Wintergeschichte

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Wintergeschichte



Der Großvater meines Freundes hatte nur einen Arm.
Im Sommer, wenn er kurzärmelige Hemden trug, sah man den Stumpf
wie den Schädel eines Babys aus dem Ärmel ragen.
Ein Schädel mit einer Furche in der Mitte.
Bei Hemden mit langem Arm steckte er den Ärmel in den Hosenbund. So konnte man nie darüber hinweg sehen,dass etwas an ihm fehlte.
Es verstörte mich immer wieder aufs Neue, und immer war dieses Gefühl ein wenig anders, wenn wir ihn besuchten, oder wenn ich aus dem Fenster sah, und er die Straße entlang ging.
Das Wort obszön kannte ich damals nicht, aber so empfand ich es mit meinen sieben Jahren. Dieser Widerwille, den ich spürte, war kein Ekel, aber ich fand, dass es so etwas nicht geben sollte.
Manchmal dachte ich so verbissen darüber nach, dass ich Kopfschmerzen bekam, und ich spürte genau, dass mein Kopf zu klein war für das, was ich hinein stopfen wollte.
Unsere Großeltern waren keine große Hilfe, denn wenn man sie nach dem Krieg fragte, wurden sie einsilbig.
Bernds Opa erzählte nur, dass er den Arm in Russland durch eine Granate verloren hatte, und dass der Winter dort kalt war, ungefähr dreimal so kalt wie bei uns, und nur der Hunger noch schlimmer war. Dann sagte er noch:
„ Aber ihr werdet so was zum Glück nicht erleben!“ und wir gingen wieder spielen, und zerbrachen unsere Köpfe mit Fragen. Wie fühlt es sich an, zu hungern, zu frieren, angeschossen zu werden und die Angst aushalten zu müssen, die wir in den Stimmen unserer Großeltern wahrnahmen, wenn sie sich erinnerten, obwohl der Krieg schon Jahrzehnte zurück lag?
Und wie war es wohl, zu sterben, und warum schoss man überhaupt aufeinander? Oder warf Bomben auf Frauen und Kinder, denn auch unsere Großmütter waren von diesem Krieg nicht verschont worden.
Wenn man sie ausreichend bedrängte, erzählten sie von brennenden Häuserzeilen, Phosphorbomben, deren Brände man nicht löschen konnte und Menschen, die wie Fackeln durch die Straßen liefen.
Die Geschichten unserer Eltern waren weniger spektakulär, dafür aber verständlicher. Mein Vater hatte zwar seinen Wehrdienst abgeleistet, aber seine einzige Heldentat hatte darin bestanden, an einem Wochenende, während einer Ausgangssperre über den Kasernenzaun zu klettern und trotzdem nach Hause zu fahren, um seine Freundin zu sehen. Es war die Zeit des Prager Frühlings, und sowjetische Truppen waren in die damalige Tschecheslowakei einmarschiert, um den Aufstand nieder zu schlagen.
Meine Eltern schienen sich jedenfalls sehr aufeinander gefreut zu haben, denn neun Monate später kam ich zur Welt.
Die Russen waren schuld, und die Feldjäger, die meinen Vater ein paar Tage später abholten, hatten es nicht verhindern können.

An einem Tag im Januar spielten wir im Schnee. Es hatte seit Tagen geschneit. Auf den Feldern um unsere Siedlung sank man bis zu den Knien ein, und in manchen Verwehungen reichte der Schnee bis zu den Hüften.
Wir spielten in einem kleinen Waldstück zwischen den Acker-
flächen, deren Parzellen nicht mehr zu unterscheiden waren.
Alles war weiß und still, bis auf den Wald, in dem Äste brachen und Kinder schrieen, die mit Holz- und Plastikgewehren aufeinander schossen und dazu die entsprechenden Geräusche machten.
In dem Wald gab es viele Mulden, von denen eine ausgesucht wurde, um sie zu erobern. Dazu wurden zwei Gruppen gebildet,
meistens Russen und Amerikaner, und jede Armee bestand aus drei bis vier Kindersoldaten.
Regeln gab es kaum, außer der, dass wer getroffen wurde, umfallen musste und nicht zurückschießen durfte.
Die Streitereien, die sich daraus ergaben, waren meist erbitterter als der Krieg, den wir spielten.
„Du kannst nicht zurückschießen! Du bist tot, Idiot“!
„Na und? Dann hab ich mich eben mit letzter Kraft auf dich drauf fallen lassen mit ner Handgranate!“
Oder es wurde genörgelt: „Ich will nicht immer Russe sein!“
Aber wir einigten uns meistens schnell, denn wer wiederholt die Regel brach, durfte nicht mehr mitspielen.
Anführer gab es keine. Am Ende waren doch alle tot und froren in durchnässten Sachen.

