Wie im Traum

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Nicole Nohr

Mitglied
Ich beobachte dich. Ich beobachte dich schon eine ganze Weile. Du sitzt da. An deinem Platz am anderen Ende des Raumes. Vorbeigehende Personen nehmen mir immer wieder die Sicht, aber ich lasse dich nicht aus den Augen. Ich, Emily Truman. Jahrgangsbeste. Schülersprecherin. Der Liebling aller Lehrer. Nein, halt - der Liebling fast aller Lehrer. Ich wünsche, es wäre anders. Ich hoffe es. Aber bei dir bin ich nicht sicher. Du bist undurchschaubar. Versteckst dich hinter deiner Fassade. Lässt niemanden in dich hineinschauen. Ich wünsche, ich könnte es. Noch so ein Wunsch von mir. Wenn ich dich ansehe, an dich denke, dann habe ich so viele Wünsche. Werden sie jemals wahr werden? Wahr werden können? Wahr werden dürfen? Ich weiß es nicht.
Ich sitze hier alleine an einem kleinen Tisch. Abschlussball. Das Ende ist gekommen. Die acht Jahre hier im Internat neigen sich heute Abend dem Ende entgegen. Morgen sitzen wir alle im Zug nach Hause. Im Zug in ein neues Leben. Nach nirgendwo. Pläne. Wünsche. Gedanken. Was wird die Zukunft bringen? Werde ich dich je wieder sehen? Man sagt, man sieht sich immer zweimal im Leben. Stimmt das? Ich hoffe es, glaube daran.
Ich beobachte dich noch immer. Aus der Entfernung. Wie ich es schon seit langer Zeit tue. Schweigen und Beobachten. Das ist meine Spezialität geworden, wenn es um dich geht. Meine Klassenkameraden haben es nicht bemerkt. Wie denn auch? Sie sind eben nur Jungs – nein, junge Männer, die nur Mädchen und Fußball im Kopf haben oder kreischende Mädchen, die für irgendwelche Stars schwärmen, die nächsten Monat schon niemand mehr kennt. Lernen, lesen, sich mit Problemen auseinander setzen, das ist ihnen fremd. Spaß ist ihre Devise. Probleme werden nicht gelöst, sondern ausgesessen. Aber du bist anders. Das fühle ich. Das spüre ich. Ein plötzlicher Tumult lenkt mich von dir ab. Vorne auf der Tanzfläche: Steve-ich-trau-mich-nicht-McMilliam hat es vor ein paar Minuten endlich geschafft und Hannah Smith zum Tanzen aufgefordert. Jetzt steht er mit ihr mitten auf der Tanzfläche, eng umschlungen. Die Lippen vereint. Die Schüler um sie herum applaudieren. Steve ist erwachsen geworden. Auch die anderen aus meinem Jahrgang amüsieren sich und haben ihren Spaß. Nur ich, die kleine Besserwisserin, die Spaßbremse, die Streberin, ich sitze hier alleine herum. Von niemandem beachtet. Meine Augen suchen dich. Schock. Dein Platz ist leer. Bist du gegangen? Wo bist du hin? Ich verfluche meine pubertierenden Mitschüler, die mich von dir abgelenkt haben. Der Abend scheint gelaufen. Ich will weg. Weg, aus dem Saal. In mir herrscht vollkommene Leere. Hier gibt es nichts was mich noch hält. Ich warte auf einen günstigen Moment, um unauffällig zu verschwinden. Aber da mich sowieso niemand beachtet kann ich gehen-sofort. Ich erhebe mich. Dann bringt eine sanfte Stimme mich halb in der Luft hängend zum Stoppen. „Sie wollen schon gehen, Miss Truman?“ Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Diese Stimme. Die Stimme, die mich jedes Mal fesselt, die unter die Haut geht. Deine Stimme. Ich werde unsicher. Was soll ich dir sagen? „Guten Abend, Mr. Miller“ höre ich mich. Du bist nicht gegangen. Ich lasse mich wieder auf meinen Stuhl fallen. Drehe mich zu dir um. Du stehst direkt vor mir. Zwei Gläser in der Hand. Du fragst, ob du dich setzten darfst. Ich nicke, unfähig etwas zu sagen. Du reichst mir ein Glas. Willst mit mir anstoßen. Warum ich hier so alleine sitze, möchtest du wissen. Was soll ich sagen? Kann ich überhaupt etwas sagen? Ich fürchte mehr als ein Krächzen wird mir nicht gelingen. Ich schweige. Du schweigst ebenfalls. Siehst mich mit deinen dunklen Augen an. Deine Augen, die mir schon so oft den Schlaf geraubt haben. Dunkel, wie ein Bergsee. Klar und doch undurchsichtig. Ich verliere mich, kann den Blick nicht von ihnen abwenden. Auch du hältst meinem Blick stand. Die Zeit bleibt stehen. Nur du und ich. Ich und du. Ich wünsche, der Moment würde nie vergehen. Ich versuche mir dein Gesicht einzuprägen. Jeden Quadratmillimeter. Als Erinnerung. Eine Erinnerung an meine erste große Liebe. Ja, das bist du. Ich bin mir sicher, habe oft und lange darüber nachgedacht. Du verursachst ein Kribbeln in meinem Bauch, wenn ich nur an dich denke. Das muss Liebe sein. Nicht verliebt sein. Liebe. Dein Gesicht zeigt Spuren. Ist nicht makellos. Die Jahre haben dich gezeichnet. Du bist älter geworden. Interessanter. Ein aufregender Anblick, der mich jedes Mal aufs Neue fesselt.
Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Du hast dich erhoben. Willst du wieder gehen? Ich langweile dich. Ich, deine Schülerin. Du bist mein Referendar, bist ältere Gesprächspartner gewöhnt. Aber ich irre mich. Du gehst nicht. Du streckst deinen Arm aus. Nimmst zärtlich meine Hand und ziehst mich hoch. Du lächelst mich an. Ein Lächeln auf deinem Gesicht scheint das größte Glück für mich zu sein. Ich habe dich nie lächeln gesehen. Du führst mich zur Tanzfläche, ziehst mich an dich heran. Ich bin wie in Trance. Funktioniere nur noch. Lasse alles mit mir geschehen. Ich spüre deinen Atem in meinem Haar. Du riechst gut, nach Kräutern und Männlichkeit und After Shave. Die Kombination raubt mir die Sinne. Wenn du mich jetzt loslässt, ich könnte nicht selbstständig stehen. Meine Beine scheinen aus Gummi. Aber du lässt mich nicht los. Willst mich nicht los lassen. Ziehst mich enger an dich heran. Das Lied ist zu Ende. Kurze Stille. Dann die ersten Takte des nächsten Liedes. Sanfte Klaviermusik. Du ziehst mich noch enger an dich heran. Ich lasse es geschehen. Die Welt steht wieder still. Es gibt nur uns Beide. Mann und Frau. Paul und Emily. Ich bin nicht mehr deine Schülerin. Du nicht mehr mein Referendar. Ich spüre deinen Atem an meinem Ohr. Du flüsterst mir zärtliche Dinge zu. Deine Hand streichelt sanft über meinen Rücken. Ich lege meinen Kopf an deine Schulter. Bin glücklich. Glücklich wie noch nie. Wünsche, dass dieser Moment ewig dauert. Du knabberst zärtlich an meinem Ohrläppchen. Dein Mund wandert meinen Hals entlang. Ich schließe die Augen. Halte die Luft an…
Plötzlich zieht jemand an meinem Arm. „Emily? Träumst du? Komm, beeil dich. Wir müssen zum Chemieunterricht.“
Ende
 



 
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