Wie ein Stein

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Rainer Heiß

Mitglied
Wie ein Stein, der ins Wasser fällt, und dessen Kreise, die sich um ihn enger ziehen und ihm schließlich in die Tiefe folgen.


Nach und nach einen Bereich nach dem anderen aufgeben, sich langsam vom Leben abschneiden, einschnüren lassen. Schritt für Schritt reduziert, die Luft zum Atmen ist das Letzte, was zunächst bleibt, dann nichts mehr.

Rückzug aus der Öffentlichkeit, aus dem gesamten gesellschaftlichen Leben, Entfremdung von allem, was außerhalb der Haustüre stattfindet. Vor sich geht. Beobachtung, Unsicherheit draußen, Geborgenheit hier.

Einmal wöchentlich Lebensmittel kaufen. Menschen. Immer die gleiche Kassiererin. Erinnert sie sich an mich? Kennt sie mich schon, meine Zeit, meine Warenpalette? Blickkontakt beim Bezahlen. Heim, die Vorräte verstauen. Dann schlafen.

Träume vom Übergang, Interessen, die sich einstellen werden. In Wahrheit gar nichts. Hoch trabende Illusionen vom Wert der Literatur. Flucht in den Schöngeist scheint nicht nur erträglich, sondern erstrebenswert. „Weiterentwicklung“.

Gelegentliche dilettantische Versuche, hoffnungsvoll (?) und aufdringlich veröffentlicht. Bücher als Sammelobjekte. Ungelesene Bibliothek. Fassade zwischen mir und mir in mir und mir in ihnen.

Täuschung auch darüber, andere seien noch zu täuschen. Seltener werdende Kontakte außerhalb der Berufswelt. Mein Ich in ihnen längst verblasst. Nur ich bin noch zu täuschen. Lückenlose Verdrängung der Realität.

Sich abwechselnde Fast-Kontakte. E-Mail, seltener Telefon, jeweils etwa eine Woche bis zehn Tage anhaltend, dann Monate der Kontaktlosigkeit, dann wieder andere ehemalige oberflächliche Bekanntschaften. Freundschaften keine.

Kultivierung der Unverwundbarkeit. Alles wird auf die Katastrophe ausgerichtet. Musik, auch die verbleibende Literatur, mehr bleibt nicht. Scheinbar – ich täusche mich? – ironische Freude an der Depression.

Gold glänzende Melancholie, edle Einsamkeit, Hoher Dienst, hohes Leiden. Ritterlichkeit. Blau. Erhabenes, nur leider unbemerktes Dasein. Irgendwann wird diese edle Existenz entdeckt und gefeiert werden.

Literatur nur mehr sporadisch. Fernsehserien. Vergeudete Blicke aus dem Fenster. Früher – dank zunächst funktionierender Täuschung -, ob jemand komme. Doch mein Stellplatz (obwohl ich kein Auto besitze!) bleibt leer.

Inzwischen schweigt auch das Telefon. Die Kontrolllampe des Anrufbeantworters leuchtet durchgehend. Kein Interesse mehr an mir. Alle Verbindungen gekappt. Per E-Mail ausschließlich Neues vom Büchermarkt. Obwohl ich nicht mehr kaufe.

Meine Wohnung ist die Tiefsee. Das Hochgebirge. Unendliche Weiten. Noch dringen fremde Geräusche in meine Welt. Woher kommen sie? Das ist der Unterschied zwischen Singles und Alleinstehenden.

Psychische Entfernung von der Restbevölkerung. Dann körperliche Verwahrlosung. Leben im Liegen. Dazu ruhige Musik. Mozarts Requiem, allen Ernstes. Wunderbare Morbidität. Gegenwart des Todes. Mich kann nichts mehr überraschen.

So wie nach Feuerbach der Mensch – entgegen seiner offenkundigen Unzulänglichkeit – sich den Gott geschaffen hat als Projektion der Vollkommenheit, so belächle ich hochnäsig den allgemeinen Verfall. Stichwort: Sitten!

Noch vermessener: Stichwort: Bildung! Flucht als Vorbild. Wissenschaft. Herüber und zu sich hinab ziehen als Lehrer die Lebenden in das Reich des Todes. Ein ehrlicher Beruf. Ein bedeutendes Studium. Eine wichtige Aufgabe.

Gefallen am Schönen, der Antike, Sinnlosigkeit als Geschäft. Anfangs regelmäßige Flucht in die Toscana. Karg und doch weich. Morbide und kultiviert. Dann wird auch dieses – nie als solches sich selbst eingestandene – Vorhaben eingestellt.

Vor Jahren noch Aufregung bei Zugfahrten. Mögliche Bekanntschaften. Die letzte Bahncard heute längst abgelaufen. Heimat nur noch in mir. Die Städte wechseln. Die Wohnungen wechseln. Nur ich bleibe. Und der Himmel über mir.

Die Scheiben beschlagen. Die Jahreszeiten ziehen unbemerkt vorüber. Nur in mir kennt mich noch jemand schemenhaft. Die Welt berührt mich nicht mehr, die Restmenschheit schon lange. Nur in mir.

Selbstmordgedanken sind lächerlich. Schließlich müsste man leben. Längst tiefgefroren, doch noch mit der Illusion, in einer Zukunft aufgetaut zu werden, die Zukunft würde mich auftauen. Mich selbst auftauen zu können.

Die letzten, enttäuschenden Kontakte beendet, mit der siegessicheren Gewissheit, ihre Strafe sei einst das Alter, dann der Tod. Selbst davon nicht betroffen. An mir perlt das Leben ab. Oberflächenlosigkeit.

Zu tief bin ich längst schon in mir, um mich noch selbst von außen betrachten zu können. Auch die Haut stumpf und grau mittlerweile. So wie sie früher von mir ausgegangen sind, so ist jetzt der letzte Kreis wieder in mir, sagte der Stein.



Wie ein Stein, der ins Wasser fällt und seine Kreise um sich enger zieht und sie so schließlich mit sich in die Tiefe nimmt.
 
S

Sansibar

Gast
Bedrücken

Hallo Rainer,
ich hoffe, dieser Zustand der Trostlosigkeit ist nicht wirkllich, real, jetzt. Vielleicht hast du es mal so erlebt - mindestens, sonst könntest du den Zustand der verinnerlichten Einsamkeit nicht beschreiben. Dennoch steckt etwas sehr depressives in deinem Text, so wenig von kommenden Hoffnungen, so destruktiv nehmen sich bestimmt einige Menschen wahr, sie sind krank und bedürfen der Aufmerksammkeit und der Liebe, die ich für mächtig halte.
Wäre genung Liebe in der Welt - wir lebten im Paradies!
Schaffen wir es uns, es ist eine schwere Aufgabe.
Gruß Sansibar
 

Rainer Heiß

Mitglied
Hallo Sansibar,

ähnlich habe ich mich tatsächlich schon gefühlt; ist bei mir aber nicht dramatisch, weil ich, was mein Gefühlsleben angeht, wilden Schwankungen ausgesetzt bin, obwohl ich eigentlich keinen Grund zu jammern habe; höchstens so alltäglicher Kram, über den ich später gelegentlich sogar schmunzeln kann.
Trotzdem sollte man natürlich ein Ziel im Blick haben, das über den Alltag hinausreicht - danke für die Erinnerung!
 



 
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