Winterfreuden

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Tapir

Mitglied
Ich habe lange gezögert, diese Geschichte zu erzählen. Weil man vielleicht denken könnte, ich wollte mich wichtig machen. Aber das ist es nicht. Ich finde nur, der wahre Verlauf der Geschichte muß auch dann ans Tageslicht treten, wenn es nur um die kleinen Dinge geht. Und das ist der einzige Grund, warum ich jetzt mein Schweigen breche.
Es war vor vier Jahren. Die Planung des verlängerten Winterwochenendes mit Jana war nicht einfach gewesen. Ich bin Alpinskifahrer. Ich liebe es, auf bequemen Sesseln, in schaukelnden Kabinen oder gar mit in den Berg gehauenen U-Bahnen in luftige Höhen befördert zu werden, um dann rasant talwärts zu schwingen.
Jana ist Langläuferin. Sie kann nichts dafür. Aufgewachsen in den Wäldern Thüringens waren ihr richtige Berge ebenso fremd wie Skilifte oder Jagertee. Sich die Hänge hinabzustürzen kam für sie nicht in Frage. Sie vermochte, wie sie sagte, das eigentlich sportliche im Alpinskifahren nicht zu erkennen – für sie wären wahre Winterfreuden und saftige Endorphinschübe untrennbar mit weit ausholenden Arm- und Beinbewegungen und einer durch einen glitzernden Winterwald gespurten Loipe verbunden.
In Balderschwang, dem kleinen, höchstgelegenen Dorf Deutschlands, war beides möglich und ich versprach ihr, mich wenigstens für ein paar Stunden auch mal in der mir ungewohnten Fortbewegungsart zu versuchen. So betrat ich am zweiten Tag das an der Dorfstraße gelegene Sportgeschäft von Luggi Endrös und verließ es wenig später mit einer kompletten – natürlich geliehenen – Langlaufausrüstung. Da die Parkplätze an der Talstation des Skilifts - gleichzeitig Ausgangspunkt der Loipe - bereits belegt waren, ließ ich das Auto oben im Ort stehen und wanderte mit geschulterten Skiern und Stöcken die wenigen hundert Meter talwärts.
Meine schlimmsten Vorahnungen wurden bestätigt. Was aus der Ferne und bei Könnern leicht und beschwingt aussieht, gestaltete sich bei mir zu einer anstrengenden Tortur. Ins Gleiten kam ich nie, schritt eher durch die Loipe mit diesen viel zu langen Brettern an den Füßen, die sich nur dann von selbst in Bewegung setzten, wenn es leicht bergab ging – um sofort Panik in mir auszulösen, hatte ich doch keinerlei Kontrolle über dieses dünne Gehölz, daß sich weder durch einen Schneepflug noch durch ein beherztes Bremsmanöver im Parallelschwung zum Stehen bringen ließ. Auf den versprochenen Rausch der Endorphine wartete ich vergebens. Lediglich einige Adrenalinstöße konnte ich verzeichnen, wenn wieder Gegenverkehr in Sicht kam, dem es auszuweichen galt. Als wir den fünf Kilometer entfernt liegenden Nachbarort Hittisau erreicht hatten, tat mir alles weh. Muskeln, von deren Existenz ich vorher nicht die leiseste Ahnung hatte, die Füße von den anscheinend zu engen Schuhen und an den Händen hatten sich bereits Blasen gebildet. Ich brauchte jetzt dringend eine Pause.
Wir kehrten in einer Langläuferhütte ein. Zwischen all den ausgemergelten, asketischen Nordischen, die mit Begeisterung einen Energy-Drink nach dem anderen in sich hineinschütteten, kam ich mir wie ein Fremdling vor. Uns Alpine trennt von diesem Menschenschlag doch mehr als die Breite unserer Ski. Schon nach einer halben Stunde zog es mich wieder hinaus - in der festen Absicht, die nächsten fünf Kilometer zu den letzten auf einer Loipe in meinem Leben werden zu lassen. Aber: die Skier waren weg. Die Stöcke hatte ich mit in die Hütte genommen, aber von den nagelneuen Leihskiern war dort, wo ich sie abgestellt hatte, nichts mehr zu sehen.
Meine Wut kannte keine Grenzen. Laut den Tag, den Urlaub und überhaupt diesen ganzen Langlauf verfluchend, stapfte ich durch den Schnee rund um die Hütte. Zwecklos. Die Skier waren weg und ich mußte jetzt irgendwie zurückkommen. Als winziger Ausgleich für das mir entstandene Unglück stellte sich heraus, daß die Verbindungsstraße zwischen beiden Dörfern unweit der Hütte war. Ein Spaziergang auf dem Asphalt würde bedeutend einfacher sein als sich entlang der Loipe durch den tiefen Schnee zu quälen. So verabschiedete ich mich von der eigentlichen Urheberin all diesen Übels und machte mich auf den Weg zur Straße.
Die Stöcke hatte ich erst geschultert. Nach den ersten hundert Metern stellte sich dies jedoch als unbequem heraus. Immer noch auf der Höhe meines Wutpegels hätte ich sie am liebsten weit weg in den Schnee geworfen, aber Gott sei Dank fiel mir noch rechtzeitig ein, daß ich sie dann auch hätte ersetzen müssen. Also nahm ich sie in die Hände und hieb sie bei jedem Schritt wütend auf den Asphalt. Etwa einen Kilometer hatte ich so zurückgelegt, mit weit ausholenden Armbewegungen, den Boden mit den Stöcken torpedierend und großen Schritten - ich wollte ja ankommen – als mir ein älteres Ehepaar entgegenkam, dick vermummt, die Arme ineinander verhakt, Fellschuhe an den Füßen. Ich bemerkte die Irritation auf ihren Gesichtern, als ich näher kam. Grußlos wollte ich an ihnen vorbeistapfen, konnte aber ihrer Frage nicht ausweichen:
„Haben sie ihre Skier vergessen?“
„Nein, ich laufe immer so!“ blaffte ich zurück. Die Leute sind so dumm!
Wenige Minuten später überholte mich ein Minivan. Ein paar hundert Meter später wendete er, kam zurück, wendete wieder, schien mich dann überholen zu wollen, blieb aber auf meiner Höhe. Die Fensterscheiben senkten sich. Vier Frauen, offenbar Anfang Vierzig und bester Laune.
„Mache Sie desch öfter?“ Ich hasse Schwäbisch.
„Ja, das ist ein neuer Extremsport!“ Meine Worte kamen wie Granatgeschosse.
„Un, was isch des?“
„Nordic Walking!“ Nie wieder nordisch, dachte ich mir. Morgen wieder alpin.
Die Seitenfenster surrten hoch und der Wagen beschleunigte. Nach einer Stunde hatte ich völlig ausgepumpt, verschwitzt und immer noch wütend das Sportgeschäft erreicht. Jana hatte auf der Bank vor dem Schaufenster bereits die Nachmittagssonne genossen. Ich ging ins Geschäft, entledigte mich meiner nordischen Kleidung, den Schnabelschuhen sowie den Stöcken, bezahlte die gestohlenen Skier mit meinem guten Namen und verließ das Geschäft.
„Nie wieder“, stieß ich hervor, während ich mich neben Jana auf die Bank fallen ließ.
„Ich find´s herrlich“, sagte sie und erschien mir in diesem Moment unendlich fremd. „Und es gibt jetzt was Neues. Haben eben ein paar Frauen erzählt. Nordic Walking. Die haben den Luggi gefragt, ob er dafür eine Ausrüstung hat.“
Gestern habe ich mich im Volkspark auf eine Bank gesetzt und mal gezählt. Vierunddreißig Nordic Walker in einer Stunde – man sieht auf den Wegen sogar schon überall die Eindrücklöcher von den Stöcken. Das hat mich dann doch ein kleines bißchen stolz gemacht.


