom Erscheinungsbild ihres Bruders sichtlich geschockt. Tiefe Augenringe hängen ihm in sein langes Gesicht und lassen die blasse Haut noch viel blasser aussehen. Der Schweiß hat seine halblangen Haare völlig durchnässt und dunkle Flecken auf sein graues Hemd gezeichnet.

"Ja", keucht Ned, "hast du was dabei? Ich halt's nicht mehr aus. Allmählich schlägt's mir schon auf den Kopf." Lea ist etwas kleiner, hat ihre braunen Locken stets zum Zopf gebunden, und ihren zierlichen Körper in gemütliche Stoffklamotten gepackt. Ihre dunklen Augen blicken besorgt drein.

Eine kleine Träne läuft Ned über die knochige Wange. Nach der Übelkeit und dem Schmerzen kam immer die psychische Labilität. Anschließend Halluzinationen, erst ganz kleine, versteckte, und wenn man zu viel Zeit verstreichen ließ, absolutes Delirium. Totaler Kontrollverlust. Das geht dann einige Zeit lang, und was danach kommt, wissen alle viel zu gut.

"Nein, tut mir leid Ned. Komm, wir bringen dich hier raus."

"Scheiße! Ich dachte du bringst was mit!" Ned krallt sich am Türrahmen fest, um nicht wieder das Gleichgewicht zu verlieren.

"Woher soll ich's denn haben? Hab doch selbst nur meine Ration. Komm, wir bringen dich hier erst mal raus, uns wird schon was einfallen."

Lea schleppt Ned die Treppen hinunter. Er kann sich kaum auf den Beinen halten.

Die Zeiten haben sich vielleicht geändert, denkt sich Lea oft, aber die Menschen sind im Prinzip die selben wie früher geblieben; es gibt die Reichen, die Armen, die Choleriker, die Trinker, die Familienmenschen und die ganzen Anderen. Mit Einigen kommt man gut aus, mit Anderen weniger. So wie das eben schon immer war. Dass die Leute schon immer so waren, wusste sie aus Büchern und Videos, die vor der ersten Generation entstanden. Oft hat sie diese als Kind zusammen mit Ned nächtelang durchstöbert, und sie haben sich vorgestellt, wie das früher gewesen sein muss, als die Menschen noch nicht über ihren Körper bestimmen konnten, als man besorgt jeden Morgen aufstand und auf jede mögliche Krankheit wartete. Als man ständig mit der Unsicherheit herumlief, wann man Fieber, Durchfall oder Krebs bekommen würde. Gut, denkt sie sich oft, sie waren mit 60 schon alt, starben an Herzinfarkten und fürchteten sich bei der kleinsten Grippe vor dem Tod. Aber andererseits war ihnen ihr kurzes Leben selbst überlassen, sie konnten einfach für ein paar Tage in den Bergen wandern gehen, eine Weltreise machen, nach Frankreich ziehen, sich als Musiker probieren, irgendwas. Frei sein. Offiziell hat sich daran bist heute nichts geändert. De facto schon.

Den ersten Menschen wurde Trizin als pflanzliches Präparat zur Gesundheitsförderung verkauft. Es war die zufällige Entdeckung des damals noch unbekannten chinesischen Forschers Jin Toa. Doch die Kapseln übertrafen alle Erwartungen: Der körperliche Verschleiß nahm nahezu bis auf Null ab; das Immunsystem wurde massiv gestärkt und brachte die Menschen in eine adonische Verfassung, die, bei täglicher Einnahme, Jahrzehnte lang andauern würde. Karzinome, Blinddarmentzündungen, Depressionen – alles Schnee von gestern. Nebenwirkungen? Egal wie lang man suchte, man fand keine.

Keuchend schafft es Lea mit Ned zum Mobil. Obwohl ihr Bruder kaum Körperfett besitzt, glänzen dem schmächtigen Mädchen jetzt auch Schweißperlen auf der Stirn. Sie hat ihr Mobil direkt vor dem Gebäudekomplex geparkt. Draußen dämmert es, und der Schatten einiger Ratten huscht über die menschenleere Straße. Es ist ein kühler Herbsttag.

