Windstiller Fall

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Art.Z.

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Windstiller Fall

Wir bestehen zu 80% aus Wasser und wir sind wie Wasser, jedes Individuum hat seine eigene Form und Art, seine ihm bestimmte Richtung und Ziel; sein Leben.
Wir sind uns ähnlich und doch sehr verschieden, wie zwei Schneeflocken, die einander nie gleichen. Jede Schneeflocke hat ihre einzigartige Kristallstruktur, die man auf den ersten Blick nicht erkennt. Dazu muss man sich Zeit oder, (wenn Sie es wissenschaftlicher haben möchten,) ein Mikroskop nehmen.
Doch nicht nur Schneeflocken sind individuell, auch jeder Tropfen hat seine eigene Geschichte, jeder Tropfen wird in einer Wolke geboren und verbringt sein Leben im Fallen. Wie lange fällt ein Tropfen? Was denken Sie? Fünf Sekunden, eine Minute, oder vielleicht ein ganzes Leben lang? Was würden Sie ändern, wenn ihr Leben ein Fall wäre? Würden Sie noch schnell ein paar Windböen reiten bevor der kalte Boden Ihrer habhaft wird? Oder würden sie nach einem Meer suchen, um sanft darin zu zergehen? Vielleicht wollen Sie auch aus der Masse stechen und als Einziger etwas Besonderes schaffen, etwa über einer Wüste fallen und in ewig trockenen Sand eintauchen? – (DER Tropfen auf dem heißen Stein.) Denken Sie wirklich, dass das geht? Ist es nicht besser, einfach das Fallen zu akzeptieren, als das, was es ist: als Schicksal und in Frieden gen Boden zu streben? Allen geht es wie Ihnen, alle fallen, alle suchen nach dem Sinn, nach etwas, das anders ist, das sie für kurze Zeit den Boden vergessen lässt, der immer näher kommt. Wäre es da nicht das Beste, jemanden zu finden, der genauso fällt wie Sie, und mit ihm fünf schöne Sekunden, oder eine Minute, vielleicht sogar ein Leben lang zu fallen?
Es ist aber eher ein Glücksfall, wenn man mit jemandem zusammen fallen kann, Einsamkeit ist viel öfter der Fall. Wenn ich bei Regen in den Himmel schaue, dann sehe ich oft nur gleiche graue Gestalten, die nebeneinander abstürzen, ohne sich zu kennen, ohne sich anzusehen, die Augen geschlossen oder mit starrem Blick nach vorne. Was wäre aber, wenn Sie sich umschauten, vielleicht sogar umdrehten und hinter den Wolken nach Sternen suchten? Sterne scheinen immer, für jeden und man weiß nie, wie weit sie entfernt sind. Licht fällt ja auch. Das ist aber eine andere Geschichte. Wir bleiben hier auf der Erde bei den Tropfen.
Sind Sie einsam? Würden Sie sich trauen, das zu sagen? Sie sollten es sich zumindest fragen, denn
Einsamkeit ist unumgänglich. Sie lässt uns mit uns über uns reden. Ich, Sie und jeder Mensch sollte sich ihr stellen, auch wenn sie groß und unheimlich wirkt. Sie ist nur ein Teil von uns, und ein Teil ist niemals größer als das Ganze, wir sind das Ganze, wir sind Herr unserer Einsamkeit.

Dies hier ist nicht meine Geschichte, aber vielleicht traue ich mich auch einfach nicht, sie als meine zu schreiben. Ich weiß es nicht und kann genau wie Sie nur mutmaßen. Vielleicht ist dies alles auch nur ein Traum, den ich aufschreibe und wenn ich meine Augen öffne, kommt der Boden immer näher, ich schaue zur Seite und suche nach jemandem, der mir vertraut ist, oder zumindest war, in dem ich mich spiegeln kann und der sich in mir spiegelt, damit wir einander ansehen können und den Grund vergessen, jeden Grund, der näher kommt.

