Wiedersehen im Netz

4,40 Stern(e) 7 Bewertungen
- Von einem, der auszog, sich nach Kythera einzuschiffen -

Das Internet ist eine fabelhafte Sache. Sie haben einen lieben Menschen dreißig Jahre nicht gesehen, nie mehr etwas von ihm gehört? Und Sie denken noch immer gern an ihn und fragen sich: Was macht er jetzt, wie mag es ihm ergangen sein? Wenn Sie nur den Namen noch wissen, kann Ihnen geholfen werden – zwei, drei Klicks und Sie sind wieder im Bild. Natürlich ergibt nicht jede Suche Treffer, sehr oft endet sie lakonisch mit Fehlanzeige. Ob die meisten von denen tot sind? Ich wüsste es gern im Einzelfall.

Häufig staune ich, welche Karriere manche noch geschafft haben. Beispielsweise machte ein in sich gekehrter norddeutscher Schulversager sich später als Ingenieur selbständig und wurde in einer süddeutschen Faschingshochburg der örtliche Vorsitzende einer ehemals großen Volkspartei. Chapeau!

Ich will nicht länger darum herumreden: Ich habe gestern hinter Frank – nennen wir ihn hier mal Frank – hergeschnüffelt und bin rasch fündig geworden. Franks Wiege stand in jenen sanften Hügeln, in denen ein großer Roman unserer Nationalliteratur spielt. Es ist die ultimativ ländlich-sittliche Gegend und natürlich sehr katholisch. Später studierte er Medizin in einem anderen Bundesland, und zu der Zeit kam ich vorübergehend ins Spiel. Frank hatte sich angewöhnt, ab und zu in die nächste Vergnügungshochburg zu fahren, wo er mir, selbst fremd dort, ins Auge fiel bzw. stach. Er war mittelgroß, eher breit als schmal, mit leichter Neigung zur Fülle. Unter dem dunklen Haar ein wirklich hübsches Gesicht, noch sehr jung und glatt, überglänzt von einer gleichmäßig zufriedenen Heiterkeit, die es einem unmöglich machte, die Gedanken und Gefühle unter der Stirn zu erahnen.

Er war privat untergekommen und nahm mich drei Nächte hintereinander mit, wenn die Bars gegen Morgen schlossen. Wir lagen in einem Durchgangszimmer auf einem Sofa und mussten leise sein. Die Straßenbahnen klingelten draußen schon und Katzen tobten in der Wohnung. War trotzdem schön. Einige Wochen später kam er für neun oder zehn Tage zu mir in meine Stadt. Das Semester war noch nicht vorbei. Frank hatte die Medizin bereits satt. Wahrscheinlich würde er das Studium abbrechen und an einem Schalter Tickets verkaufen und dann selbst billiger dahin reisen können, wohin es ihn am meisten zog - in die Staaten. Unter seiner glatten Stirn ballten sich schon die Schuldgefühle. Seine Eltern, die das Studium finanzierten, kannten ihren Sohn in Wahrheit nicht. Sie würden alles verurteilen - was er fühlte und was er dachte, was er tat und was er war.

Sich selbst nannte Frank ein wenig faul. In der Tat war sein Phlegma unübersehbar. Er war der ideale Passagier, um sich nach Kythera einzuschiffen, freundlich, gutartig, ganz unaggressiv und sehr genussfähig. Es gab in jener Vergnügungshochburg (und es gibt ihn noch immer) einen großen, berühmten Biergarten als Vorgeschmack auf Kythera. Das war Franks Lieblingsaufenthaltsort im Sommer.

Er lud mich zu sich ein. Ich bin nie hingefahren. Warum? Ich wusste, ich war nicht dafür geschaffen, auf jene glückliche Insel überzusiedeln. Wir wechselten noch eine Zeitlang Briefe.

Kurz nach seinem Besuch bei mir rasselte er durch eine Zwischenprüfung. Jetzt verspürte ich Schuldgefühle und er begann zu ackern. Er schaffte es im zweiten Anlauf. Dann verliebte er sich glücklich und infizierte sich fast zur gleichen Zeit mit einer damals in Mode gekommenen Krankheit. Später glaubte ich mich viele Jahre lang daran zu erinnern, gehört zu haben, er habe sein Studium tatsächlich abgebrochen. Ich sah ihn nie wieder. Für mich war er untergegangen, fortgerissen von der anschwellenden Flut der Jahre.