"O.K. Und was jetzt?", fragt Ned, während er den Kopf erschöpft auf dem Beifahrersitz fallen lässt.

"Ich weiß es auch nicht. Überhaupt, wieso hast du kein Trizin mehr?"

"War seit Tagen nicht mehr in der Fabrik."

"Wieso gehst du nicht mehr arbeiten? Bist du verrückt?" Lea blickt Ned entsetzt an.

"Ich weiß, ich weiß. Ich konnte es einfach nicht mehr. Diese ständige Eintönigkeit, diese Monotonie, ich scheiß 'drauf, ich scheiß auf alles, lieber verrecke ich, als noch einen Schritt im Hamsterrad zu gehen!"

Ein bedrücktes Schweigen tritt ein. Beide starren auf das Armaturenbrett des Mobils.

"Ja und jetzt? Wie stellst du dir vor, dass es weiter geht? Wie willst du an Trizin kommen?", will Lea mit weit aufgerissenen Augen wissen.

"Wie gesagt. Ich weiß es nicht." Ned blickt seine Schwester mit verschwitztem Gesicht an. "Teil mit mir deine Ration, bis ich was Anderes gefunden habe." Seine blassen blauen Augen blicken voller Verzweiflung in die Leas.

"Scheiße Ned, ..." Sie dreht ihren Kopf beschämt weg, und man meint, dass sie gleich zu weinen beginnen könnte. "Ich kann das nicht. Und das weißt du."

"Komm schon, das kannst du mir nicht antun ..." Geschockt greift Ned nach Leas Arm, doch diese zuckt ihn abweisend weg.

"Das wäre der Untergang für uns beide."

"Wieso denn Untergang? Ich brauche bloß ein paar Tage, nur bis ich etwas Neues gefunden habe!"

"Einer von uns muss klar bleiben!", schreit Lea ihrem Bruder ins Gesicht und schlägt voller Wut gegen das Lenkrad.

Bereits nach kurzer Zeit patentierte die chinesische Regierung die Rezeptur von Trizin und hütet sie bis heute als ihr größtes Staatsgeheimnis. Es gab unzählige Versuche, das Präparat zu kopieren oder illegal herzustellen. Alle schlugen fehl. Das Einzige, was bekannt ist, ist, dass Trizin das Produkt eines genmanipulierten Gewächses ist, das wiederum erst nach endlosen Kreuzungen mit verschiedensten modifizierten Pflanzen entsteht.

Während viele der ersten Generation dem neuen Medikament äußerst skeptisch gegenüber standen, vergaß die Folgegeneration jegliche Bedenken und erfreute sich einem langen und unbeschwerten Leben, denn keine der düsteren Prophezeiungen, die die Skeptiker den Konsumenten der ersten Generation vorhersagten, trat ein. Selbst nachdem Einige zu dieser Zeit Trizin wieder absetzten, verspürten sie keine Entzugserscheinungen, lediglich ihr Körper begann wieder schneller zu altern, und die kleinen Kränkeleien störten den Alltag. Die Nachfrage nach dem Mittel stieg innerhalb weniger Jahre so rapide an, dass Trizin zu einer Haupteinnahmequelle für China heranwuchs. Durch die enorme Produktion war das Medikament jetzt für nahezu jeden Durchschnittsbürger der Welt bezahlbar, versprach es doch, bis zu 140 Jahre frei von Krankheiten zu ermöglichen. Einige Sekten glaubten sogar, Gott habe ihnen endlich den lang ersehnten Jungbrunnen geschenkt. Das Paradies schien zum Greifen nahe zu sein.

"Das kannst du mir nicht antun!", plärrt Ned Lea an. "Komm schon, ich bin dein Bruder! Wärst du mal ohne, würde ich sofort meine Ration mit dir teilen! Wir sind doch eine Familie! Mutter würde sich für dich schämen!" Seine Hände beginnen zu zittern. "Weist du, ich kann da einfach nicht mehr hingehen. Das musst du doch verstehen. Ich kann keine Metallstangen mehr 17 Stunden am Tag sehen, nicht mehr diese beschissenen Stanzen sieben Tage die Woche hören!"

