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Rika

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I.

\"Wir gehen in die Nacht, tief in die Nacht, wir finden uns selbst\"
Ich öffne die Augen, wache auf. Eine Stimme redet zu mir.
\"Wir gehen tiefer. Wir sind in der Stille.\"
Einige Momente vergehen, bis ich mich orientieren kann. Ich sitze am Tisch und habe Kopfhörer auf. Vermutlich versuche ich, zu meditieren.
Meditieren? Das habe ich noch nie gemacht.
\"Wir hören der Stille zu ...\"
Meine linke Hand zieht die Kopfhörer herunter und legt sie auf den Tisch. Die Stimme verstummt, dafür pfeift jetzt ein Fernseher in meinem Ohr. Nein, das ist kein Fernseher. Das ist ein einzelner, langer Ton, Frequenz hoch. Extrem hoch. Der Ton ist in meinem Ohr, ich schüttele den Kopf und klopfe gegen die Schläfe, aber er verzieht sich nicht. Er verstummt nicht. Es ist in meinem Ohr. Seit wann höre ich dieses Piepsen? Ich kann mich an hervorragendes Gehör zurückerinnern, ich mag und brauche die Stille, das weiß ich. Das Piepsen ist mir neu. Es macht mir Angst.
Ich merke, wie ich mir eine Zigarette in den Mund stecke und zur Streichholzschachtel greife - du willst beim Rauchen Schwefel riechen, erklärt mir mein Unterbewusstsein, deshalb hast du immer Streichhölzer da und benutzt kein Feuerzeug, du hattest schon immer etwas gegen diesen metallischen Funken am Ende deiner Zigarette. Seit wann rauche ich? Wann habe ich angefangen? Ich habe den Rauch immer verabscheut, der Geschmack von Nikotin auf den Zähnen nach meiner ersten und einzigen Probezigarette war mir zuwider gewesen, und der Vorstellung, mit jedem Zug schwarzes Gift in meiner Lunge abzulagern, hatte ich auch nichts abgewinnen können. Dennoch bewegen sich meine Hände automatisch, eingespielt, als hätten sie das schon hunderte von Malen gemacht. Tausende von Malen.
Vielleicht bin ich es gar nicht, kommt es mir in den Sinn, vielleicht sitze ich nicht wirklich hier. Ich träume, oder ich bin tatsächlich in einen Meditationszustand gewechselt, in dem ich irgendjemand bin, nur nicht ich selbst. Ich schlage den Saum meines Bademantels zurück und kneife mich in den Oberschenkel. Es schmerzt, ich bin wach. Ich wünschte, ich wäre es nicht. Meine Oberschenkel geben mir zu denken - blass, kalt, wie schlecht gekneteter Teig. Was ich so sorgfältig mit Sex und Kickboxen aufgebaut hatte, schwabbelt nun unter meinen trockenen Handflächen. Meine Fingernägel sind spitz geschliffen und glänzend lackiert. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals Lack benutzt zu haben. Wer hat das getan? Was ist mit mir passiert?
Ich inhaliere nervös den Zigarettenrauch. Anscheinend brauche ich ihn, mir wird sogleich warm, ich beruhige mich. Ich weiß nicht, was ich von der Situation halten soll. In meiner Erinnerung schwebt mir eine Person vor, die nichts mit meinem jetzigen Zustand zu tun hat. Als wäre ich ein Abziehbildchen, nein, nicht einmal das - ein Negativ. Ich könnte einen Blick in den Spiegel werfen, doch das wage ich nicht. Ich habe Angst, mir in die Augen zu blicken. Vermutlich habe ich gar keine mehr. Womöglich bin ich sogar geschminkt. Verzogene Mundwinkel, Falten in der Stirn, leere Pupillen, umgeben von schwarzen, verklebten Fliegenbeinchen. Nein, so weit muss ich jetzt nicht gehen. Ich muss mich erinnern. Einfach erinnern.
Mein Ex kommt mir in den Sinn. Interessant. Ich hätte nicht gedacht, dass ich je einen haben würde. Einen Exfreund, oder gar einen Exmann. Ich weiß nicht, was von beidem er ist, aber ich weiß, dass er nicht mehr ist. Nicht bei mir, nicht in erreichbarer Nähe. Was habe ich getan? Hatte ich mir nicht geschworen, ihn nicht aus meinem Leben verschwinden zu lassen? Habe ich ihn nicht geliebt?
Er ist weg. Ich bin hier, allein. Ich bin nicht ich. Wie alt mag ich wohl sein? Dreißig? Vierzig? Unwichtig.
Unter meinem Küchentisch liegt eine leere Pizzaschachtel, mindestens zwei Tage alt. Was für ein Klischee. Ein ironisches Lächeln drängt sich in mein Gesicht, und ich merke, wie dabei Muskeln beansprucht werden, die lange geschlafen haben. Die Zigarette wandert in den Aschenbecher. Jetzt wird aufgeräumt.