Das Lesen strengte ihn an. Die Buchstaben wollten nicht wie gewohnt zu Worten werden, er begriff die Zusammenhänge nicht, wusste nicht, was eine Seite zuvor geschehen war. Seine Gedanken waren fernab jener Sätze, die vor seinen Augen lagen, in Reih und Glied, grammatikalisch korrekt, semantisch sinnvoll, für ihn unverständlich. Was er stattdessen las, waren Erinnerungen, die sich seiner bemächtigt hatten. Der Inhalt der wirklichen Seiten war nur ein leises Hintergrundrauschen und jedes Umblättern wie eine kleine Windböe, die ihn im Schweben kurz streifte, doch nicht aus der Bahn seiner Melancholie warf. Woran er sich erinnerte, waren kleine Fetzen, Momente, die durchdrangen, durchsickerten zwischen seinem festen Vorhaben, nicht denken zu wollen.
Irgendwann klappte er das Buch mit einem leisen Knall zu, sah aus dem Fenster und ließ es zu, nun übermannten ihn seine Erinnerungen:

Davor:
„Ich liebe dich“ hörte sich fremd an. Wie hinter einer Glasscheibe klangen die Worte stumpf. Er hatte so etwas noch nie gesagt. Log er? Ein Kuss übertönte alle Zweifel. Sie lagen im Bett und hielten einander fest, versteckten sich vor dem Rest der Welt. Draußen klopften Tropfen an das Fenster. Im Halbdunkel ertastete er ihren Körper. Was seine Augen nicht sahen, ahnten seine Finger. Sie waren eins, wie immer schon und doch zum ersten Mal.
Sie liebte ihn und er konnte es auch versuchen.


Jetzt saß er in der leeren Wohnung und die Wände erdrückten ihn. Die Stille pochte in seinem Kopf, uferlos und tief, schwarz und warm, nur weil er die Kälte nicht mehr fühlte. Er musste raus. Mit Buch und Mantel in der Hand schloss er die Wohnungstür hinter sich. Sie fiel mit einem leisen Klacken ins Schloss und Stille ergoss sich erneut in jede Ecke der Wohnung.

Davor:
Draußen wartete sie auf ihn. Elegant und fließend hakte sie sich unter seinem Arm ein und sie gingen spazieren. Es war ein warmer Frühlingstag, nach einer regnerischen Nacht lag die Stadt in einem samtigen Duft von Morgentau und Buttercroissants. Sie lachte und erzählte ihm von einem Buch, das sie gerade gelesen hatte. Es handelte von einer Liebesgeschichte, von zweien, die sich 20 Jahre lang jedes Jahr einmal trafen, weil sie verliebt waren, ohne verliebt sein zu wollen. Er hörte ihr nur mit einem halben Ohr zu, dachte an die Zeit zurück, als er die Tage allein verbracht hatte, mit sich und der Einsamkeit, oder Freiheit, wie er es damals genannt hatte. Jetzt veränderte sich alles in seinem Leben, sie war eine frische Windböe, die plötzlich den wohl geordneten Stapel seiner leeren Blätter durcheinander brachte. Alles ging so schnell, von heute auf morgen stand sie fest in seinem Leben und tat ihm gut, ohne Vorwarnung. Konnte es wirklich so einfach sein? Er traute diesem Frieden nicht.
Als sie bemerkte, dass er wieder in seinen Träumen davon flog, holte sie ihn mit einem Schlag auf die Schulter zurück. „Hörst du mir überhaupt zu?“ - „Ja, natürlich.“


Draußen regnete es. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch und packte das Buch in die Tasche, damit es nicht nass wurde. Mit einem finsteren Blick übersah er die Straße und machte sich auf den Weg. Unterbewusst wusste er genau, wo er hin sollte, aber er wollte es sich nicht eingestehen. Es war immer derselbe Weg, die letzten zwei Jahre lang, immer derselbe Weg.

