Wie eine Maschine einem Jungen die Augen öffnete

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Heimlich still und leise huschte Steven durch die dunklen Gassen der Stadt. Über ihm ragten dieGebäude in die Höhe und schienen bis an die Höhlendecke zu reichen, unter der sich schwarzer Dampf sammelte, der von roten Gewitterblitzen erhellt wurde. Während er an Fabrikgebäuden vorbeilief, die Tag und Nacht in Betrieb waren und dabei fortwährend schwarzen Rauch in die Luft spien, ließ er sich immer wieder die letzten Worte seines besten Freundes durch den Kopf gehen. 

"Denke immer daran, mein liebes Säugetier. Die Welt da oben ist riesig und wartet nur darauf entdeckt zu werden!"

Steven musste schmunzeln, als er daran dachte, wie er von dem Maschinenwesen genannt wurde. Kupferkessel lehnte es vehement ab, ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen, was wohl eine Eigenheit von ihm oder sogar seiner gesamten Rasse war. Schade das er der einzige seiner Art hier unten war. Steven hätte gerne mehr von ihnen kennen gelernt. Schon immer hatte er sich für Maschinen interessiert und die Tatsache, das Kupferkessel ein so hoch entwickeltes Wesen mit einem solch erstaunlichem Intellekt war, ließ ihn immer wieder erschauern. 
Doch es war nicht nur die Faszination an dem Wesen selbst, die ihn immer wieder zu ihm trieb. Es waren vor allem die Geschichten, die die Maschine zu erzählen hatte. Kupferkessel war so alt, das er sich noch an die Zeiten vor dem Krieg erinnerte. An Zeiten, in denen sein Volk noch an der Oberfläche unter freiem Himmel gelebt hatte. Diese Geschichten waren fast zu unglaublich, um wahr zu sein aber das war Steven egal. Er wollte einfach daran glauben, das sie die Wahrheit wiedergaben und die Wunder, von denen die Maschine ihm erzählt hatte, der Wahrheit entsprachen.

Langsam ließ er das Industriegebiet der Stadt hinter sich, bis er die Ausläufer des Pilzwaldes erreicht hatte, der die Stadt im Westen umgab. Er ließ sich dabei Zeit nach Hause zu laufen und genoss dabei die Augenblicke, in denen die riesigen braunen Pilze ihre Sporen abwarfen und den frühen Morgen mit einem schweren, nussigen Duft erfüllten. Während er seinen Gedanken nachhing, fiel sein Blick auf die runden Schatten auf dem Boden, die von den Kappen der Pilze erzeugt wurden. Immer wieder traten die Schatten hervor, als ein weiterer Blitz an der Höhlendecke erzeugt wurde und die Umgebung in rotes Licht tauchte.
Unwillkürlich musste sich Steven fragen, wie sich wohl Sonnenstrahlen auf seiner Haut anfühlten und wie es war, in den blauen Himmel zu blicken, von dem Kupferkessel ihm schon so oft erzählt hatte. Langsam aber sicher erreichte Steven das einzige hölzerne Haus inmitten des Waldes. Sein Zuhause. So leise wie möglich öffnete er die Tür und trat ein. Doch das wäre gar nicht nötig gewesen, denn nachdem er nur einen einzigen Schritt in das Haus getreten war, hatte er seine Mutter gesehen. Sie saß mit geröteten Augen am Esstisch und starrte ihn vorwurfsvoll an. Steven fühlte sich sofort ertappt und war sich nun nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee gewesen war so lange weg zu bleiben. Es war offensichtlich, das seine Mutter geweint und sich Sorgen um ihn gemacht hatte. Doch bevor er auch nur ein einziges Wort zu seiner Verteidigung sagen und sich erklären konnte, kam sie ihm zuvor.

