Winterschluss

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Chrisch

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WINTERSCHLUSS

Der Wind wehte diese Nacht hier oben besonders heftig, doch durch die dichte Jacke, die er bis obenhin geschlossen hatte, spürte er die eisige Luft nicht, die ihn sonst frösteln ließe. Er selbst bezeichnete sich gern als „Frostbeule", aber die Sommerhitze, ab achtundzwanzig Grad, mochte er auch nicht. So stand er hier, schaute in den kalten Nachthimmel und hatte doch keine Augen für die Sterne, die sich tausendfach glitzernd und glänzend zeigten. Diesmal kamen sie ihm fremd vor und waren ihm feindlich gesinnt, so meinte er. Stolz und kalt starrten sie auf ihn herab als wollten sie sagen: „Du nichtiger Staub. Selbst, wenn du so strahlen könntest wie wir, würde dich niemand sehen.“
Unbeachtet war er hierherauf gestiegen. Die letzte Träne erstarrte in seinem Gesicht, getrocknet vom Sturm, der dies Haus seit fünfzig Jahren versuchte umzublasen. Nichts konnte ihn aufhalten und auch dieses Haus würde einst verschwinden, so wie alles von Menschen gemachte.

Noch am Morgen hatte es anders ausgesehen. Schnee war über Nacht gefallen und angenehm knarrend drückten seine Stiefel neue Spuren in die weiße Fläche.
Er entschloss sich, den Fußweg zu nehmen, der zwar beschwerlich und weit war, aber die Bewegung würde ihm gut tun. Kurzatmige Wolken kamen aus seinem geöffneten Mund und das Gesicht rötete sich zusehends von der kühlen Morgenwitterung. Die lustvolle Anstrengung zauberte weißen Reif auf seine Augenbrauen. Jetzt kam er zum Fluss. Ab hier hätte er sowieso laufen müssen. Das Wasser strömte ruhig dahin. Es war kein Eis mehr zu sehen und immer noch lagen alte Herbstblätter herum und machten den Weg an einigen Stellen glatt und glitschig. Vorsichtig schritt er, aber doch kräftig und zügig unter der Straße den Tunnel hindurch. Enten schwammen im Wasser und er freute sich, dass dicke Socken in seinen Stiefeln steckten und er deshalb immer noch warme Füße hatte. Am Mausoleum wollten sie sich treffen. Er hatte noch viel Zeit und so beschloss er sie zu überraschen. Angekommen bemühte er sich einen Schneemann zu bauen. Als seine Hände, schon fast blaugefroren, ihm den Dienst versagen wollten, setzte er den, doch etwas schiefgeratenen, Schneemannkopf oben auf das Gebilde. "Ein Künstler bin ich wirklich nicht.", stellte er lächelnd fest und steckte zwei Tannenzapfen in den klebrigen Kopf. Bedauernd dachte er, dass der arme Herr Schneemann; denn wie sollte er ihn auch sonst nennen, nicht einmal eine warme Mütze oder wenigstens einen Hut hatte, der ihm sein kurzes kaltes Leben wärmen würde.
Die nahe Rathausuhr verkündete, dass die Verabredungszeit gekommen war, aber weithin war kein Lebewesen zu bemerken, jedenfalls im Augenblick nicht.
Sie kam, wie er, sonst nie zu spät, eine der Eigenschaften, die er sehr hoch schätzte. So lange kannten sie sich eigentlich noch nicht, aber doch lang genug, um sich gegenseitig, an ihrem Kamin, zu wärmen und sie zärtlich stumm zu streicheln, während sie ruhig an seiner Brust schlief.
Er war glücklich gewesen als er schon bald erfuhr, dass sie schwanger war. Da hatte er sich stark gefühlt und sein Magen war aus Marzipan, wie Weihnachten, Bescherung und Familienglück in Einem. Dann klingelte sein Handy und teilte ihm mit, dass sie in dem Café, in der Nähe, wartete. Wenige Minuten später schüttelte er den Schnee von den Schuhen, nachdem er eingetreten war, wollte gerade durch einen Ruf auf sich aufmerksam machen, als er den Mann neben ihr bemerkte, der sich zu ihr beugte. Sie umschlang seinen Nacken, wie sie es so oft bei ihm getan hatte und dann, ihm blieb das Herz stehen, küsste sie ihn während er seine Hand auf ihren gewölbten Leib legte.
Offensichtlich fühlte sie, dass er sie beobachtete, sprang auf und wie durch dicken Nebel, hörte er ihre Erklärungen, aber er verstand sie nicht. Nur eines war deutlich: Sie hatte sich in diesen Kerl verliebt und das schon vor Monaten. Sie habe es ihm ja sagen wollen, aber es war so schwer, wenn er sie so angeschaut hatte. "Es tut mir so leid. Aber bitte versteh mich. Wir kannten uns doch schon so lange. Damals dachte ich, dass es zu Ende war als du auftauchtest. Und dann", sie stockte, schlug die Augen nieder, "dann bemerkte ich, dass ich von ihm schwanger war. Ich wollte es dir doch sofort sagen, aber..." mehr konnte er nicht hören, weil er aus dem Restaurant floh. Blind irrte er durch den Schnee und bald stand er wieder vor seinem Kunstwerk, das ohne Mund mit Tannenzapfenaugen stumm begann vor sich hinzuschmelzen, was bei drei Grad plus auch dem weißen Wasser auf den Bäumen geschah. Mit verschleiertem Blick sah er ringsumher wie die Bäume mit ihm weinten.

Nun stand er hier, schwindelfrei wie er war, direkt am Rand des Daches und sah hinunter auf die kleinen Wesen, die so wie er liebten und litten und verzweifelt waren. Wie viele von ihnen sahen keinen Ausweg mehr und hatten alle Hoffnung begraben? Der Weg nach unten war weit. Es würde aber nur Sekunden dauern und dann war ewiger Schlaf und alles wäre vergessen und begraben. Seine Frau, sein Kind, alles zerplatzt, so wie ein Körper der abrupt durch den Asphalt gebremst wurde. Er zog den Ring, den er gestern für sie gekauft hatte, aus der Tasche. Er funkelte im Sternenlicht. Dann warf er ihn weitausholend hinaus in den Nachthimmel. Vielleicht würde er nie wieder eine Frau so lieben können, aber besser den Ring als sein Leben wegwerfen. Er verfolgte dessen Weg nach unten und lauschte, meinte dann das „Pling“ zu hören, obwohl der Wind versuchte es zu übertönen.
 



 
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