© by Stefan Schrahe, Dezember 2003
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
prust,

kicher, lach! was ne köstliche geschichte! gut erzählt, fachmännisch gebastelt und von großem unterhaltungswert. damit kannste dich überall sehen lassen.
nur eine frage: was is n Jagertee? vielleicht ein Jägertee? dann tät sch gern wissen, woraus er is.
ganz lieb grüßt
 

Tapir

Mitglied
Liebe Flammarion,

danke für Dein Lob!

Jagertee - "Jagatee" wird es glaube ich sogar geschrieben - ist das Zeug, was sich alle in den Skihütten geben. Was da aber genau drin ist, kann ich Dir auch nicht sagen.

Tapir
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
aha.

danke für die freundliche aufklärung. ist also was zum warmwerden und kein gerät. als brandenburger buddelkasteninsasse weiß man ja so was nicht . . .
deine geschichte hat es sich in meiner sammlung gemütlich gemacht!
ganz lieb grüßt
 
M

Minds Eye

Gast
Soweit ich mich erinnere, ist Jagertee ´ne ganz üble Mischung aus verschiedenen Schnäpsen, heiss serviert. Nach dem Genuss fährt man Schuss, überschlägt sich und reißt sich den linken Arm an einer Tanne auf.
Schöne, witzige Geschichte.
Grüße,
ME.
 

Prust

Mitglied
`Mache Sie "desch"´ öfter ist natürlich nicht schwäbisch, sondern höchstens ein Schreibfehler. Selbst Schwaben machen nicht jedes "S" zum "Sch".
Aber ansonsten recht witzig für diese doch manchmal recht bemühten Geschichten in dieser Rubrik.

Gruß M. Prust
 



 
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