Winterträume

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solowasser

Mitglied
Als Kind hat man eigentlich ziemlich viel. Für gewöhnlich hat man einen Vater und eine Mutter. Man hat eine Tante, einen Onkel. Mit Glück hat man einen Cousin, eine Cousine. Mit noch mehr Glück einen Bruder oder eine Schwester. Und mit fast schon unerträglich viel Glück einen Bruder und eine Schwester und alle anderen ebenso. So ein Kind bin ich. Doch das ist nicht alles. Ich habe noch mehr. Ich habe ein Zimmer mit Bildern darin und mit Spielzeug darin. Es ist ein großes Zimmer und die Wände sind rot und blau. Nebenan wohnt mein Bruder und zwei Türen links von mir wohnt meine Schwester. Manchmal schlafen wir alle in einem Zimmer, obwohl jeder sein eigenes hat. Und damit nicht genug. Ich habe sogar ein Badezimmer mit einer Dusche, einer Badewanne und einem Haufen fließend Wasser. Manchmal lasse ich das Wasser einfach laufen, obwohl ich es gar nicht mehr brauche. Ich lasse es fließen und gehe aus dem Badezimmer und steige die Treppenstufen hinunter. Ich komme im Flur an, wo es immer kalt ist und nach Schuhen und Schnee riecht. Ich muss aufpassen, dass ich nicht über meine Schuhe stolpere, die unordentlich im Flur herumliegen.

Das habe ich ganz vergessen zu erwähnen. Ich habe Schuhe. Sogar mehrere Paare, ich glaube fünf. Das heißt, ich habe zehn Schuhe. Das ist eine ganze Menge, nicht wahr? Ich öffne eine Tür und hinter der Tür ist es warm und es riecht nach Essen und meiner Mutter. Ich fühle mich hier sofort wohler als im Flur. Der Flur ist ein Zimmer, in dem man sich eigentlich nicht aufhält. Er dient nur dazu, seine Schuhe auszuziehen. Zumindest tut das im Flur jeder, also mach ich das auch. Im Flur wird beispielsweise nie gegessen. Es wird auch nicht geschlafen im Flur und im Flur kann man sich nirgendwo hinsetzen, also tut man das auch nie. Ein komisches Zimmer, ein Flur, oder?

Es gibt also mein Zimmer, das Zimmer meiner Schwester, das Zimmer meines Bruders, den Flur und die Küche, in der meine Mutter normalerweise steht. Mein Vater ist der einzige, der sich ab und zu im Flur aufhält. Ich glaube das zumindest. Für immer steht meine Mutter in der Küche und mein Vater im Flur, obwohl das gar nicht stimmt, aber manchmal träume ich davon. Wenn ich mir eine Küche vorstelle, dann stell ich sie mir nie ohne meine Mutter vor und wenn ich ein Bild von einem Flur im Kopf habe, dann steht dadrin immer mein Vater und bindet sich die Schnürsenkel seiner großen, breiten Stiefel, die nach Leder und Stricksocken riechen. Aber mein Vater hält sich auch in meinen Träumen nie lange im Flur auf. Immer macht er irgendwas und nie sind diese Betätigungen von langer Dauer. Immer bindet er sich die Schnürsenkel. Manchmal hört der Traum hier auf oder ich gehe im Traum in die Küche, in der meine Mutter steht. Im Traum riecht es immer nach Tomatensoße und ihre Schürze ist voller roter Tomatenflecken.

Manchmal sucht mein Vater auch noch seine Handschuhe oder er macht sich seine dicke Jacke zu. Meistens klemmt der Reißverschluss und es dauert ein bisschen länger, bis er die Jacke zubekommt. In meinen Träumen ist es immer Winter, der Flur ist immer kalt, die Küche warm und mein Vater bindet sich seine dicken Lederschuhe zu. Ich glaube, mein Vater geht jedes mal raus, um Schnee zu schippen. In meinen Träumen sehe ich das nicht, aber ich weiß ganz genau, dass er das tun wird. Er bindet sich seine Schuhe, macht seine Jacke zu – oft klemmt sie – und dann gehe ich weiter in die Küche zu meiner Mutter. Ich stelle mich neben meine Mutter und frage, wann es essen gibt. Ich bekomme eine Antwort und ein Lächeln und bin fürs Erste zufrieden. Ich gehe weiter und komme ins Wohnzimmer.