"Du warst wieder bei diesem Ding, oder?"
Steven wusste, was jetzt kommen würde und blieb still. Er hatte den Monolog seiner Mutter schon oft gehört. Jedes mal war es das gleiche, wenn es um dieses Thema ging.
"Ich habe dir schon so oft gesagt, das es dir nur Lügen erzählt und dich verdirbt! Du kennst die Geschichte unseres Volkes! Was glaubst du, warum diese Maschine hier in  unserer Stadt ist und nicht bei seinem eigenen Volk? Es wurde ausgestoßen, weil es verrückt ist und Lügen über die Oberfläche erzählt!"
Empört über die Wortwahl seiner Mutter schrie Steven sie an und brachte sie damit aus dem Konzept.
"Hör auf ihn ein Es zu nennen! Er ist genauso lebendig wie du und ich! Er hat eine Persönlichkeit und fühlt genauso wie ein Mensch. Er ist nicht nur außergewöhnlich intelligent, sondern vor allem mein Freund!"
Jetzt war es Stevens Mutter, die regelrecht aus der Haut fuhr und dabei rot anlief.
"Das ist genau das Problem! Es hat dich schon so weit manipuliert, das du es einen Freund nennst. Ich weiß nicht, was es damit bezweckt aber es kann nichts gutes sein. Die Welt an der Oberfläche ist TOT und das weißt du ganz genau!  Jetzt geh auf dein Zimmer, ich verbiete dir, das Ding noch einmal zu besuchen!"

Enttäuscht von seiner Mutter, lief Steven die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Diesen Streit konnte er nicht gewinnen aber zumindest musste er sich nicht daran halten, was Mary - seine Mutter - von ihm verlangte. Er glaubte kein Wort von dem, was sie ihm erzählte. Was sollte Kupferkessel davon haben, ihn zu manipulieren und zu benutzen? Nein, Mutter lag falsch. Es ist genauso wie es ihm das Maschinenwesen erzählt hatte: Die Alten dieser Stadt lebten schon viel zu lange hier und hörten immer wieder den Lügen der Hochwohlgeborenen zu, die täglich darüber predigten, wie gut sie es alle hatten noch am Leben zu sein und was mit ihnen passieren würde, wenn sie auch nur einen Tag an der Oberfläche verbrächten. Anstatt die Wahrheit zu suchen, blieben die Menschen in der Stadt und arbeiteten sich in den  Fabriken zu Tode.
Und wofür? Ja, wofür eigentlich? Lebten sie nur hier unten um zu arbeiten? Hatte niemand ein richtiges Ziel vor Augen? Hatten die Menschen vergessen, wie es war zu träumen? Wie es  war, den Wind auf der Haut zu spüren, während man über grüne Wiesen lief und sich dabei von der Sonne den Rücken wärmen ließ? War es falsch, so etwas zu träumen? War es falsch daran zu glauben, das es die Möglichkeit gab genau diese Träume Wahr werden zu lassen und die Weiten der Welt zu erkunden?

Nein.

Morgen würde Steven zu Kupferkessel gehen und ihn um weitere Geschichten bitten. Während dem Jungen diese Fragen im Kopf herumschwirrten und ihn noch minutenlang quälten, schlief er allmählich ein. Nach einem kurzen, traumlosen Schlaf, erwachte der Junge wieder und war sofort hellwach. Er konnte es kaum erwarten Kupferkessel zu besuchen und noch mehr Geschichten zu hören. Der Streit mit seiner Mutter war vergessen, denn solange er ihr versprach Kupferkessel nicht mehr besuchen zu gehen, würde sie zufrieden sein. Von welchen Wundern würde die Maschine heute erzählen? Egal was er erzählen würde, Steven würde ihm zuhören und sich nicht von der Stelle bewegen, bis es spät wurde.
So setzte er sich an den Frühstückstisch, begrüßte seine Mutter mit einem knappen "Guten Morgen." und betrachtete die gebratenen Pilze auf seinem Teller. jeden Tag gab es das gleiche zu Essen - wieder ein Grund von der Oberfläche zu träumen, auf der es laut Kupferkessel von exotischem Essen gerade so wimmelte. Besonders Fisch wollte er einmal probieren. Steven ignorierte das Essen und stocherte gedankenverloren darin herum, bis ihm etwas auffiel. Sein Vater war nicht am Esstisch, was ungewöhnlich war, da seine Schicht in der Fabrik eigentlich noch nicht angefangen haben konnte.
"Wo ist Paps? Ist er schon arbeiten?"
Seine Mutter zögerte einige Sekunden und sah ihn ernst an. Die Antwort erschütterte Steven zutiefst.
"Ich habe ihm von deiner Freundschaft zu dem Maschinenwesen erzählt und wie es deine Gedanken vergiftet. Dein Vater ist gerade unterwegs zu den Wächtern. Wir werden das nicht länger zulassen. Das Wesen muss von hier verschwinden, zur Not mit Gewalt."
Steven starrte seine Mutter einige lange Sekunden ungläubig an. Wie konnten seine Eltern nur so handeln? Die Wächter waren skrupellose Inquisitoren, die die Ansichten der Hochwohlgeborenen zur Not auch mit Waffengewalt zu verbreiten. Sie wurden nur in den seltensten Fällen gerufen, um zum Beispiel Unruhestifter daran zu hindern, ihren Irrglauben oder Chaos zu verbreiten. Wenn die Wächter die Geschichte seines Vaters hörten, würden sie mit Waffengewalt und der in ihnen wohnenden Magie gegen Kupferkessel vorgehen und ihn dazu zwingen die Stadt für immer zu verlassen - wenn er Glück hatte.