Davor:
„Wieso musst du gehen? Ich versteh es nicht. Erklär‘s mir!“, schrie sie. Er schwieg und ließ das Wasser in seinem Glas kreisen. Was sollte er sagen, außer dasselbe, wie schon zigmal zuvor? Er war müde, es immer wiederholen zu müssen, nach Worten zu suchen, die nur Unverständnis mit sich brachten. Das Wasser kreiste gleichmäßig im Glas. Zentrifugalkraft, dachte er, sie treibt beim Drehen alles auseinander. Die Erde dreht sich doch, vielleicht war das die Erklärung für alles?
„Liebst du mich noch?“, bohrte sich tief in sein Gehirn. Er sah sie nicht an, nur dem Tisch galt sein Blick, der so schwer darauf lastete, dass man die Tischbeine fast quietschen hörte. So vergingen Minuten.
„Rede mit mir, sag was.“, sagte sie fordernd.
„Nein.“, erwiderte er, und verstand nicht, wieso.


Der Regen ließ nach, doch die Wolken hingen immer noch bedrohlich am Himmel. Es wurde Abend und die Laternen begannen ihren Nachtdienst. Heute wollte er nicht mehr nach Hause, ganz egal wie das Wetter sein würde. Er schloss seine Augen und atmete den Regenduft ein, ließ jede Faser seines Körpers von ihm durchströmen.
Irgendwann fuhr das letzte Auto an ihm vorbei und er blieb allein mit der Nacht. Immer weiter ging seine Odyssee ohne Ziel, zum Mittelpunkt der Einsamkeit, auf der Suche nach Lichtern, die genauso lange wach blieben, wie er. Doch er kannte noch jemanden, der auch wach war.
Bei ihr brannte noch Licht. Gegenüber von ihrem Haus setzte er sich an die Bushaltestelle und schaute in den Himmel. Die Wolken hatten sich verzogen und ein herrlicher Sternenhimmel war zu sehen. Natürlich konnte man in der Stadt nur einen Bruchteil der Sterne sehen, aber selbst diese wenigen waren es wert, bewundert zu werden. Wie lange das Licht wohl brauchte, um von diesen kleinen Lichtpunkten am Himmel in sein Auge zu gelangen? Er wusste es nicht, niemand wusste es, man konnte es nur raten, glauben und vermuten. Ihr Fenster war für ihn der weiteste Stern im Universum. Zwischen ihnen lagen keine Kilometer, keine Lichtjahre, nein, zwischen ihnen lag seine Einsamkeit. Er brauchte den Abstand, die Sehnsucht, den unerfüllten Wunsch.
Wolken zogen wieder auf, es tröpfelte. Kleine Pfützen häuften gefallene Tropfen auf kalten Asphalt.
Er öffnete sein Buch und begann zu lesen. Seine Gedanken störten nicht mehr, die Windböen in seinem Kopf legten sich. Es war windstill.
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Warum diese Geschichte so wenig Beachtung findet - bisher zumindest finden sich null Komms - kann ich mir nicht erklären. Weil sie nicht mehr auf Seite 1 der Rubrik steht? Weil sie zu ruhig und melancholisch ist? Weil sie aufmerksam gelesen sein möchte? Ich weiß es nicht, ich zumindest habe sie gern gelesen. Die Sprache ist angenehm, die Bilder nicht überzogen oder grell; ev. könnte man jene Stelle, an der die Stille gleichzeitig als uferlos, still, schwarz und warm beschrieben wird, nochmal überarbeiten, da scheinen mir ein paar - widersprechende - Adjektive zu viel konzentriert worden zu sein.

Überzeugend dieser Satz:

Einsamkeit ist unumgänglich. Sie lässt uns mit uns über uns reden. Ich, Sie und jeder Mensch sollte sich ihr stellen, auch wenn sie groß und unheimlich wirkt. Sie ist nur ein Teil von uns, und ein Teil ist niemals größer als das Ganze, wir sind das Ganze, wir sind Herr unserer Einsamkeit.

Mir fällt dabei noch ein Grund ein, warum die Geschichte nicht sonderlich beachtet wurde: die Wenigsten sind einsam. Behaupten sie jedenfalls.

P.
 



 
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