An diesem Tag gingen die Anderen gegen Abend nach Hause, und ich blieb. Ihre Stimmen wurden in der Ferne vom Schnee geschluckt, wie die Spuren der Leute, die ihre Hunde ausführten; alle Unterschiede verwischt.
Eine Zeitlang saß ich da und hörte ins Nichts. Nicht einmal Motorengeräusche von den entfernten Straßen waren zu hören
Die Fahrzeuge fuhren zu langsam , und ihre Scheinwerfer verdeckte der fallende Schnee.
Dann musste ich aufstehen und mich bewegen, denn von dem ganzen sich sterbend im Schnee wälzen war ich bis auf die Haut nass. Selbst die Socken und meine Mütze, die ich nur auf behielt, weil ich sonst noch mehr gefroren hätte. Der Wind schien mir ohnehin schon kleine Muster in die Stirn zu ritzen.
Da war ich also, ein einsamer, deutscher Soldat, der seine Truppe verloren hatte und durch die Tundra irrte.
Ich entfernte mich immer weiter von dem Wohngebiet in meinem Rücken und weg von dem Wald, mit dem Blick auf weite, zugeschneite Flächen, ohne Wege, ohne Spuren.
In der Ferne sah ich einige kleine, erleuchtete Fenster und stellte mir vor, dort wohnten Feinde, und wäre mir jemand entgegen gekommen, ich hätte mich versteckt, oder ihn vielleicht erschreckt.
Doch eigentlich war ich dazu schon zu schwach.
Ich brauchte meine Kraft, um mich in Zeitlupe durch den Schnee zu schleppen, wobei ich immer wieder in versteckte, gefrorene Pfützen einbrach. Ich wusste zwar, wo die asphaltierten Wege entlang liefen, auf denen der Schnee nicht ganz so hoch und gleichmäßiger verteilt lag, aber ich wollte wissen, wie lange ich das durchhielt.
Ein Zeitempfinden hatte ich bald nicht mehr. Nur meine wachsende Schwäche war ein Maß.
Bald zitterte ich auch beim Gehen und bekam Seitenstiche
Manche Hautpartien spürte ich nicht mehr, nicht einmal, wenn ich sie berührte. Dabei fiel mir auf, dass ich auch meine Finger nicht mehr fühlte und beschloss, zurückzugehen.
Dumm war nur, dass ich den Rückweg nicht eingeplant hatte, bei meiner Überlegung, so weit zu gehen wie ich konnte.

Irgendwo in der Dunkelheit lag das Dorf, in dem ich wohnte,
Ich würde es nie erreichen. Und Hunger hatte ich, weil ich seit dem Frühstück nichts gegessen hatte. Zwischen Rippen und Becken lag nur ein hohles Loch mit leichten Schmerzen.
Doch in dem Moment, als ich am meisten Lust hatte aufzugeben, veränderte sich etwas in mir, und von da an schleppte ich mich automatisch weiter, unbewusst und mechanisch, bis ich vor den ersten Häusern unseres Wohngebietes stand, und zwei Straßen weiter gab es ein warmes Haus mit Bett und gefülltem Kühlschrank.
Diese Aussicht gab mir einen Grund, noch ein wenig zu warten, und in Sichtweite noch eine Weile herum zu laufen, bis ausgerechnet Bernds Opa nach draußen kam, der mich vom Fenster aus gesehen hatte. „Was machst du denn noch so spät draußen?“ fragte er. „Komm, ich bring dich nach Hause! Deine Eltern machen sich bestimmt Sorgen!“