"Es ist ein guter Job Ned! Und das weißt du! Es gäbe einige, die sich freuen würden, so einen guten Beruf wie du zu haben! Du bekommst dort drei anständige Mahlzeiten, die tägliche Dosis Trizin und etwas Geld für die Miete! Was willst du mehr?"

"Was will ich mehr, was will ich mehr!", äfft Ned nach, während seine Beine auch langsam zu wackeln beginnen. "Ich will raus hier! Weg! So wie jeder hier! So wie du!" Ein kleiner Schwung Erbrochenes schwappt aus seinem Mund.

"Mist, mach dir Tür auf!" Lea springt aus dem Mobil, rennt um was Fahrzeug, und öffnet die Beifahrertüre. Ned kippt wie ein nasser Sack heraus und übergibt sich. Lea kann ihn gerade noch auffangen, bevor er auf den Asphalt knallt.

Während der zweiten Generation von Trizinnutzern, auch die goldene Generation genannt, vollzog sich ein enormer gesellschaftlicher Wandel. Die Anzahl der Ärzte nahm drastisch ab, denn sie waren nahezu überflüssig geworden, konnte man doch mit einer kleinen Kapsel am Tag jegliche Krankheiten und Beschwerden vorbeugen oder behandeln. Die Skeptiker verstarben – im Gegensatz zu den Konsumenten – bereits sehr früh. Die Goldenen bekamen auf Grund ihres verlängerten Lebens und ihrer höheren Fruchtbarkeit im Schnitt bis zu sieben Kinder. Bedenkt man, dass der Zeitgeist der Skeptiker bei im Schnitt 1,4 Kinder lag, kann man sich leicht erklären, wieso die Trizinnutzer auf langer Sicht klar in der Überzahl sein würden, denn um jedes Risiko präventiv zu begegnen, gewöhnte man natürlich bereits seine Kinder im Schulalter die tägliche Dosis Vitalität an.

Lea rast mit enormer Geschwindigkeit durch die Straßen von Hamburg. Im Sekundentakt wird das Mobil durch ein neues Schlagloch erschüttert. Die Schatten riesiger Windräder sind am Horizont der Nordsee zu erkennen, geblendet durch asiatische Frauen, die auf leuchtenden Reklamewänden über den Straßen für die neuesten Produkte werben.

Die Schüttelfrost hat Ned bereits am ganzen Körper erreicht. Seine Klamotten sind völlig durchnässt und er stammelt wirres Zeug vor sich her. Lea hat Tränen in den Augen und holt alles aus dem Elektromotor heraus, was er hergibt. "Halt noch ein bisschen durch, Neddie! Gleich haben wir's geschafft!" Ned dreht seinen zittrigen Kopf zum Fahrersitz und nuschelt etwas vor sich hin. "Pill.. gb... Triz...!" Ein langer Speichelfaden läuft ihm aus den Mund. Er muss seit Tagen nichts gegessen haben, denkt sich Lea, und alles was er herunter bekommen hat, muss ihm gleich wieder hochgekommen sein. Sie erinnert sich an ihr letztes Mal. Sie hatte aus Versehen zwei an einem Tag geschluckt. Das machten früher viele so, als es Trizin noch in Massen gab, das gibt einen kleinen Kick. Aber sie machte das nicht absichtlich, das wäre wirklich dumm, denkt sie sich. Sie war den ganzen Tag unglaublich gut gelaunt gewesen, ist abends feiern gegangen und musste gar nicht schlafen, ehe sie am nächsten Tag in die Fabrik ging. Doch am Ende des Monats kam es dann. Es fehlte die eine Pille, die für den 31. Den ganzen Tag hatte sie gekotzt, vor Schmerzen im Bett gelegen, und konnte sich kaum selbstständig am nächsten Tag zur Arbeit schleppen, um die neue Ration abzuholen. Es war die Hölle. Doch was machte Ned wohl jetzt durch, der hatte seit Tagen nichts genommen, denkt sich Lea.