Heute weiß ich: Er ist nicht untergegangen. Er wohnt jetzt dort, wo auch der Autor jenes Romans, von dem ich oben sprach, lange gelebt hat. (Wie der Autor heißt? Das verrate ich natürlich nicht.) Frank ist doch Arzt geworden und hat eine ansehnliche Stellung am Hauptkrankenhaus der Stadt. Er ist Mitverfasser einer Studie über die Modernisierung des Krankenhauswesens, abgefasst in diesem scheußlichen BWL-Kauderwelsch und sogar ins Englische übersetzt.

Ich habe auch sein Bild gesehen. Ich erkenne ihn noch. Der Rundschädel. Die leicht zurückgebogene Kopfhaltung. Dennoch löste der Anblick einen Schock in mir aus: die Jahre, die Jahre! Auch Ärzte altern, doch das ist es nicht. Die Mimik - sie ist jetzt wehmutsvoll. Die Augen aufmerksam wie früher, nur jetzt ein wenig traurig. Die Lippen, verschlossen, sprechen von Entsagung. Von wegen: Kythera!
 
G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Lieber Arno

Da sind sie wieder: Der Ton, die Melodie, die Sprache, die einen wehmütigen Flow erzeugen und dabei doch hoffnungsvoll stimmen, denn der Leser merkt: Ich bin nicht allein. Auch andere fühlen so.

Danke für einen wunderbaren Text. Arno Abendschön wie ich ihn liebe.

LG,

CPMan
 
Liebe Delfine, lieber CPMan,

entschuldigt bitte, wenn ich euch hier in einem Aufwasch fürs aufmerksame Lesen und die freundlich lobende Reaktion danke. Da ihr beide euch vor allem auf die erzeugte Stimmung bezieht, ist es vielleicht erlaubt.

Wenn du, CPMan, offenbar beträchtliche Unterschiede in einzelnen Texten von mir erkennst, so kann das bei mir wie bei anderen Autoren auch auf der Wahl des Sujets im Einzelnen beruhen. Der Stoff gibt das meiste vor: Perspektive, Sprache usw. Und danach kommt dann noch zweierlei: der Schreibakt, der gelingen oder misslingen kann, und der Leseakt mit mehr oder weniger erreichter Befriedigung des Rezipienten, der ja kein Leseautomat, sondern ein Individuum mit Vorlieben und Abneigungen ist. Banal? Ja, schon, aber angesichts solcher subjektiver Faktoren, die auf beiden Seiten beteiligt sind, darf der Autor sich gewiss stets über Lob freuen, sollte jedoch Tadel möglichst kühl überdenken, ohne Kritik persönlich zu nehmen.

Nochmals danke für die Aufnahme dieses Textes.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

ThomasQu

Mitglied
Servus Arno,

lass den ersten Satz mit dem Internet weg und der Anfang ist gleich viel schöner.

Gruß, Th.
 
- Von einem, der auszog, sich nach Kythera einzuschiffen -

Sie haben einen lieben Menschen dreißig Jahre nicht gesehen, nie mehr etwas von ihm gehört? Und Sie denken noch immer gern an ihn und fragen sich: Was macht er jetzt, wie mag es ihm ergangen sein? Wenn Sie nur den Namen noch wissen, kann Ihnen im Netz geholfen werden – zwei, drei Klicks und Sie sind wieder im Bild. Natürlich ergibt nicht jede Suche Treffer, sehr oft endet sie lakonisch mit Fehlanzeige. Ob die meisten von denen tot sind? Ich wüsste es gern im Einzelfall.

Häufig staune ich, welche Karriere manche noch geschafft haben. Beispielsweise machte ein in sich gekehrter norddeutscher Schulversager sich später als Ingenieur selbständig und wurde in einer süddeutschen Faschingshochburg der örtliche Vorsitzende einer ehemals großen Volkspartei. Chapeau!