Die Maschine hatte ihn schon vor einigen Tagen aufgeklärt, was in dieser Stadt gespielt wurde und wie die Menschen hier unter Kontrolle gehalten wurden. Er wusste nun genau, was passieren würde, wenn er seinen Freund nicht rechtzeitig warnte.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, rannte er aus dem Haus und ignorierte die Rufe seiner Mutter, die versuchte ihn zur Vernunft zu bringen. So schnell er konnte, rannte er durch den Wald, das Industriegebiet und die Innenstadt. Dabei achtete er darauf alle Abkürzungen zu nehmen die er kannte, denn das wichtigste war jetzt Kupferkessel zu warnen, damit dieser sich noch retten konnte. Vor Anstrengung keuchend, erreichte Steven schließlich die Innenstadt und die vielen verwinkelten Gassen, die die anscheinend willkürlich gebauten Wohnhäuser und Geschäfte bildeten. Jetzt war er in seinem Element. Es war nicht das erste mal, das er Kupferkessel besuchte und so kannte er den schnellsten Weg zu seinem Haus, das am anderen Ende der Stadt, am Fuße der großen Schlucht lag. Schwer atmend ließ er sich nicht durch die Menschen aufhalten, die in die entgegengesetzte Richtung und vermutlich zu den Fabriken unterwegs waren - zur Not stieß er sie sogar zur Seite, was ihm einige böse Blicke und Flüche einbrachte. Aber das war Steven egal, denn das einzige was jetzt zählte, war seinen Freund zu retten.
Als er endlich das Ende der Stadt und damit die Schlucht erreichte, hetzte er die steilen Stufen herunter und sein Blick streifte den kahlen Höhlenboden, der sich scheinbar kilometerweit zwischen den zwei steil aufragenden Wänden erstreckte. Dann traf sein Blick das kleine verfallene Gebäude, das direkt am Ende der Treppe lag - das Zuhause von Kupferkessel. Steven strengte sich noch ein letztes mal an und rannte die Treppen herunter – immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Er stieß die Tür des Gebäudes auf, was ihn fast dazu gebracht hätte auf den letzten Metern hinzufallen, als die Tür aus den Angeln brach und mit einem lauten Scheppern auf den Boden fiel.

Schwer atmend stemmte der Junge die Hände in die Hüften und sah sich nach seinem Freund um. Er war nirgendwo zu sehen.
"Kupferkessel, du bist in Gefahr und musst sofort von hier verschwinden! Die Wächter sind auf den Weg hierher!"
Einen Moment war es still und Steven hoffte schon, das die Maschine irgendwie von dem Problem erfahren hatte und nun schon längst verschwunden war. Doch dann hörte er das vertraute Rattern, das von den Raupenketten Kupferkessels erzeugt wurde. Wenige Sekunden später, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, rollte das Wesen aus der gegenüberliegenden Tür. Der mit glühenden Kohlen gefüllte 
Kupferkessel glühte leicht in der Dunkelheit des Raumes und erlaubte dadurch den Blick auf den restlichen Körper der Maschine. Er bewegte sich auf zwei Raupenketten vorwärts, während dem Kessel selbst nicht nur ein Schlot entsprang - der unablässig schwarzen Kohlerauch ausspie - sondern auch 
vier Arme, die in klauenartigen Händen endeten. Der "Kopf" des Wesens, war dem eines Menschen nachempfunden - zumindest so gut es ging. Anstatt Augen, blickten den Jungen zwei rot glühende Gläser an.
"Nicht so hastig, mein liebes Säugetier. Du solltest lernen die Eile, die in deinen Körpersäften verankert zu sein scheint, abzulegen. Du siehst besorgt aus und möchtest bestimmt keine Geschichte hören. Wie kann ich dir helfen?"
"Jetzt ist keine Zeit für Belehrungen oder Geschichten, Kupferkessel! Die Wächter sind auf dem Weg hierher, um dich zu töten! Du musst verschwinden!"