Die dritte Generation war jene, die die verheerenden Auswirkungen von Trizin erstmals zu spüren bekam. Obwohl es eines der am besten erforschten Medikamente war, konnte niemand die Langzeitfolgen des Trizinkonsums beim Homo sapiens sapiens erahnen. Tests an Kaninchen, Affen, Ratten – alle komplett nutzlos. Nach drei menschlichen Generationen bemerkten zahlreiche Mütter, dass ihre Neugeborenen komische Symptome aufwiesen: Sie schwitzten, bekamen Schüttelfrost, Fieber und Übergaben sich. Die verdutzten wenigen Mediziner, die es noch gab, taten natürlich das Einzige, was sie für wirklich effektiv hielten: Trizin verabreichen. Hatte man lange Zeit Kleinkinder aus der "Trizinbehandlung zur Gesundheitsförderung" herausgehalten, war es nun die einzige Möglichkeit für unzählige Säuglinge, zu überleben. Und somit hatte sich der Teufelskreis geschlossen.

Lea bringt das Mobil über einer Parkfläche vor einem riesigen Gebäude zum Stehen. Sie sind vor der Fabrik, in der Ned noch vor einigen Tagen gearbeitet hat. Lea steigt aus, hievt Ned aus dem Beifahrersitz, und schleppt ihn einige Meter in Richtung Fabrik. "Gleich sind wir da Ned, nur noch ein paar Schritte!" Die Parkfläche öffnet sich, und das Mobil wird in das automatische Parksystem hinuntergelassen. Ned steht völlig neben sich. Seine Augen starren leer vor sich hin, Speichel läuft ihm aus dem Mund, seine Beine können vor lauter Wackeln kaum gehen, und würde er nicht von seiner Schwester gestützt werden, würde er auf der Stelle zusammenbrechen. "Ned? Neddie? Bist du noch da?" Die beiden bleiben stehen. Lea nimmt sein Kinn in die Hand und dreht sein Gesicht zu sich, so dass sie ihm in die Augen sehen kann. Sie scheinen durch ihren Kopf hindurch zu starren. In Neds Gesicht vermischen sich Tränen mit dem Schweiß, der immer noch in großen Mengen durch seine Drüsen gepresst wird. "Komm schon, wach wieder auf!" Lea ohrfeigt Ned, erst ganz leicht, und dann immer stärker, ehe der apathische Blick verschwindet, Ned zusammenzuckt, und wieder Leben in seine Augen zurückkehrt. "Ja... Alles klar... Gleich sind wir da..."

Die beiden schleppen sich zu einem steinernen Torbogen. Es ist der Eingang. Davor sitzt ein entspannter Asiat in grüner Uniform und liest Zeitung. Es ist der Wächter.

Nachdem die Öffentlichkeit der dritten Generation von der plötzlichen Sucht ihres Nachwuchses erfuhr, versuchten Zahlreiche sich ihrem Jungbrunnen zu entwöhnen. Doch erschrocken über das schnelle Altern und der Krankheiten, die man bereits fast vergessen hatte, fielen die meisten in ihr altes Verhaltensmuster zurück. Als die chinesische Führung von dem enormen Abhängigkeitspotential ihres Produktes erfuhr, nutzte sie es für ihre machtpolitischen Zwecke aus. Sie untersagte in mehreren kleinen Schritten die Ausfuhr von Trizin aus ihrem Land, und vergab lediglich an im Ausland ansässige chinesische Firmen die Lizenz, ihre Mitarbeiter mit Trizin zu versorgen. "Trizintherapie zur Sicherstellung der Vitalität unserer Mitarbeiter und deren Familie" nannte man das. Dieses Monopol missbrauchten sie schamlos. Das war der Anfang vom Untergang Vieler, denn die unzähligen Trizinabhängigen hatten keine andere Wahl, als Arbeiten anzufangen zu verrichten, die sonst keiner verrichten wollte, nur um an den begehrten Stoff zu kommen. Produktionsmaschinen wurden zunehmend unprofitabel, denn die große Zahl an billiger Arbeitskraft konnte kein Roboter unterbieten. Unzählige Städte auf dem Globus verkamen zu Produktionsslums, riesige Fertigungskomplexe mit Wohnsiedlungen, in der die trizingefütterten Ameisen für die Gier ihrer Väter einbüßten.