Achja, es gibt auch ein Wohnzimmer. Es gibt also mein Zimmer, das Badezimmer, das Zimmer meiner Schwester, das Zimmer meines Bruders, den Flur, die Küche und das Wohnzimmer. Im Wohnzimmer ist das Licht matt, es ist warm, es riecht nach Heizung und es läuft Musik. Es ist diese Art von Musik, die immer läuft, wenn meine Mutter in der Küche steht und mein Vater sich im Flur die Schnürsenkel seiner Stiefel bindet. Es ist auch diese Art von Musik, die nur im Winter laufen kann. Es ist Wintermusik. Warme, tiefe Stimmen kommen aus dem Lautsprecher, draußen ist es dunkel und im Wohnzimmer brummt die Heizung und der Geruch des süßlichen Heizöls ist wie ein Vorbote von Weihnachten. Es riecht nach Advent und Tannenzapfen.

Die schweren, hölzernen Rollläden sind heruntergezogen, damit die Nachbarn nicht stören können, damit sie unsere Wintermusik nicht klauen können. Der Raum ist groß, aber wirkt verschlossen. Es ist ein Raum, den es nur im Winter gibt. Im Herbst, im Frühling und im Sommer steht hier auch ein Raum, aber es ist ein anderer. Es ist ein offener, es ist einer, der mit anderen Räumen verbunden ist und es ist einer, den man teilt. Im Sommer ist das Wohnzimmer fast wie der Flur, es ist ein Durchgangszimmer, in dem viele verschieden Sachen passieren, die alle von kurzer Dauer sind. Im Flur werden Schuhe gebunden und Jacken zugezogen, im Wohnzimmer wird ein Glas Wasser getrunken und vom Wohnzimmer aus wird in den Garten gerannt. Im Winter ist das gar nicht möglich, denn die Rollläden sind unten. Um im Winter in den Garten zu kommen, muss ich erst die Rollläden ein Stück nach oben ziehen und dann muss ich mich klein machen und unten durch kriechen. Im Garten ist es dann dunkel und nass. Kalt ist es nicht. Und es liegt auch kein Schnee.

Wenn ich träume, dann liegt nur auf der Einfahrt, also vor dem Flur Schnee, denn wenn ich träume, bindet sich mein Vater seine Schnürsenkel und geht hinaus, zum Schneeschippen. Hinten im Garten liegt nie Schnee. Es ist so, als würde ich eine andere, eine neue Welt betreten, wenn ich unter die Rollläden hindurchkrieche. In dieser Welt gibt es keinen Schnee und keine Kälte. Es ist nur dunkel.

Ich gehe zurück in das Wohnzimmer, in dem immer noch die Wintermusik läuft. Mir fällt ein, dass ich den Wasserhahn oben im Badezimmer angelassen habe und freue mich darauf, die Treppen hochpoltern zu können und dabei zwei Stufen auf einmal zu nehmen. Ich renne in die Küche, aber ich sehe meine Mutter nicht. Die Tür zum Flur ist geschlossen, aber das Licht ist an und ich höre ein Wimmern. Ich schaue auf den Herd und sehe die Tomatensoße, die über den silbernen Topf hinausquillt und die friedlich und langsam den Ofen hinabfließt. Es ist eine breiige, rote Flüssigkeit, die nicht mehr nach Tomatensoße aussieht und auch nicht mehr nach Tomatensoße riecht. Sie läuft den Ofen hinunter und erreicht den Fußboden. Dort schlängelt sie sich weiter in Richtung Tür. Ich rüttle daran, aber kriege sie nicht auf. Ich bin verzweifelt, will die Küche sofort verlassen. Wie ein Wahnsinniger rüttle ich an der Tür, aber etwas Schweres befindet sich davor. Die Tomatensoße aber quillt durch alle Ritzen, durch alle Spalten der Tür hindurch, als ob sie genau das von Anfang an vorhatte. Sie wollte meine Mutter aus der Küche locken, etwas Schweres vor die Tür platzieren und dann genau dort hinfließen. Genau dorthin, wo sich mein Vater das letzte Mal die Schnürsenkel gebunden hat und zum Schneeschippen hinausgegangen ist. Und genau dorthin gehört diese rote Flüssigkeit, denn jedes Kind weiß, dass der Tod und das Blut wie zwei eineiige Zwillinge sind, die ohneeinander nicht existieren können. Und weil mein Vater nicht geblutet hat, als er gestorben ist, musste meine Mutter für ihn Tomatensoße kochen, um ihn zu erlösen.