Doch anstatt sich sofort auf den Weg zu machen - wie Steven es erwartet hatte - blieb Kupferkessel einfach wie angewurzelt stehen. Leider war das Gesicht der Maschine nicht fähig Gefühlsregungen wiederzugeben und so konnte der Junge nicht erkennen, was in seinem Freund vorging. Vorsichtig warf er einen Blick auf die Treppe, die die Schlucht herabführte und stellte zu seinem Erschrecken fest, das vier schwer gerüstete Männer gerade dabei waren, den Weg herunterzugehen. Selbst aus der Entfernung konnte der Junge die polierten und glänzenden Rüstungen erkennen, die die Männer trugen. Sie schienen nicht bewaffnet zu sein aber die wahre Gefahr ging, wie jeder Bewohner der Stadt wusste, von ihren magischen Kräften aus. Kupferkessel und er hatten vermutlich keine zwei Minuten, bis die Wächter das Haus erreicht hatten.
"Beeil dich Kupferkessel, sie sind schon fast da!"
Plötzlich geriet die Maschine in Bewegung und ratterte durch die Räume des kleinen Hauses - den Jungen im Schlepptau. Die Stimme Kupferkessels war voller Sorge, als er mit einem seiner vier Arme einen versteckten Knopf hinter einem Schrank drückte und Steven einen Vorschlag machte.
"Bleib hier. Sie werden dir nichts tun, wenn du ihnen sagst das ich dich gegen deinen Willen festgehalten habe. Ich hoffe ich konnte dir die Wahrheit zeigen und deinen Geist für neue Erfahrungen öffnen."

Ein Geheimfach in der Wand öffnete sich und gab den Blick auf zwei schwarze, mit Widerhaken besetzte Lanzen frei. Die Schäfte der Waffen waren mit tausenden feinen geometrischen Formen verziert. Ungläubig sah Steven dabei zu, wie sein Freund jeweils eine Lanze in zwei seiner Hände nahm und mehrfach  probeweise in die Luft stieß. "Was hast du vor? Du musst fliehen!" Doch was auch immer für die seltsamen und verschlungenen Gedankengänge der Maschine verantwortlich war, hatte anscheinend keine Flucht vorgesehen.
"Du musst jetzt gehen. Nur zwei Wege führen aus dieser Schlucht heraus und solange die Wächter mich verfolgen, kann ich keinen der beiden benutzen. Mir bleibt nur der Kampf."
Steven wusste das Kupferkessel Recht hatte und wenn er jemals die Wunder an der Oberfläche sehen wollte, müsste er überleben. Gleichzeitig ängstlich, verwirrt und um seinen Freund besorgt, bewegte sich der Junge allerdings keinen Meter von der Stelle.
"Sie werden nicht darauf reinfallen, das du mich festgehalten hast. Mein Vater hat ihnen alles erzählt." Der Sprechvorrichtung der Maschine entrann etwas, das einem Seufzen sehr Nahe kam. "Ich wollte dich wirklich nicht in Gefahr bringen aber du hast Recht. Wenn die Wächter wissen, das du öfters bei mir warst, werden sie glauben das deine Gedanken vergiftet sind. Bleib hier und versteck dich, ich werde sie aufhalten."
Stevens Sicht wurde verschwommen, als sich Tränen in seinen Augen bildeten. Wenn Kupferkessel die Wahrheit sagte, dann konnte er nie wieder zurück. Hatten seine Eltern gewusst, das es soweit kommen würde? Sie kannten die Gesetze noch besser als er und mussten geahnt haben, was ihm blühte. Die Wächter waren nicht bekannt dafür Gnade walten zu lassen – für sie zählte nur die Sicherheit der Stadt, ihrer Bewohner und dem Lügengebilde, das mit viel Kraft und Geld aufgebaut wurde. Wie dressierte Tiere folgten sie einfach ihren Befehlen, ohne darüber nachzudenken und ließen sich durch nichts aufhalten. Die Lage war aussichtslos.
Verzweiflung ergriff den Geist Steves. Er konnte nicht mehr klar denken, alles schien in sich zusammenzubrechen. Die Welt, in der er bisher gelebt hatte war ein einziges Lügengebilde. Erst jetzt schienen sich die Lehren und Geschichten der Maschine zu einem Ganzen zusammenzusetzen und offenbaren ihm die volle Wahrheit. Erst jetzt schien er alles wirklich zu begreifen und in diesem Moment hasste Steven das Maschinenwesen, denn ohne seine Geschichten und Lehren, hätte er ihm nicht die Augen geöffnet und er hätte weiterhin problemlos in der Höhle weiterleben können. Jetzt war alles zu spät. Steven blieb nichts anderes übrig als sich zu verstecken und mit anzusehen, wie sich sein Freund den Wächtern entgegenstellte und aus dem Raum rollte.