"Bitte, Sie müssen uns helfen!"

"你想要什麼?", nuschelt der Wärter vor sich hin, während er gelangweilt in seiner Zeitung blättert.

"Äh... 他們必須幫助我們!"

"你的男朋友是怎麼回事? [Was ist mit deinem Freund los?]", fragt der Chinese und beäugt nun angewidert Ned.

"他在這裡工作,他釀造法王![Er arbeitet hier, und er braucht Trizin!]"

Der Wärter steht nun langsam auf, drückt seine Brust heraus, zieht seine Hose etwas nach oben und kaut provokativ auf seinem Kaugummi herum.

"叫什麼名字? [Name?]", fragt er.

"Ned Fröhling. Blockwerk B-26."

Der Chinese zückt sein portables Display aus seiner Hemdtasche, tippt gelassen darauf herum, und sagt schließlich in holprigem Deutsch: "Nee, der nit mehr hier arbeiten!"

"Doch! Bitte! Er arbeitet noch hier! Er bekommt noch seine Monatsration Trizin!", schluchzt Lea.

"Sorry, keine Arbeit, kein Trizin. Und jetzt tschüs."

Tränen kullern Lea aus den Augen und sie beginnt zu schluchzen. Plötzlich wandelt sich Neds Zittern in ein heftiges Zucken. Seine Augen verschieben sich nach oben, und er fällt zu Boden. So muss früher ein epileptischer Anfall ausgesehen haben, denkt sich Lea kurz, bevor sie wieder flehend den Wärter ansieht. Dieser scheint das gar nicht zu kümmern. Gerade will er mit seinem Display den Sicherheitsdienst rufen, da kommt Lea ganz dicht an ihn heran und schaut ihm tief in die Augen. "Bitte." Sein ernster Gesichtsausdruck verwandelt sich in ein breites Lächeln.

"Kommst du mit, kriegst'e Trizin", haucht er ihr genüsslich ins Gesicht, während er sich an seinem Reißverschluss herumspielt. Lea hat sofort verstanden. Sie dreht sich zu ihrem zuckenden und röchelnden Bruder um, und steht wie paralysiert da. Nach einigen Sekunden willigt sie ein. "O.K."

Lea geht durch den Torbogen in das kleine Wärterhäuschen und kommt ein paar Minuten später wieder heraus. Sie wirkt geschockt. Ned hat sich etwas beruhigt und liegt nur noch regungslos auf dem Boden. Lässig stolziert der Chinese ihr hinterher.

"Da", sagt er barsch, "haste Trizin. 的傢伙回來,明天要上班 [Und der Kerl kommt morgen wieder zur Arbeit.]"

Er wirft einen kleinen Karton abwertend auf den Boden. Ned hat die Augen weit aufgerissen und scheint von der Außenwelt nichts mitzubekommen. Lea bückt sich zu ihm hinunter, drückt eine Kapsel aus der Packung heraus, und steckt sie in seinen Mund. Es wird einige Minuten dauern, ehe er wieder zu sich kommen wird. Sie setzt sich auf dem Asphalt neben ihn. Der Wärter war schon wieder durch den Torbogen in sein Häuschen verschwunden. Lea blickt auf ihre Armbanduhr: 17 Uhr. Zitternd wühlt sie in ihrer Jackentasche herum, und holt eine kleine Kapsel heraus. Sie legt sie sich auf die Zunge. Langsam werden ihre zittrigen Hände wieder ruhig. Tränen schießen ihr aus den Augen.
 

Gonzo

Mitglied
jon, meinst du die Idee ist nicht neu? Dir ist schon klar, dass die deutsche Übersetzung des Chinesischen direkt dahinter steht?
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Frage eins:
Ja, die Idee ist – im Kern (Wundermittel entpuppt sich als schlimme Droge und wird von den Mächtigen missbraucht) – nicht neu. Ich will damit kein Plagiat unterstellen, wirklich nicht, der Fundus an solchen Themen ist einfach nur nicht unendlich groß. Das Risiko, dass der Leser "sowas" schon mal oder gar mehrfach gelesen/gesehen hat, ist entsprechend erheblich. Unter anderem deshalb ist es immer besser, man erzählt mehr die Geschichte (hier der Geschwister) als ein paar Figuren nur als Rahmen für die Darlegung der Idee zu entwerfen.