Im Sommer denke ich oft an die Sachen, die ich habe. Ich habe ein eigenes Zimmer. Ich habe rote und blaue Wände. Ich habe Spielzeug. Ich habe eine Schwester und einen Bruder. Ich habe eine Tante, einen Onkel. Ich habe einen Cousin und eine Cousine. Ich habe eine Mutter. Ich habe einen toten Vater. Ich habe einen Vater, dessen Name auf einem großen Stein steht und vor dem man steht und weint. Wenn ich träume, habe ich einen Vater, der sich seine Schnürsenkel bindet. Einen Vater, der dicke Stiefel anzieht und einen Vater, dessen Reißverschluss klemmt. Einen Vater, der Schneeschippen geht. Ich habe einen Vater, der im Herbst, im Frühling und im Sommer in unserem Winterwohnzimmer sitzt, das irgendwo verschlossen und für niemanden sichtbar herumstehen muss, und für immer auf uns wartet.

Und ich weiß jetzt, was man in einem Flur macht. Man sitzt dort nicht und man schläft dort nicht und man isst dort nicht. Im Flur stirbt man. Man stirbt im Flur und lässt von sich nur einen Stein zurück, den andere verzweifelt anstarren und der mit Tränen begossen wird, damit er nicht verwelkt wie eine Winterpflanze, die man im Sommer kauft.
 

Maribu

Mitglied
Oh, solowasser, da hast du ja eine originelle Kurzgeschichte
geschrieben!

Es ist keine spannende, aber eine, die mich gerade deswegen gefesselt hat. Deine lakonische Sprache und die Wiederholungen, teilweise verändert, haben mir gut gefallen.

Träume weiter vom Winter, der wohl auch für uns Erwachsene bald
kommt, und vergiss nicht, den Wasserhahn abzudrehen!

Liebe Grüße
Maribu
 

solowasser

Mitglied
Hallo Maribu,

Vielen Dank für deine Antwort. Freut mich, dass dir mein Text gefallen hat.

Den Wasserhahn lasse ich - im Gegensatz zum Ich-Erzähler - für gewöhnlich nicht absichtlich laufen. :)

Viele Grüße
solowasser
 

solowasser

Mitglied
Als Kind hat man eigentlich ziemlich viel. Für gewöhnlich hat man einen Vater und eine Mutter. Man hat eine Tante, einen Onkel. Mit Glück hat man einen Cousin, eine Cousine. Mit noch mehr Glück einen Bruder oder eine Schwester. Und mit fast schon unerträglich viel Glück einen Bruder und eine Schwester und alle anderen ebenso. So ein Kind bin ich. Doch das ist nicht alles. Ich habe noch mehr. Ich habe ein Zimmer mit Bildern darin und mit Spielzeug darin. Es ist ein großes Zimmer und die Wände sind rot und blau. Nebenan wohnt mein Bruder und zwei Türen links von mir wohnt meine Schwester. Manchmal schlafen wir alle in einem Zimmer, obwohl jeder sein eigenes hat. Und damit nicht genug. Ich habe sogar ein Badezimmer mit einer Dusche, einer Badewanne und einem Haufen fließend Wasser. Manchmal lasse ich das Wasser einfach laufen, obwohl ich es gar nicht mehr brauche. Ich lasse es fließen und gehe aus dem Badezimmer und steige die Treppenstufen hinunter. Ich komme im Flur an, wo es immer kalt ist und nach Schuhen und Schnee riecht. Ich muss aufpassen, dass ich nicht über meine Schuhe stolpere, die unordentlich im Flur herumliegen.