Während er völlig hin und hergerissen von den Ereignissen war und nicht wusste was er tun wollte, verkroch er sich noch tiefer in eine Ecke des Raumes und versuchte sich so klein wie möglich zu machen. Er wollte nur, das dieser Albtraum ein Ende nahm . So saß Steven dort weinend in der Ecke und wartete auf den Ausgang des unumgänglichen Gefechts. Doch so sehr er sich auch wünschte, das der Kampf vorbei war, bevor er überhaupt angefangen hatte – die Zeit verging quälend langsam und die Sekunden zogen sich wie Stunden dahin. Nach einer gefühlten Ewigkeit tat sich endlich etwas. Steven vernahm eine Stimme, die so laut war, das der Verursacher neben ihm hätte stehen müssen. Doch da war niemand.
"Hier spricht Richter Harkron. Ihr habt gegen Paragraph 3, Absatz 2 des Illetanischen Gesetzbuches verstoßen und werdet hiermit zur Rechenschaft gezogen. Ihr habt eine Minute Zeit um euch zu ergeben. Leistet keinen Widerstand und es wird euch nichts geschehen."
Nur zu gerne wollte Steven das glauben. Er war schon aufgestanden, als er sich an die Warnungen Kupferkessels erinnerte. Die Maschine hatte ihn vor den Wächtern gewarnt und gesagt, das sie nicht nur gefährlich und unberechenbar waren, sondern auch hinterhältig. Sie würden keine Möglichkeit auslassen um in einem Kampf einen Vorteil zu bekommen. Die ganze Situation verwirrte den Jungen.
Wem konnte er glauben? War es tatsächlich so wie seine Eltern sagten? Wurden seine Gedanken von der Maschine vergiftet? War er Opfer einer Manipulation geworden und stand momentan auf der falschen Seite? Zweifel nagten tief im inneren Stevens und zwei Teile in ihm kämpften um die Vorherrschaft.
Der junge Steven, der schon jahrelang hier unten lebte und die Lehren der Stadt in sich aufgenommen hatte und der ältere Steven, der neue Erfahrungen gemacht hatte und dessen Weltbild erschüttert worden war. Während er mit sich selbst kämpfte, vergaß er die Zeit und die Stimme Harkrons ertönte erneut direkt neben ihm. Sie war kalt und gefühllos. Anscheinend war die Minute zu Ende gegangen.
"Ihr habt die Chance auf einen fairen Prozess nicht wahrgenommen. Kraft des mir verliehenen Amtes, verurteile ich euch hiermit zum Tode."
Steven blieb fast das Herz stehen. Kupferkessel hatte Recht gehabt. Es schien so, als seien die Wächter von Anfang auf einen Kampf aus gewesen. So sehr er sich auch fürchtete, die Angst um seinen Freund, die Neugierde und der Wunsch nicht untätig zu bleiben trieben ihn in den Eingangsbereich des baufälligen Hauses. Er schlich durch das Haus und spähte vorsichtig durch das Fenster.

