Winterschläfer

Winterschläfer

Herbie fuhr im Pullover mit dem Fahrrad durch lichtreiche Felder. Der Wind striegelte die Maispflanzen. Herbie schwitzte, aber zu mehr als Ärmel Hochstreifen reichte es dann doch nicht. Der Sommer, eben noch wie ein Hut übers Land gestülpt, wurde gelupft und begann zu frösteln. Die Wehen dieses Sommers waren kurz, das Kind kühl. Regnerische Nachmittage und ein in der Ekliptik rückläufiger Sonnenuntergang signalisierten raschen Wechsel. Eicheln fielen auf welkendes Laub.

Der Herbst war mürrisch. Keinen warmen Tag hatte er dem Sommer angehängt. Eilig ging er auf die Frostgrenze zu, doch in diesem Jahr würde man ihn nicht durchlassen! Die Blätter, erschreckt über die Abschiedseile, lagen nass und schwer am Boden Der Winter sah mitleidig auf die vom dickbackigen Herbst getriebene Blätterherde. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als dieses erbarmungswürdige Pack mit Eishauch zu einer einzigen, ganz Europa bedeckenden Schicht erstarren zu lassen.

Für die Bäume begann die Fastenzeit, und speziell die Erlen kümmerten sich um nichts. Dürre Äste ächzten im wütenden Nordwind. Die letzten Birnen baumelten bombengleich in den Bäumen. Aber auch sie würden fallen und ihre Ladung Kälte auf das Land entladen. Der Mond übte sich im Schattenwerfen und machte so die Felder mondsüchtig, deren Erde noch weich wie ein Muttermund war. Der Polarstern wich Herbies Blicken nicht aus und die Waldameisen waren bemüht, dem Winter zuvorzukommen. Werden sie es auch diesmal wieder schaffen?

Die Wehmut blieb aus, als Herbie den Mantelkragen hochschlug und den Geruch der Kälte atmete. Der warme Wind des Sommers schien ihm wie eine Geliebte, der kalte des Winters wie seine Frau.

Ein diesiger Wintermorgen kroch ihm in die Kleider. Herbie wärmte sich an seiner Teetasse. Das war einer dieser Tage, wo das Selbstmitleid Gänsehaut, und die Sehnsucht nach Wärme Muskelkater bekam. Herbie fühlte sich, als hätte jemand moderndes Laub in ihn hineingeworfen. Verkatert schien auch der Tag. Der hatte wohl gestern zu viel Regenwasser geschluckt und lag nun mit Bauchgrimmen nebelschwanger überm Land. Erst gegen Abends gab er für eine halbe Stunde die Farben des Lichtes frei, um sie gleich darauf mit Hilfe der Dämmerung wieder in Graustufen umzuwandeln.

Kalt brach die Ostluft herein, minus 15 Grad. Da musste jemand den Korridor offengelassen haben! Herbie lief zum zugefrorenen Teich, dem er die Oberfläche mit den Schlittschuhen zerkratzte. Er legte sich auf das Eis und schaute in diesen verzauberten Schneewittchensarg, hoffend, dass den Fischen genug Wasser zum Atmen bliebe. Der Winter ist ein harter Mann, er hat ein Kleid aus Eisen an. Unerschüttert stand die Möndin am Firmament und strahlte durch die Schneidekälte hinunter die alte Botschaft: Seid einfühlsam mit allen Wesen. Seid einfühlsam mit euch selbst. Liebt euch dafür, was ihr immer wart und in Ewigkeit sein werdet.

Vom Frühling trennten Herbie jetzt nur noch diverse Tiefdruckgebiete mit Sturmausläufern bis hinunter nach Hellas. Wann mag das letzte denkende Wesen seinen Winterschlaf gehalten haben? Und was haben seine Nachkommen mit dem Erbe angefangen? Die Mutation vom Winterschläfer zum Überwinterer in warmen Ländern war eine ähnliche, wie die vom Paarhufer zum Eiskunstläufer.

Die Wechsel von nachtschlafender Wintergräue zu warmen und hellen Frühlingstagen, warfen Herbie ungewohnt früh aus dem Bett. Der Abend war kalt und klar, und die Räume Drinnen und Draußen trafen sich im Ansturm der Jahreszeiten nun gerne im Fensterglas. Der Kreis schloss sich ein weiteres Mal, als Herbie darauf wartete, mit halbvollem Kohlenkasten vom Frühling überrascht zu werden. Weil ihm die Zeit lang wurde, schrieb er einen Vers.

Was wünsch´ ich mir?

Ein Stückchen Wiesenglück mit Osterglocken?
Die Hitzewelle? Mir will der Atem stocken.
Ein Stückchen Herbstschmerz - Tau im Stoppelfeld?
Oder ein Schneesturm unterm Winterzelt?

Ich kann mich nicht entscheiden.
Ich mag sie alle leiden.
 



 
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