Das habe ich ganz vergessen zu erwähnen. Ich habe Schuhe. Sogar mehrere Paare, ich glaube fünf. Das heißt, ich habe zehn Schuhe. Das ist eine ganze Menge, nicht wahr? Ich öffne eine Tür und hinter der Tür ist es warm und es riecht nach Essen und meiner Mutter. Ich fühle mich hier sofort wohler als im Flur. Der Flur ist ein Zimmer, in dem man sich eigentlich nicht aufhält. Er dient nur dazu, seine Schuhe auszuziehen. Zumindest tut das im Flur jeder, also mach ich das auch. Im Flur wird beispielsweise nie gegessen. Es wird auch nicht geschlafen im Flur und im Flur kann man sich nirgendwo hinsetzen, also tut man das auch nie. Ein komisches Zimmer, ein Flur, oder?

Es gibt also mein Zimmer, das Zimmer meiner Schwester, das Zimmer meines Bruders, den Flur und die Küche, in der meine Mutter normalerweise steht. Mein Vater ist der einzige, der sich ab und zu im Flur aufhält. Ich glaube das zumindest. Für immer steht meine Mutter in der Küche und mein Vater im Flur, obwohl das gar nicht stimmt, aber manchmal träume ich davon. Wenn ich mir eine Küche vorstelle, dann stell ich sie mir nie ohne meine Mutter vor und wenn ich ein Bild von einem Flur im Kopf habe, dann steht dadrin immer mein Vater und bindet sich die Schnürsenkel seiner großen, breiten Stiefel, die nach Leder und Stricksocken riechen. Aber mein Vater hält sich auch in meinen Träumen nie lange im Flur auf. Immer macht er irgendwas und nie sind diese Betätigungen von langer Dauer. Immer bindet er sich die Schnürsenkel. Manchmal hört der Traum hier auf oder ich gehe im Traum in die Küche, in der meine Mutter steht. Im Traum riecht es immer nach Tomatensoße und ihre Schürze ist voller roter Tomatenflecken.

Manchmal sucht mein Vater auch noch seine Handschuhe oder er macht sich seine dicke Jacke zu. Meistens klemmt der Reißverschluss und es dauert ein bisschen länger, bis er die Jacke zubekommt. In meinen Träumen ist es immer Winter, der Flur ist immer kalt, die Küche warm und mein Vater bindet sich seine dicken Lederschuhe zu. Ich glaube, mein Vater geht jedes mal raus, um Schnee zu schippen. In meinen Träumen sehe ich das nicht, aber ich weiß ganz genau, dass er das tun wird. Er bindet sich seine Schuhe, macht seine Jacke zu – oft klemmt sie – und dann gehe ich weiter in die Küche zu meiner Mutter. Ich stelle mich neben meine Mutter und frage, wann es essen gibt. Ich bekomme eine Antwort und ein Lächeln und bin fürs Erste zufrieden. Ich gehe weiter und komme ins Wohnzimmer.

Achja, es gibt auch ein Wohnzimmer. Es gibt also mein Zimmer, das Badezimmer, das Zimmer meiner Schwester, das Zimmer meines Bruders, den Flur, die Küche und das Wohnzimmer. Im Wohnzimmer ist das Licht matt, es ist warm, es riecht nach Heizung und es läuft Musik. Es ist diese Art von Musik, die immer läuft, wenn meine Mutter in der Küche steht und mein Vater sich im Flur die Schnürsenkel seiner Stiefel bindet. Es ist auch diese Art von Musik, die nur im Winter laufen kann. Es ist Wintermusik. Warme, tiefe Stimmen kommen aus dem Lautsprecher, draußen ist es dunkel und im Wohnzimmer brummt die Heizung und der Geruch des süßlichen Heizöls ist wie ein Vorbote von Weihnachten. Es riecht nach Advent und Tannenzapfen.

Die schweren, hölzernen Rollläden sind heruntergezogen, damit die Nachbarn nicht stören können, damit sie unsere Wintermusik nicht klauen können. Der Raum ist groß, aber wirkt verschlossen. Es ist ein Raum, den es nur im Winter gibt. Im Herbst, im Frühling und im Sommer steht hier auch ein Raum, aber es ist ein anderer. Es ist ein offener, es ist einer, der mit anderen Räumen verbunden ist und es ist einer, den man teilt. Im Sommer ist das Wohnzimmer fast wie der Flur, es ist ein Durchgangszimmer, in dem viele verschieden Sachen passieren, die alle von kurzer Dauer sind. Im Flur werden Schuhe gebunden und Jacken zugezogen, im Wohnzimmer wird ein Glas Wasser getrunken und vom Wohnzimmer aus wird in den Garten gerannt. Im Winter ist das gar nicht möglich, denn die Rollläden sind unten. Um im Winter in den Garten zu kommen, muss ich erst die Rollläden ein Stück nach oben ziehen und dann muss ich mich klein machen und unten durch kriechen. Im Garten ist es dann dunkel und nass. Kalt ist es nicht. Und es liegt auch kein Schnee.

