Winter der Kindheit

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Smuhssa

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Endlich! Sie ist vorbei.
Die Zeit der fetten, gelben Sau, die mich vom Himmel angebrüllt hat.
Auch dieses Jahr mal wieder viel zu lang’!
Warum ich so denke?
Ich bin ein Februarkind.
Immer wenn ich mich an schöne Zeiten zurückerinnere war Winter.
Schnee, Eis, Rote Ohren, Rotznase. Herrlich!
Ja, die festgefrorenen Schneebatzen an den selbstgestrickten Wollfäustlingen nervten,
die musste man zur Schneeballschlacht immer ausziehen. Und Roman, der Sack, hatte schon Fingerhandschuhe aus einem Plastikderivat. Aber die waren zu steif, um damit Schneebälle zu formen, also ausgezogen. Im Pausenkrieg zwischen zweiter und dritter Stunde waren wir nun alle gleich und unsere nackten Finger wurden erst weiß und dann in der dritten Stunde, Geschi bei Herrn Kopacek, ganz rot und warm. Die Nasen wurden hochgezogen und ein neuer Angriffsplan ausbaldowert. Wozu war Geschichte denn sonst da? „Schützt mir die rechte Flanke.“ Dolchstoßlegende und Pausenschlacht lag so eng beieinander.
Mama hatte schon gekocht. Die Spaghetti mit Tomatensauce und Würstchenragout stärkte mich und dann ging es im gleißenden Licht des reflektierenden Schnees gleich zu Liesewolfs Koppel. Von dort schallte schon das kindliche Vergnügen herüber. Ein Rodelberg mit natürlicher Sprungschanze. Selbst die Kinder aus dem Dorf kamen hierher, obwohl es bestimmt eine halbe Stunde zu Fuß war, mit Schlitten noch länger. Ich konnte abkürzen, über den See, zu dem die Koppel abfiel. Hier noch das flache Land von Angeln, dort schon die Geest. Genau hier hörte vor 20.000 Jahren die letzte Eiszeit auf und nun fuhren wir, auf dieser Endmoräne heiße Rennen. Ich hatte meinen Einer-Schlitten dabei. Damit waren die weitesten Sprünge drin. Es ging dabei nicht um den Schlag bei Mädchen, die waren sowieso noch doof, lediglich den Dorfjungs musste es gezeigt werden. Unsere kleine Clique von „Wilhelmslust“, zwei Jungs und ich, waren nun komplett. Heute war es hart. „Unsere“ Koppel war mit Dorfjungs übervölkert. Selbst große vierzehn, vielleicht fünfzehnjährige Jungs waren dabei. Aber wir kannten den besten Weg über die Rampe. Zunächst führen wir unsere Kufen ein. Sogar über Nacht wurden sie stumpf mit einem Anflug von Rost. Ein paar Jungs hatten Kerzenstumpen dabei und rieben die Kufen ab. Vom Wachsen hielten wir nichts; vielmehr waren wir zu faul den Schlitten zu präparieren. Wir sahen uns unsere Konkurrenten an. Die Plastikbobs waren ohnehin schon außen vor. Seit das letzte Mal nach einem Sprung einer beim Aufprall zersplitterte, das gab richtig Ärger zuhause, traute sich keiner mehr auf die Rampe. In Frage kamen ohnehin nur die Holzleistenschlitten, alle anderen waren zu teuer oder zu schlecht. Dann fielen noch die „vierer“ und „fünfer“ Schlitten weg, die waren zu lang und hoben nicht ordentlich ab. Blieben noch etwa 10 Dorfkinder übrig. Zwei davon waren „Sitzrodler“, wie langweilig. Der Rest probierte sich schon vorsichtig an der Rampe, aber noch war es Spaß. Gleich mein erster Sprung war die Kampfansage des heutigen Tages. Mit zwei kraftvollen Schritten, den Schlitten vor meinem Brustkorb haltend, startete ich in Richtung Rampe. Mit einem weiten Ansprung, direkt auf die Kufen des Schlittens hatte ich bereits gute Fahrt aufgenommen. Der Einer-Schlitten, den ich besaß war der einzige weit und breit. Ich hatte ihn eines Tages in unserem Schuppen gefunden. Er war noch aus den Tagen, als meine Mutter und mein Onkel die Tageswertung Rodelberg „Liesewolfs Koppel“ für sich zu entscheiden versuchten. Die Einer-Schlitten waren viel zu klein, selbst für einen Sechstklässler wie mich, deshalb wurden sie wohl nicht mehr gebaut. Aber gerade das war mein Vorteil. An den beiden nach oben laufenden Kufen konnte ich mich festhalten. Der Schlitten endete im Beckenbereich, das hieß, meine Beine hingen frei in der Luft und so konnten die Füße famos steuern. Ich war in der idealen Bahn, nun kam die dunkle, da ausgefahrene Kuhle, der „Anlauf“ zur Rampe, einer Bodenwelle im Hang. Das Zischen der Kufen verstummte einen Moment, dann nahmen sie umso geräuschvoller wieder Kontakt mit dem Boden auf. Das seitliche Abdriften in der Flugphase konnte ich leicht mit meinen Füßen ausgleichen, so dass ich sauber bis zum Ufer des Sees ausrodelte. Kein Klatschen, kein Jubeln. Doch mit diesem Sprung hatte ich die neue Warteschlange zur Rampe entstehen lassen. Auch ich tat so, als wäre es nur ein ganz normaler „Ritt“ gewesen. Denn die „Tagesmeisterschaft“ war kein offenes Turnier, sondern ein geheimes, nie ausgesprochenes Mutritual. Ich trottete den Hügel wieder hinauf, schaute mir die normale Piste an und natürlich die Sprungschanze. Oben angekommen reihte ich mich vorbildlich in die Schlange ein. Ein kurzer Blickwechsel mit meinen Cliquenmitgliedern zeigte mir, dass meine Fahrt sehr hoch in der Bestenliste stand. Nach einem weiteren Durchgang war es nun meine Aufgabe, als Wertungsführender sozusagen, den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen. „Laß` uns die Rampe vereisen“, sagte ich und ein Gemurmel bestätigte mein Vorhaben. Wir fuhren alle gemeinsam zum Seeufer. Das Wasserloch von gestern, vorgestern und so weiter war schnell wieder geöffnet. Die alten Eimer bald gefüllt. Jeder mit einem Eimer voll Wasser ging schnell in Richtung Rampe und schüttete den Inhalt auf Schneise der Sprungschanze. Nach drei oder vier Eimern für jeden war die Schanze für die nächste Zeit gesperrt. Auf dem einfachen Hang führen wir Kunststückchen und Ketten (jeder hielt sich an den Versen des Vordermanns fest). Die Spannung stieg. Erst nach einer geschlagenen Stunde durfte das Eis getestet werden. Es war hart und bereit für die Finalrunden. Zunächst begann die Aufwärmrunde. Ich hatte die Ehre das Eis auszutesten. Ich musste mir jeden Hubbel und jede Unebenheit merken, um im nächsten Sprung zu punkten. Das weiche Rauschen der Kufen wich einem hartem Holpern und Klopfen. Es sollte etwas Großartiges heute werden. Ich hatte es im Gefühl. Dann wurde in umgekehrter Reihenfolge gestartet. Ich war also der Letzte an der Rampe. Ich konnte einige durchaus beachtliche Sprünge sehen, die ich aber bei einer konzentrierten Fahrt überbieten könnte. Es begann langsam schummrig zu werden, es bleib mir also nur ein Versuch. Wenn dieser mir gelang würden sofort alle anderen sagen, dass sie jetzt nach Hause müssten. Anderenfalls wäre eine weitere Runde fällig, bei der ich nicht mehr mitfahren würde, weil ich schnell nach Hause gemusst hätte. Noch Einer stand vor mir. Meine Clique war durchschnittlich gut nach unten gekommen und schon wieder auf dem langen Weg nach oben. Ich musste also aufpassen, irgendetwas stimmte nicht mit der Bahn. Sie war in der kurzen Zeit wieder feuchter geworden, die meisten Mützen steckten bereits in den Taschen der Parkas. Es begann zu tauen. Mit Glück war es der letzte Rodeltag des Winters. Mit Glück, weil ich den Gesamtsieg heute nach Hause fahren konnte. Dabei zählten nicht einmal die Siege der Tage und Wochen vorher, sondern lediglich der heutige, letzte Renntag.
