Wie lange noch

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Wie lange noch?

Schweratmend erhebt er sich. Die Arme auf den Sessellehnen abgestützt, bevor ein letzter Schwung ihn in die Senkrechte bringt. Das kaputte rechte Knie schmerzt bei jeder Bewegung und Belastung. Der Leib verkrampft sich in dauerhaftem Schmerz, der über den ganzen Körper ausstrahlt. Ein leises Stöhnen zwingt sich durch die fest zu-sammengekniffenen Lippen. Wie lange noch? Diesmal stellt er die Frage sich selbst.
Zum ersten Mal hat er, ‚es darf nicht sein‘, gemurmelt, als ihn wieder der Gedanke an den Tod anspringt und wie ein hungriger Tiger die Krallen in sein krankes Fleisch schlägt.
Schon lange weiß er, daß seine Tage gezählt sind. Nicht nur das Alter zeichnet Grenzen auf. Letztendlich hält ihn nur die Pflicht aufrecht. Er darf noch nicht seinen eigenen Gefühlen nachgeben. Dem Wunsch nach Ausruhen und Schlaf und wunderbarem Nicht-mehr-wach-werden-müs¬sen.
In seinem Alter ..., er verzieht die Lippen, als er durch die Tür zum Krankenzimmer, dem gemeinsamen Schlafzimmer, zu seiner Frau humpelt. Noch drei Schritte, dann muß er wieder gerade und aufrecht gehen, als wäre gar nichts. Diese verdammte Scheinwelt. Hinter seinen Augen schimmert es leicht feucht. Doch sie wird es nicht sehen und erkennen.
In diesem hohen Alter leben schon sehr viele nicht mehr. Viele haben einen Scheinfrieden in der Nutzlosigkeit des nicht mehr Gebrauchtwerdens. Da gibt es nur noch das Ableben der Zeit, ein Verbrauch der Stunden, eingegrenzt in Essen, Schlafen, Essen , Verdauen und ... endlich wieder ein Tag vorbei. Ein Tag, der den Rest des Lebens verkürzt, vielleicht der letzte ist. Viele vermögen diesem Alter und diesem Rest nichts mehr Gutes abzugewinnen. Trotzdem klammern sie sich eisern an dieses Stück Leben. Klammern, selbst wenn sich der Verstand ausklammert.
Länger als achtzig Jahre lebt er auf dieser Welt. Jahre, angefüllt von all dem, was ein Leben zu bieten hat. Die Bi-lanz an guten und schlechten Dingen hält sich die Waage. Er lebte stets gern und hatte auch viel Glück in seinem Leben. Auch oder gerade in den langen Jahren des Krieges, den er von Anfang bis Ende, an fast allen Brennpunkten mitgemacht hat.
Nein, er lebte gewiß nicht am Leben vorbei. Im Gegenteil, erlebt einer Liebe. Einer Liebe, die kaum ein Mensch verstehen, erleben oder nachvollziehen kann.
So sehr ihn auch der Schmerz zerreißt, bei diesen Gedanken wird alles anders. Das ist der Gegenpol zu seinem normalen Leben. Manchmal legt er die Mundwinkel in ein Lächeln, wenn er die Anzeigen in den Zeitungen liest: Potenzmittel für Männer im mittleren Alter. Weiß Gott, was mit diesen Menschen los ist. Er hat jetzt noch mehr davon, als viele junge Menschen. Vielleicht ist dies der Ausgleich zu seinem Leiden. Vielleicht holt sich der Körper darin und daraus Reserven. Kraft und Willen zum Überleben. Positives Denken unter der Last des Alltags. Jedoch ist es auch sehr oft Qual, weil er diese Gefühle nicht durchleben kann.
Selbst jetzt noch ist er vorsichtig bei der Menge des Essens. Bis zuletzt will er seine Fußspitzen beim Senkrecht-nach-unten-Sehen sehen können. Er hält sich sauber, gepflegt und ist geistig auf voller Höhe. Dafür ist er dem Schicksal dankbar.
Mit einem Lächeln beugt er sich über seine Frau. Sie muss sauber gemacht werden, will Kaffee trinken, muss gefüttert werden. Auf dem schwenkbaren Tablett stehen einige Nippesfiguren, die ihr immer gut gefallen haben. Sie soll es noch schön haben. Eine kurze Weile schauen ihre Augen wach und dankbar. Als er sich jedoch wieder ins Zimmer nebenan zurückziehen will, wehrt sie sich dagegen. Er darf nichts mehr für sich alleine haben, weder das Fernsehen noch vereinzelt Telefonate. Argwöhnisch verfolgt sie jedes Wort, fragt und gibt zitternd ihre Kommentare dazu. „Was wollen die denn von uns. Sie sollen uns in Ruhe lassen.“
Er schweigt zu diesen Vorwürfen, versucht immer wieder Verständnis für sie zu haben. Manchmal fällt es ihm schwer, aber er nimmt es hin. Schicksal.
Alleine dann, versucht er noch etwas von seinem Leben zu leben, wenn der Schmerz es möglich macht. Dann gehen seine Gedanken zu den Menschen, die ihm außer seiner Frau wichtig waren und noch sind. Wie lange noch ...
 
K

Kultakivi

Gast
Hallo Brigitte,

Ich finde deine Geschichte nicht schlecht. Du schreibst über das, was uns alle mehr oder weniger bewegt. Das Alter und den Tod.
Marcel-Reich-Ranicki hat einmal gesagt. Es gibt nur zwei Dinge, die es wert sind, dass darüber geschrieben wird: Das sind die Liebe und der Tod. Ich denke, da steckt viel Wahrheit drin. Du hast beide Themen in deiner Geschichte verarbeitet. Und zwar durchaus gelungen. Do könntest nur noch etwas an deiner Dramaturgie arbeiten, finde ich. Ich meine damit, den Aufbau der Handlung in deiner Story und einigen Wiederholungen. Du schreibst z.B.

Quote:
In diesem Alter leben schon viele nicht mehr.

Anschliessend wiederholst du das Wort Viele noch einige Male. Da würde ich etwas anderes nehmen. Z.B. Die meisten, der grösste Teil etc. An dieser Stelle schwimmt die Handlung gleichzeitig für ein Weilchen, da der Protagonist, der alte Mann sich zunächst über sein Alter beklagt, um anschliessend seine noch vorhandene Spannkraft hervorzuheben. Das erscheint mir ein wenig widersprüchlich. Insgesamt aber eine durchaus aussagekräftige Geschichte, die bei entsprechender Ausarbeitung richtig gut werden könnte.

Lg


Kultakivi
 



 
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