Was ist hier die Geschichte?
"Ned hat Entzugsprobleme, weil er die Droge nicht hat, weil er nicht mehr arbieten geht. Seine Schwester kommt. Er bettelt sie an. Sie kann/will ihm nichts abgeben. Sie bringt ihm zur Fabrik, bettelt dort den Wachmann an. Der lehnt erst ab, lässt Ned dann aber doch wieder rein."
Alles andere ist die Erklärung der Idee.

Es ist schwer, so eine Vorgeschichte/Erklärung mit einer so kurzen Rahmenhandlung so zu verbinden, dass man den Gesamttext als Geschichte liest und nicht nur als belletristisch leicht dekorierten Welt-Entwurf.
Eine Variante, so einer Struktur doch "Reiz" zu geben, ist eine massive klangliche Abtrennung der beiden Stränge. Sehr beliebt sind "Nachrichten", die die Vorgeschichte nachzeichnen, was hier aber schnell an Grenze stoßen dürfte. Üblich ist es auch, den Erklärteil in einem deutlich berichtenden Stil zu verfassen und nicht (wie du versucht hast) über irgendwelche Erinnerungen der Figuren an die Geschichte zu knüppern (das kannst du sowieso nicht durchhalten; außerdem wären so lange "Erinnerungen" ohnehin extrem unpassend für die Situation – Lea hat weiß Gott andere Problem im Moment)

Ich würde empfehlen, diesen Weltentwurf als Basis für ein größere Geschichte zu nehmen. Siehe "Matrix": Die eigentliche Geschichte dort besteht ja auch eher in einer Art Revolutions-Queste, die besondere Welt bestimmt "nur", welche Formen diese Queste annimmt.


Frage zwei:
Ich habe nicht nach dem Sinn/Inhalt der Zeichen gefragt, sondern wie ich sie lesen soll, wie ich sie also in meinen Kopfkino zum Klingen bringen soll.
 

Gonzo

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Hey jon,
ich muss sagen, ich habe von der idee noch nichts gelesen/gehört, allerdings gestehe ich auch, nicht besonders tief im science fiction genre zu stecken. ;-) aber wenn du das sagst, dann glaube ich dir mal.
Ich bin erschüttert, dass die passagen, in denen die vorgeschichte zur entstehung der beschriebenen welt erzählt wird, als gedanken des protagonisten verstanden wurden! ich hatte da tatsächlich das versucht, was du mir empfiehlst, und zwar abtrennung durch einen sehr berichtenden stil klar zu machen, so dass es als eine art "over voice" eines erzählers wahrgenommen wird. scheint allerdings nicht so angekommen zu sein ;-)
Du hast wohl recht damit, dass der schwerpunkt zu sehr auf den weltentwurf liegen mag, allerdings gedachte ich das nicht als uninteressant zu lesen. noch mehr geschichte zu den geschwistern schien mir zu viel text zu werden. aber gut, ich danke dir für deine kritik, vielleicht schreibe ich die geschichte von ned und lea noch einmal basierend auf der vorgeschichte weiter!

Grüße Gonzo
 

jon

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Teammitglied
Der Absatz, der mit "Die Zeiten haben sich vielleicht geändert, denkt sich Lea oft, aber die Menschen sind im Prinzip die selben wie früher geblieben;" beginnt, führt praktisch in diese Vor-Zeit zurück. Deshalb (und wegen des nicht so großen Klangunterschiedes) wirkt es wie Gedanken. Ist diese Abschnitt nötig? Als Erklärung, warum Ned ausbrechen will, irgendwie schon, aber vielleicht kann man das in Handlung/Dialog umsetzen. Man kann dann zwar nur andeuten (Ned ist im Moment wirklich nicht redselig), aber man würde die Erzählung dann ganz und gar in der Erzählgegenwart halten, die sich deutlicher gegen die Rückblicke absetzt.