Ich will nicht länger darum herumreden: Ich habe gestern hinter Frank – nennen wir ihn hier mal Frank – hergeschnüffelt und bin rasch fündig geworden. Franks Wiege stand in jenen sanften Hügeln, in denen ein großer Roman unserer Nationalliteratur spielt. Es ist die ultimativ ländlich-sittliche Gegend und natürlich sehr katholisch. Später studierte er Medizin in einem anderen Bundesland, und zu der Zeit kam ich vorübergehend ins Spiel. Frank hatte sich angewöhnt, ab und zu in die nächste Vergnügungshochburg zu fahren, wo er mir, selbst fremd dort, ins Auge fiel bzw. stach. Er war mittelgroß, eher breit als schmal, mit leichter Neigung zur Fülle. Unter dem dunklen Haar ein wirklich hübsches Gesicht, noch sehr jung und glatt, überglänzt von einer gleichmäßig zufriedenen Heiterkeit, die es einem unmöglich machte, die Gedanken und Gefühle unter der Stirn zu erahnen.

Er war privat untergekommen und nahm mich drei Nächte hintereinander mit, wenn die Bars gegen Morgen schlossen. Wir lagen in einem Durchgangszimmer auf einem Sofa und mussten leise sein. Die Straßenbahnen klingelten draußen schon und Katzen tobten in der Wohnung. War trotzdem schön. Einige Wochen später kam er für neun oder zehn Tage zu mir in meine Stadt. Das Semester war noch nicht vorbei. Frank hatte die Medizin bereits satt. Wahrscheinlich würde er das Studium abbrechen und an einem Schalter Tickets verkaufen und dann selbst billiger dahin reisen können, wohin es ihn am meisten zog - in die Staaten. Unter seiner glatten Stirn ballten sich schon die Schuldgefühle. Seine Eltern, die das Studium finanzierten, kannten ihren Sohn in Wahrheit nicht. Sie würden alles verurteilen - was er fühlte und was er dachte, was er tat und was er war.

Sich selbst nannte Frank ein wenig faul. In der Tat war sein Phlegma unübersehbar. Er war der ideale Passagier, um sich nach Kythera einzuschiffen, freundlich, gutartig, ganz unaggressiv und sehr genussfähig. Es gab in jener Vergnügungshochburg (und es gibt ihn noch immer) einen großen, berühmten Biergarten als Vorgeschmack auf Kythera. Das war Franks Lieblingsaufenthaltsort im Sommer.

Er lud mich zu sich ein. Ich bin nie hingefahren. Warum? Ich wusste, ich war nicht dafür geschaffen, auf jene glückliche Insel überzusiedeln. Wir wechselten noch eine Zeitlang Briefe.

Kurz nach seinem Besuch bei mir rasselte er durch eine Zwischenprüfung. Jetzt verspürte ich Schuldgefühle und er begann zu ackern. Er schaffte es im zweiten Anlauf. Dann verliebte er sich glücklich und infizierte sich fast zur gleichen Zeit mit einer damals in Mode gekommenen Krankheit. Später glaubte ich mich viele Jahre lang daran zu erinnern, gehört zu haben, er habe sein Studium tatsächlich abgebrochen. Ich sah ihn nie wieder. Für mich war er untergegangen, fortgerissen von der anschwellenden Flut der Jahre.

Heute weiß ich: Er ist nicht untergegangen. Er wohnt jetzt dort, wo auch der Autor jenes Romans, von dem ich oben sprach, lange gelebt hat. (Wie der Autor heißt? Das verrate ich natürlich nicht.) Frank ist doch Arzt geworden und hat eine ansehnliche Stellung am Hauptkrankenhaus der Stadt. Er ist Mitverfasser einer Studie über die Modernisierung des Krankenhauswesens, abgefasst in diesem scheußlichen BWL-Kauderwelsch und sogar ins Englische übersetzt.

Ich habe auch sein Bild gesehen. Ich erkenne ihn noch. Der Rundschädel. Die leicht zurückgebogene Kopfhaltung. Dennoch löste der Anblick einen Schock in mir aus: die Jahre, die Jahre! Auch Ärzte altern, doch das ist es nicht. Die Mimik - sie ist jetzt wehmutsvoll. Die Augen aufmerksam wie früher, nur jetzt ein wenig traurig. Die Lippen, verschlossen, sprechen von Entsagung. Von wegen: Kythera!
 
Danke, Thomas. Das hat mir rasch eingeleuchtet. Der tatsächlich banal klingende Anfangssatz ist eliminiert, dafür habe ich "das Netz" in einem der folgenden Sätze noch eingebaut, um jede Unklarheit auszuschließen.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
Oben Unten