Es war an mir. Ich hatte alles auf den Kufen. Drei großartig feste Schritte gaben mir den Schwung, den ich brauchte. Ich lag perfekt in der Spur. Meine Füße berührten nicht den Boden, so wurde ich noch schneller. Im Eis hatte sich bereits eine Spur gebildet. Ich fuhr auf einer milden Wasserschicht, wie auf einer Schiene. Ich versank kurz in der Kuhle und wurde dann auf der Rampe in den Himmel entlassen. Ich flog. Ich spürte, dass der Spirit des Schlittens alles gab. Ich flog noch immer. Unter mir hörte bereits die geeiste Bahn auf. Leider fing mein Schlitten an sich leicht quer zu stellen, das durfte nicht passieren. Ich verlagerte mein Gewicht. Unmerklich zog er sich zurück in seine Bahn. Dann begann erst mein Sinkflug. Der Aufprall würde sehr hart werden, das war mir klar, doch es ging vielleicht um den Gesamtsieg. Mit einem Krachen zersplitterte der Schlitten in viele Einzelteile, ich schlug unsanft auf. Der Sprung war gewaltig, doch durch das zerbersten meines Schlittens hatte ich den Sprung nicht gestanden. Doch was sagte die Jury, die aus allen Teilnehmern bestand, dazu? Ich schaute auf. Ein Jubeln schallte über „Lieselwolfs Koppel“. Ja. Ich war es. Ich hatte es geschafft. Die ganze Meute kam auf mich zu, sah ob ich mir etwas getan hatte, klopfte mir auf die Schulter und lachte und grölte. Mir taten die Knochen ziemlich weh, aber das ließ ich mir nicht anmerken. Ich stand auf und sah, dass von dem Schlitten wirklich nicht viel übrig geblieben war. Dafür lag ich fast in der Auslaufzone zum See, enorm weit entfernt vom Schanzenteller. Ich ließ mich dazu hinreißen beide Arme in die Höhe zu werfen. Doch diese Geste wurde mit einem weiteren Ansturm von Jubel honoriert. Nun war es geboren. Das offizielle Schanzenspringen, das seit jenem Jahr von den Kindern der Gegend durchgeführt wird. Viele Gäste aus den Dörfern der Gegend kommen zum Rodelberg, um einmal über die Schanze zu fahren. Doch am letzten Wochenende im Februar wird seit dieser Zeit das Rampenturnier ausgetragen, für das ein ganzer Winter trainiert wird, sollte Schnee liegen. Mit dem Schlitten wird versucht möglichst ausgetrickst über die Rampe zu kommen. Der Gewinner ist der mit der besten Kür und dem größten Einsatz. Doch bisher bin ich der einzige Gewinner des Rampenturniers, der seinen Sprung nicht gestanden hat. Und tatsächlich erzählen sich die Kinder beim Rodeln, wenn denn mal Schnee liegt, die Geschichte vom Gründungstag des Rampenturniers und dem Sprung, der jetzt bereits direkt bis zum Seeufer reicht.
Es war der erste Abend an dem alle Rodler gemeinsam und freundschaftlich nach Hause gingen. Ich musste in die andere Richtung und schlenderte mit den zwei Kufen und einem Bündel Kleinholz gen Heimat. Das Eis begann schon zu knacken und zog peitschenartig lange dunkle Risse über den See. Am nächsten Morgen hatte der See bereits große dunkle Flecken, der Winter war vorbei, der Frühling sollte kommen, auch wenn er noch einige Mühe hatte sich durchzusetzen. Ich jedenfalls war der erste offizielle, oder besser halboffizielle, Rampenturniergewinner.
 



 
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