Die vier Wächter standen etwa zwanzig Meter vom Haus entfernt und waren damit beschäftigt etwas in den Boden vor ihren Füßen zu zeichnen. Steven konnte aus der Entfernung nicht erkennen was es war aber es mussten magische und arkane Symbole sein. Das rote Licht der Gewitterblitze an der Decke spiegelte sich bedrohlich in den polierten Vollrüstungen der Männer. Von Kupferkessel war nichts zu sehen, er schien verschwunden zu sein und gab kein Geräusch von sich, was für eine so laute Maschine mit seinen Ausmaßen erstaunlich war. Für einen kurzen Moment erfassten den Jungen wieder Zweifel. Hatte sein Freund ihn verlassen und war alleine geflohen?
Die Frage des Jungen wurde beantwortet als eine Lanze durch die Luft flog und einen der Wächter überraschte und regelrecht durchbohrte. Selbst aus der Entfernung und der Sicherheit des Hauses schien Steven den entsetzten und überraschten Blick auf dem Gesicht des namenlosen Wächters erkennen zu können, als er auf die Lanze starrte, die sich durch seine Rüstung gebohrt hatte.
Er fiel wie ein Stein um und war anscheinend sofort tot. Die übrigen Wächter beendeten ihr magisches Ritual und griffen in den Boden vor sich, als bestehe er aus Wasser. Fast simultan zogen sie schwere sehr scharf aussehende Schwerter aus dem Boden, die kein Ende zu besitzen schienen. Als sie schließlich gänzlich aus dem Boden gezogen waren, offenbarten sie sich als etwa eineinhalb Meter lange Zweihänder. Vorsichtig verteilten die Wächter sich und näherten sich dem Haus systematisch. Wie gefesselt beobachtete Steven das Geschehen, unfähig sich zu bewegen, auch wenn sein Verstand danach schrie sich in Sicherheit zu bringen. Er war zu Tode verurteilt, was tat er hier also noch? Er sollte sich so schnell wie nur irgend möglich in Sicherheit bringen und trotzdem bewegte er sich keinen Zentimeter vom Fenster weg. Trotzdem konnte er einfach nicht wegsehen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Wächter ihn entdecken würden.

Während er das Vorgehen der Wächter beobachtete, gab Kupferkessel sein Versteck schließlich auf. Die zweite mit magischen Symbolen verzierte Lanze flog durch die Luft und beschrieb einen Bogen, der genau beim Richter endete. Dieser wich der Lanze aber mit scheinbarer Leichtigkeit aus. Sie verfehlte ihn um mehrere Zentimeter und bohrte sich statt in den Körper des Mannes, tief in das dunkle Erdreich.
Das Versteckspiel hatte nun ein Ende und Steven musste mitansehen, wie sein Freund hinter dem Haus hervor rollte und auf die Wächter zustürmte. Das Metall seines Kessels hatte durch die Vorbereitung auf den Kampf eine rote Farbe angenommen und seine vier Arme wirbelten wild umher, jederzeit bereit sein Gegenüber aufzureißen.
Er raste  auf die schwer bewaffneten und gerüsteten Männer zu. Einer der Wächter wurde ganz einfach von der schieren Masse und Kraft der Maschine umgerannt, sodass er rückwärts auf den harten Erdboden fiel und regungslos liegen blieb. Wahrscheinlich war er nicht tot aber für den Moment außer Gefecht gesetzt, was Steven trotz der Gefahr freute. Denn auch wenn ihn diese Männer lieber tot als lebendig sehen wollten, ging es ihm nicht genauso. Er wäre lieber geflüchtet und hätte das Blutvergießen vermieden. Es war das erste mal, das er jemanden um sein Leben kämpfen und dabei versagen sah. Es war das erste mal, das er einen sterbenden Mann sah. Er hätte auf diese Erfahrung verzichten können aber im Moment war er zu
überwältigt und geschockt von den Ereignissen, sodass er sich gar nicht weiter mit diesem Thema beschäftigen konnte, sondern weiterhin gebannt dem Kampf zusah.

