Windstille

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Annabeth

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Windstille
Zu einer Fotografie von Michael Bry (1962)

Auf der Straße hatte sich eine kleine Menschenmenge eingefunden. Sie franste an den Rändern aus, wenn Leute in Eile oder Leute, die das Interesse verloren hatten, ihren Platz verließen und weitergingen, doch es stießen immer wieder neue Zuschauer zu dem Kreis.
In der Mitte standen vier Männer. Zwei davon waren Polizisten. Ihre dunklen, steifen Uniformen umschlossen ihre Körper wie Gipsschalen und die Plaketten, auf denen BERKELEY, 87 POLICE stand, glänzten in der weißen Frühlingssonne. Der eine trug eine Sonnenbrille und hatte die Arme verschränkt, der andere sah sich um, als wäre es ihm nicht recht, dass sich so viele Schaulustige hier aufhielten.
Die Kleidung der beiden anderen Männer flatterte und schlug aus in dem kühlen Wind, der vom Meer herüber wehte. Sie hielten jeder eine blass gelbe Blume in der Hand und einer von ihnen, dessen Haut dunkel war und der eine Brille trug, hielt seine den Polizisten auffordernd entgegen.
„Nehmen Sie die Blume“, sagte er und seine Stimme war sanft wie der gerade abflauende Wind. „Sie werden sich besser fühlen.“
Der nächste Luftzug ließ ein Blütenblatt davon segeln. Es tanzte als winziger gelber Fleck auf dem weiten grauen Kreas der Straße und verschwand.
Ein Polizist seufzte.
„Sie können hier nicht mitten auf der Straße stehen bleiben und Leute belästigen“, sagte er.
„Wir werden gehen“, war die Antwort.
Die Schultern der Polizisten entspannten sich etwas. Sie wirkten erleichtert. Ungern hätten sie vor so vielen Menschen zwei harmlose Hippies weggeführt, die auf der Straße Blumen verschenkten und den Verkehr ein bisschen aufhielten. Aber es war nun einmal ihre Pflicht, zu handeln.
Die beiden anderen Männer jedoch rührten sich nicht. In ihren Augen tanzten Sonnenstrahlen und mit den Händen schützten sie ihre Blumen vor einem Windstoß, der sich im Himmel verlor, wo die Straße einen Hang hinunter zur Innenstadt führte.
„Die Blume, Officer“, sagte der zweite. Er trug ein geblümtes Stirnband und seine im Wind zuckenden Haare waren lang. „Es ist schwer, Frieden zu schließen, aber Sie müssen es versuchen. Wenn Sie statt der Waffe die Blume nehmen, haben Sie den ersten Schritt getan.“ Auch er redete in weichem, eindringlichem Ton. Der Polizist, der automatisch zu seiner Waffe gegriffen hatte, schreckte ertappt zusammen und ließ die Hand sinken.
„Also gut“, meinte er mit einem Blick auf die versammelten Leute und streckte die Hand aus. „Wir nehmen die Blume und Sie räumen dann ohne Protest die Straße...“
Der Mann mit den langen Haaren zog die Blume zurück und schüttelte den Kopf. In seinen Augen lag trotz der Sonnenstrahlen Enttäuschung.
Ratlos sahen sich die beiden Polizisten an und zuckten mit den Schultern.
Die Menge um sie herum löste die andächtige Stille von ihren Mündern und begann zu murmeln, doch die Männer mit den Blumen hatten sich bereits umgedreht und verließen den Kreis.
Später erzählte man, der Wind habe sie zum Meer begleitet, wo sie ihre Blumen traurig dem Wasser übergaben.
 



 
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