Der Klang … Wenn man genau hinsieht, merkt man, wie du den Unterschied erzeugen wolltest. „Farbige" Beschreibungen und Emotionen hier, "Sachliche Worte" dort. Das sind aber "nur" andere Bilder, weniger ein andere Klang des Textes. Gebundene, fließenden Sprache vs. kurze, harte Sätze bilden einen Klangunterschied. Genau hier sind die Passagen aber (trotz gutem Ansatz in diese Richtung) noch zu ähnlich. Sei im Erzählteil vielleicht etwas konsequenter mit den kurzen und unvollständigen Hauptsätzen, löse Nebensätze so weit wie möglich auf, setze Einschübe (Attribute) und Beschreibungen in Handlung um (nicht: „Sie ist kleiner" sondern "Sie kann ihm direkt in die glasig wirkenden Augen sehen, so sehr ist Ned in sich zusammengesunken.").



Die Geschichte der beiden … Sie könnte bei einem alltäglichen Treffen anfangen, an dem Ned schon andeutet, wie sehr ihn alles ankotzt. Irgendwo ahne ich auch einen Konflikt zwischen den Geschwistern (bei „So wie du!"). Wichtig: Wenigstens(!) einer (Lea?) muss eine spürbare Wandlung erleben (fügen- leiden -aufbegehren - (moralisch) siegen oder zerbrechen/untergehen). (Hach, ich krieg fast Lust dazu, es selbst zu schreiben …*hüstel* – nee keine Angst, ich klaue nüscht!)
 

Gonzo

Mitglied
jon,

stimmt, der absatz, als lea sich an ihre kindheit erinnert, kann zu der fälschlichen annahme führen, alle erzählerteile sind ihr gedachtes. ich mag deine idee, dass alles mit einem alltäglichen treffen beginnt, und somit die "gedankenpassage" und ihren inhalt ersetzt. wird dann allerdings etwas schwierig, den leser zu beginn für die geschichte zu interessieren. ich glaube ich probier das tatsächlich einmal. danke für den denkanstoß ;-)
 
V

Victor Boden

Gast
Hallo Gonzo,

Ob eine Geschichte neu oder schon in ähnlicher Form gibt, ist hier glaube ich nicht so wichtig, als die Art, wie du sie erzählst.
Ich würde keine längere Story daraus machen (vor allem, wenn es bereits ähnliche gibt), sondern sie eher extrem verkürzen.

Den Beginn finde ich gelungen, der Leser wird gleich ins Wasser geworfen. Zuerst denke ich mir zwar „schon wieder so eine Drogenjunkie-Story“, aber immerhin hat mich der Anfang animiert, sie überhaupt weiter zu lesen.
Der Schmerz ist schön plastisch dargestellt, dass Schweißbäche allerdinngs „rasen“, ist wohl etwas arg übertrieben.

Die Rückblende auf das menschliche Leben „davor“ kommt mir zu allgemein rüber (und ich laufe im Hier und Heute eigentlich auch nicht ständig voller Angst vor einer möglichen Krankheit herum). Ich habe den Abschnitt eigentlich nicht als persönliche Erfahrung der Kinder gelesen, hätte es aber lieber so gelesen. Anstelle des „Geschichtsunterrichts“ würde ich tatsächlich eher ein kleines Einzelschicksal zusammenstellen, von dem die Geschwister in einem der Bücher/Videos erfahren haben, einen Mann beispielsweise, der von div. Krankheiten geplagt wurde.
Dieser Absatz sowie all die nachfolgend eingeschobenen Geschichtsunterrichte fine ich langweilig und breitgetreten, das würde ich auf ein Minimum und auf das absolut wesentliche reduzieren – oder wie oben angeregt, doch personifizieren (Leas Großeltern ging es so und so, während es den Eltern dann so und so ging u.s.w.) - und mich auf die Geschichte der Hauptpersonen beschränken.