Nur noch der Richter und einer seiner Wächter waren übrig geblieben, die die Maschine gefährlich umkreisten und ihre Schwerter auf ihn niederfahren ließen. Kupferkessel wehrte den Großteil der Hiebe mit seinen Armen ab, die viel mehr aushielten als Steven anfangs gedacht hatte. So gut er sich auch schlug, die Wächter waren in der Überzahl und schienen langsam die Oberhand zu gewinnen. Während der Wächter Kupferkessel mit einem regelrechten Schlaghagel ablenkte, ließ der Richter sein Schwert gezielt auf die Schwachstellen der Maschine niederfahren. Einmal bohrte sich das Schwert tief in den Kessel der Maschine und hinterließ eine heiße dampfende Öffnung, aus der unablässig Dampf herausströmte. Ein anderes mal hieb der Richter so heftig auf den oberen linken Arm Kupferkessels ein, das dieser für den restlichen Verlauf des Kampfes nur noch nutzlos herunterhing. Doch keine Schmerzensschreie waren von der Maschine zu hören, nur wütende Schreie.
"Eure Rüstung wird euer weiches Fleisch nicht schützen."
Der Richter und sein verbliebener Wächter hatten nicht mit der verbissenen Verteidigung der Maschine gerechnet, denn diese hatte gegenüber den Menschen einen erheblichen Vorteil. Kupferkessel wurde nicht müde. Seit dem Anfang des Kampfes hatte seine Verteidigung nicht nachgelassen. So präzise wie nur eine Maschine Daten berechnen konnte, analysierte er die Situation und verarbeitete die Daten innerhalb von Sekundenbruchteilen, um die bestmögliche Reaktion herauszufinden. Der Richter und sein Wächter allerdings wurden langsam müde. Die schweren Rüstungen und Schwerter forderten auch bei diesen durchtrainierten, disziplinierten und ausgebildeten Männern ihren Tribut. Ihre Schläge wurden schwächer, die Bewegungen langsamer und sie fingen an Fehler zu machen, die Kupferkessel gnadenlos ausnutzte.
Schließlich war es soweit und mit einem finalen Angriff auf den ungeschützten Hals des Wächters vor ihm, setzte Kupferkessel seinem Leben ein Ende. Wie vom Blitz getroffen fiel der Mann um und benetzte die Maschine mit Bluttropfen, die durch die Hitze sofort anfingen zu zischen und sich auf dem heißen Metall einbrannten. Ein abartiger Geruch breitete sich auf dem Schlachtfeld aus, als sich nur noch der Richter und die Maschine gegenüberstanden.

Vorsichtig umkreisten sie sich, wobei jeder darauf achtete, sich keine Blöße zu geben. Steven blieb weiterhin hinter dem Fenster und beobachtete den Kampf aus sicherer Entfernung. Mehrere Sekunden passierte nichts. Niemand war gewillt, den ersten Schritt zu tun, bis der Richter schließlich einen Ausfallschritt wagte und mit seinem riesigen Zweihänder nach Kupferkessel hieb. Dieser hielt den Angriff mit seinen Klauen auf und wagte seinerseits einen Angriff. Ein wilder Kampf entbrannte zwischen den ungleichen Wesen. Während Kupferkessel weiterhin ohne Gnade kämpfte und seinen Vorteil als Maschine ausspielte, zog der Richter alle Register.
Immer wieder wich der Mann vor den Angriffen der Maschine zurück, doch was erst wie reine Verteidigungsmaßnahmen aussah, stellte sich schon nach wenigen Sekunden als Falle heraus. Der
Richter führte den ahnungslosen Kupferkessel über den magischen Kreis, aus dem er am Anfang des Kampfes sein Schwert gezogen hatte. Mit einem einzelnen, laut ausgesprochenen magischen Wort, löste er das Siegel und die Maschine versank einige Zentimeter im Boden. Ein Lächeln umspielte jetzt die Lippen des Richters, als er einige Schritte rückwärts lief, seine Waffe in den Boden rammte und sich seines Sieges gewiss war.
Er fing an eine komplizierte arkane Formel zu sprechen, die offensichtlich Teil eines Zaubers war. Schweißperlen rannten seine Stirn herunter, als die Formel ihren Tribut forderte. Kupferkessel versuchte derweil verzweifelt aus dem Treibsand zu entkommen, doch vergeblich. Eine kleine, türkis glühende und schnell größer werdende Energiekugel bildete sich in den Händen des Richters, die den Untergang der Maschine besiegeln sollte.