Wenn ich träume, dann liegt nur auf der Einfahrt, also vor dem Flur Schnee, denn wenn ich träume, bindet sich mein Vater seine Schnürsenkel und geht hinaus, zum Schneeschippen. Hinten im Garten liegt nie Schnee. Es ist so, als würde ich eine andere, eine neue Welt betreten, wenn ich unter die Rollläden hindurchkrieche. In dieser Welt gibt es keinen Schnee und keine Kälte. Es ist nur dunkel.

Ich gehe zurück in das Wohnzimmer, in dem immer noch die Wintermusik läuft. Mir fällt ein, dass ich den Wasserhahn oben im Badezimmer angelassen habe und freue mich darauf, die Treppen hochpoltern zu können und dabei zwei Stufen auf einmal zu nehmen. Ich renne in die Küche, aber ich sehe meine Mutter nicht. Die Tür zum Flur ist geschlossen, aber das Licht ist an und ich höre ein Wimmern. Ich schaue auf den Herd und sehe die Tomatensoße, die über den silbernen Topf hinausquillt und die friedlich und langsam den Ofen hinabfließt. Es ist eine breiige, rote Flüssigkeit, die nicht mehr nach Tomatensoße aussieht und auch nicht mehr nach Tomatensoße riecht. Sie läuft den Ofen hinunter und erreicht den Fußboden. Dort schlängelt sie sich weiter in Richtung Tür. Ich rüttle daran, aber kriege sie nicht auf. Ich bin verzweifelt, will die Küche sofort verlassen. Wie ein Wahnsinniger rüttle ich an der Tür, aber etwas Schweres befindet sich davor. Die Tomatensoße aber quillt durch alle Ritzen, durch alle Spalten der Tür hindurch, als ob sie genau das von Anfang an vorhatte. Sie wollte meine Mutter aus der Küche locken, etwas Schweres vor die Tür platzieren und dann genau dort hinfließen. Genau dorthin, wo sich mein Vater das letzte Mal die Schnürsenkel gebunden hat und zum Schneeschippen hinausgegangen ist. Und genau dorthin gehört diese rote Flüssigkeit, denn jedes Kind weiß, dass der Tod und das Blut wie zwei eineiige Zwillinge sind, die ohneeinander nicht existieren können. Und weil mein Vater nicht geblutet hat, als er gestorben ist, musste meine Mutter für ihn Tomatensoße kochen, um ihn zu erlösen.

Im Sommer denke ich oft an die Sachen, die ich habe. Ich habe ein eigenes Zimmer. Ich habe rote und blaue Wände. Ich habe Spielzeug. Ich habe eine Schwester und einen Bruder. Ich habe eine Tante, einen Onkel. Ich habe einen Cousin und eine Cousine. Ich habe eine Mutter. Ich habe einen toten Vater. Ich habe einen Vater, dessen Name auf einem großen Stein zu lesen ist und vor dem man steht und weint. Wenn ich träume, habe ich einen Vater, der sich seine Schnürsenkel bindet. Einen Vater, der dicke Stiefel anzieht und einen Vater, dessen Reißverschluss klemmt. Einen Vater, der Schneeschippen geht. Ich habe einen Vater, der im Herbst, im Frühling und im Sommer in unserem Winterwohnzimmer sitzt, das irgendwo verschlossen und für niemanden sichtbar herumstehen muss, und für immer auf uns wartet.

Und ich weiß jetzt, was man in einem Flur macht. Man sitzt dort nicht und man schläft dort nicht und man isst dort nicht. Im Flur stirbt man. Man stirbt im Flur und lässt von sich nur einen Stein zurück, den andere verzweifelt anstarren und der mit Tränen begossen wird, damit er nicht verwelkt wie eine Winterpflanze, die man im Sommer kauft.
 



 
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