„Wie siehst du denn aus?“ fragte meine Mutter mit großen Augen, als ich in der Tür stand.
„Weißt du, wie spät es ist?“
„Nee!“ Ich starrte auf ihre Füße.
Sie schüttelte den Kopf und zog mich ins Haus.
„Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“
Dann zog sie mich die Treppe rauf ins Badezimmer, ließ Wasser in die Badewanne und zog mich aus, weil ich meine Finger nicht benutzen konnte.
„Du musst erst mal raus aus den nassen Klamotten! Wie siehst du bloß aus!“
Darauf sah ich in den Spiegel und verstand, was meine Mutter meinte. Meine Haut war in einem hellen schmutzigen Blauton gefärbt. Ich hatte violette Lippen und tiefe Ringe unter den Augen .
„Ich hab Hunger!“ sagte ich.
„Du musst dich aufwärmen! Geh erst in die Wanne!“
Das Wasser war lauwarm, aber ich schien mich zu verbrühen,so heiß kam es mir vor, und Millimeter für Millimeter ließ ich mich hinein.
So war das also als Soldat an der Ostfront. Wenn man nicht umkam, fror und hungerte man, bis man ein warmes Plätzchen fand, wo es heißes Wasser und belegte Brote gab.
Nur die Einschusslöcher und abgerissenen Gliedmaßen passten immer noch nicht ins Bild.
Aber das war meine Art, Wissen zu verinnerlichen, und so ist es geblieben.
 
B

Betty Blue

Gast
Wunderschön

Hallo Black Sparrow

Deine Geschichte hat mich sehr berührt.

Ich sehe ihn vor mir, den kleinen Jungen ... wie er durch den Schnee stapft um herauszufinden, wie Kälte und Hunger sich anfühlen ... wie er auf der Suche ist und doch nur einen Teil des Ganzen erfassen kann.

Sowohl inhaltlich, wie auch vom Stil her halte ich diese Geschichte für mehr als gelungen und freue mich schon darauf, mehr von dir zu lesen.

Einen wunderschönen Tag wünscht dir

Betty Blue
 

Nordlicht

Mitglied
***Ich sehe ihn vor mir, den kleinen Jungen ... wie er durch den Schnee stapft um herauszufinden, wie Kälte und Hunger sich anfühlen ... wie er auf der Suche ist und doch nur einen Teil des Ganzen erfassen kann***

Diesem Kommentar von Betty möchte ich mich anschließen. Eine Geschichte, die unter die Haut geht.

Gruß
Gudrun
 
Hallo ihr Beiden!

ich freue mich, dass euch die Geschichte gefallen hat.
Auch wenn der Winter schon lange genug dauert, und es wieder
Frühling werden sollte.

Liebe Grüße

black sparrow
 
M

Minouche

Gast
Wow !

Hallo black sparrow !

Die Muse hat dich anscheinend heftigst geknutscht. Sie ist sehr schön und bewegend, deine Geschichte. Nun habe ich sie dreimal gelesen und etliche Interpunktionsfehler gefunden, über die ich mich diebisch freue. (ich entschuldige mich postwendend für meine Schadenfreude...) Aber das tut der Dramatik, dem Spannungsbogen und der Intention deiner Geschichte keinerlei Abbruch. Sie ist so wunderbar erzählt, dass ich selbst mich fühlte wie jener kleine Junge. Und derweil sang in meinem Kopf Hannes Wader. Denn der hatte mal eine ganz ähnliche Geschichte zu erzählen. Das Thema deiner Geschichte ist mir durchaus nicht fremd. Meine Großeltern sind samt und sonders Flüchtlinge. Mein Großvater war in sibirischer Kriegsgefangenschaft.
Meine Großmutter war Italienerin in Nazideutschland. Ich könnte einiges erzählen. Schön, dass du es getan hast. So eindrucksvoll, so wunderschön.

Danke ! Es war ein Genuß.


Ich danke dir.

Einen wunderschönen Abend, wünsche ich !

Liebe Grüße
Minouche
 

pipi-barfuss

Mitglied
hallo frank,

ich mache es kurz und schmerzlos.

gefällt mir deine wintergeschichte. manches ist mir bekannt vorgekommen, das stapfen durch den schnee.....

bis bald, ;)

l.g. sandra

p.s pass auf dich auf!
 
M

Minds Eye

Gast
Danke Frank,
ich durfte gerade eine kleine Rückführung erleben. Tolle Geschichte. Hat mich sehr berührt.
Bei "nieder zu schlagen" bin ich gerade etwas ratlos. Wird das nicht zusammengeschrieben? Ich weiss nicht genau.
Jedenfalls gibt´s ´nen Sack voll Punkte für dieses Kleinod.
Viele Grüße,
ME.
 
Hallo Stefan,

danke für deine Kritik. Ich glaube, deine Reaktion ist die
beste, die man sich als Autor wünschen kann!
Deine grammatikalische Anmerkung ist ebenfalls berechtigt,
ich denke darüber nach und wälz den Duden!

Hab ein schönes Wochenende

Frank
 



 
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