Steven konnte nicht mehr tatenlos herumstehen und entschloss sich endlich etwas zu tun. Er hatte Angst um sich selbst aber auch um seinen Freund und wenn er nichts tat, würde dieser sterben. Doch was konnte er nur tun? Er war kein Kämpfer und Magie wirken konnte er auch nicht. Kurzerhand nahm er ein Glas in die Hand, öffnete das Fenster und warf es ohne lange über die Konsequenzen nachzudenken auf den Richter.
Es verfehlte sein Ziel aber nicht seine Wirkung.
Das zersplitternde Glas lenkte den Richter für einen kurzen Moment ab, was seine Konzentration und damit auch die Formel unterbrach und die Kugel verschwinden ließ. Der Mann entdeckte den Verursacher dieses Angriffes und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Er zog das Schwert aus dem Boden und lief ohne Zeit zu verlieren in Richtung des Hauses. Damit war der Untergang des Jungen besiegelt. Steven sah dem Tod direkt ins Gesicht und war einen Moment starr vor Angst. Dann rannte er durch das Haus und versteckte sich im hinteren Raum.

Das letzte was Steven hörte, waren die schweren Schritte des Richters. Er schloss die Augen und erwartete sein Schicksal. Er versuchte noch nicht einmal sich zu wehren, denn er wusste, das er nicht den Hauch einer Chance hatte. Die Schritte kamen immer näher und er schien schon zu hören, wie der Richter das Schwert über seinen Kopf hob und dabei die Luft zerteilte.

In diesem Moment konnte Steven nur noch an die Personen denken, die ihm wichtig waren. Er dachte an Kupferkessel und an seine Eltern, die er trotz ihrer Taten noch immer liebte. Tränen rannen sein Gesicht herunter, als er an all das dachte, was er zusammen mit Kupferkessel hätte erleben können. Er dachte an die wunderbaren Dinge, von denen ihm die Maschine erzählt hatte.
Niemals würde er Gras unter den Füßen spüren, niemals würde er die Sonne sehen und niemals würde er Fisch essen. So viel schien ihm verwehrt zu bleiben und doch war er froh darüber, das er zumindest davon hatte hören können. Auch auf Kupferkessel war er nicht sauer, obwohl er im Prinzip für seinen Tod verantwortlich war.

Glücklich und traurig zugleich erwartete Steven den letzten Hieb des Richters. Doch nichts geschah. Ein Aufstöhnen und das Scheppern einer Rüstung waren nach einigen Sekunden zu hören. Dann war alles Totenstill, als hätte die Welt aufgehört zu existieren.

Lange Zeit passierte nichts und der Junge wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war bis ihn etwas an der Schulter berührte und ihn dazu brachte ein letztes mal zu schreien und seine Augen zu öffnen. Doch der Schmerz blieb aus. Er war noch immer am Leben.
Vor ihm stand sein Freund und hinter Kupferkessel lag der Richter, der von einer Lanze durchbohrt war. Steven war sprachlos und fragte sich überhaupt nicht, wie das Maschinenwesen dieses Wunder vollbracht hatte.

Er hatte überlebt und das war im Moment alles was zählte.
 

Lars Neumann

Mitglied
Die Idee an sich hat mir sehr gut gefallen. Gut umgesetzt, hatte sofort Bilder von City of Ember im Sinn. Das einzige was mich stört sind die, teilweise zu langen, Schachtelsätze. Die hindern mich immer am flüssigen lesen.

Außerdem ist mir folgendes aufgefallen:

Heimlich still und leise huschte Steven durch die dunklen Gassen der Stadt. Über ihm ragten [red]dieGebäude[/red] in die Höhe und schienen bis an die...

Immer wieder wich der Mann vor den Angriffen der Maschine zurück, doch was erst wie reine Verteidigungsmaßnahmen aussah, stellte sich schon nach wenigen Sekunden als Falle heraus. [red]Der
Richter[/red] führte den ahnungslosen Kupferkessel über den magischen Kreis, aus dem er am Anfang des Kampfes sein Schwert gezogen hatte.
War dieser Absatz so geplant?

Aber ansonsten sehr schöne Geschichte.
lg
 



 
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