Hier trotzdem ein kleiner Einwand zur Historie:
Ein einzelner, unbekannter chinesischer Forscher klingt für mich unglaubwürdig. Es sind die großen Pharmakonzerne, die neue Wundermittel entwickeln.

Im Teil mit den Dialogen muss nicht hinter jedem Satz eine Leerzeile sein.

"Teil mit mir deine Ration, bis ich was Anderes gefunden habe."
klingt irgendwie nicht natürlich und ist auch zu direkt. Vielleicht eher so: „Du hast doch bestimmt noch eine Reservedosis/packung irgendwo gehortet ...“ Die nachfolgenden Sätze müssten dann natürlich angepasst werde. Es reicht dann auch, wenn er das nur einmal sagt, „er werde etwas Anderes finden“.

Sie dreht ihren Kopf beschämt weg, und man meint, dass sie gleich zu weinen beginnen könnte.
Finde ich mit dem „man“ unglücklich formuliert. Ich würde es ganz einfach klassisch formulieren: Sie dreht ihren Kopf beschämt weg und unterdrückte ihre Tränen.

Die Goldenen bekamen auf Grund ihres verlängerten Lebens und ihrer höheren Fruchtbarkeit im Schnitt bis zu sieben Kinder.
Noch höhere Fruchtbarkeit? Die gibt es jetzt schon, wenn man sich die Weltbevölkerung ansieht.

Lea rast mit enormer Geschwindigkeit durch die Straßen von Hamburg.
Plötzlich rasen sie durch Hamburg, gerade eben lag er noch auf der Straße. Hatte Lea da eine Idee oder Entscheidung gefällt. Irgend so etwas würde ich da vorne dran stellen.

Der statt Die Schüttelfrost.

Er muss seit Tagen nichts gegessen haben, denkt sich Lea, und alles was er herunter bekommen hat, muss ihm gleich wieder hochgekommen sein.
"Nichts gegessen" durch "kaum etwas gegessen" ersetzen, sonst könnte er nicht kotzen.

Ich könnte noch weitere Details herausarbeiten, will aber jetzt noch schnell zum Schluss kommen.
Der chinesische Sprechtext ist wirklich fehl am Platz (auch wenn du dir viel Mühe damit gemacht hast).
Vielleicht ganz einfach:
„Äh, ... Hallo?“ begann Lea. Sie sprach ihn auf chinesisch an, denn das war die offizielle Amtssprache im Konzern.

Am Ende stört mich noch der letzte Satz (vor allem das „schießen“).
Verschiedene Varianten fallen mir spontan ein:
Sie betrachtete ihren Bruder, während Tränen in ihre Augen traten.
oder:
Mit nassen Augen betrachtete sie ihren Bruden und fragte sich, ob er so etwas wirklich auch für sie tun würde.
oder ganz was anderes:
(Wenn es dir gelingt, weiter oben eine „persönliche“ (Urlaubs-) Erinnerung an die früheren Menschen einzubauen)
Sie dachte, wie schön es wäre, Urlaub am Strand zu machen.

Oh – habe gerade bemerkt, dass der letzte Beitrag über 6 Monate zurück liegt.
Aber jetzt habe ich es schon geschrieben.
Ich hoffe, die Kritik hilft dir trotzdem noch etwas.
 

Gonzo

Mitglied
Hallo Victor,

erstmal Danke fürs Lesen und den Kommentar. Ich gebe dir in allen Kritikpunkten recht, allerdings ist dieser Text, wie du richtig bemerkt hast, schon knapp zwei Jahre alt, und das war einer meiner ersten literarischen Texten, die ich zu schreiben versucht habe; ich würde mal sagen, ich bin mittlerweile ganz woanders in der Schreiberei, das war sozusagen echt ein erster Gehversuch - deswegen werde ich voraussichtlich auch nicht mehr groß an ihm herumschrauben. Ich hoffe, du bist jetzt nicht enttäuscht oder so, ich treibe mich auch kaum noch in diesem Forum herum, ich hoffe es war wenigstens für dich eine gute Übung, den Text zu rezensieren; ich finde auch, du hast die Schwachstellen gut erkannt.
Gutes Gelingen dir noch!

Grüße
 



 
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