Zunächst bringe ich mich selbst wieder in Ordnung. Der Bademantel fällt, eine kalte Dusche weckt die Reste meines Geistes, quetscht sie mühsam aus meiner fast aufgebrauchten Gehirnpastatube. Schwarze Wassertropfen bahnen sich einen Weg über Speckröllchen am Bauch, gut, die Tusche ist aus dem Gesicht gespült. Ich verstecke mich unter einem Badetuch, um diesen scheußlichen Körper nicht sehen zu müssen, und räume meinen Kleiderschrank aus. Fremde Klamotten fliegen durch das Zimmer - Designerkleider, Hosenanzüge, Miniröcke. Wo sind meine Sachen? Wo ist meine schlichte, immer bequeme Kleidung, die mich zur Bewegung motiviert? Wo bin ich?
In einer Ecke des Schrankes finde ich etwas Passables, offensichtlich längst Vergessenes. Mein neues Ich scheint es nicht übers Herz gebracht zu haben, alles wegzuwerfen, was dem echten Ich gehört hatte. Wie tröstlich.
Ich bin wiederhergestellt, zumindest äußerlich. Es folgt die Zimmerinventur. Im Kühlschrank gammelt eine Gurke vor sich hin, daneben liegt eine angeschnittene, stinkende Salami. Kaffee- und Zuckerdosen sind im Buffetschränkchen zusammengepfercht, auf der Mikrowelle stapeln sich Zigarettenschachteln. Lebt die Person, der das alles gehört, eigentlich noch? Was macht sie den ganzen Tag, außer zu rauchen und zu meditieren? Eine sonderbare Freude stellt sich in mir ein, ich spiele Detektiv, mal sehen, was sich ans Tageslicht hervorzerren lässt. Die Frau, die ich gerade bin, scheint ein Wrack zu sein. Ein Foto hängt an der Wand - ein Mann ohne Gesicht. Von der Stelle seines Kopfes starrt ein Brandfleck in meine Richtung. Rachsüchtig ist sie auch noch, diese Kuh. Was für ein Biest. Das Nachttischchen ist übersät mit Schminkzubehör, von dem ich die Hälfte nicht zuordnen kann. Eine ganze Farbpalette, das gibt bestimmt eine schöne Kriegsbemalung. Ich muss unwillkürlich lachen. Das wird mir allmählich zu verrückt. Bisher liefert mir nichts in dieser Wohnung einen sichtbaren Hinweis auf meine Gedächtnislücke. Wenn ich nur wüsste, wo mein Geliebter abgeblieben ist. Was habe ich mit ihm gemacht? Warum musste ich ihn auslöschen?

Jemand klingelt an der Tür. Hervorragend, ein Anhaltspunkt, komm in meine Arme. Als ich die Tür öffne, steht ein Mann vor mir, ein gewöhnlicher, gut angezogener Mann. Meinen fragenden Blick quittiert er seinerseits mit einem verwirrten Blinzeln, so als müsste ich ihn erwartet haben, und als Zugabe breitet er seine Arme aus und legt den Kopf auf die Seite - ob ich mich nicht freue, ihn zu sehen? Ich beschließe, mitzuspielen, ziehe ein leichtes Lächeln auf und trete zur Seite, damit er hereinkommen kann. Dabei registriere ich missbilligend, dass er seine Schuhe anbehält.
\"Tut mir leid, ich war gerade ... wo anders.\" Während ich die Worte ausspreche, kämpfe ich mit Untertönen, die mich womöglich verraten könnten. Erst einmal das Gebiet sichern - dann zum Angriff übergehen. Der Mann nickt und legt einen Arm um meine Schulter. \"Ich verstehe schon. Sag es mir einfach, wenn du mehr Zeit für deine Suche brauchst. Eine Religion ist nichts, das man sich von heute auf morgen ...\" - Über meinen Gedanken liegt Nebel, doch mit jedem Wort, das der Mann von sich gibt, schneidet ein Luftzug durch die Schwaden, es lichtet sich ein bisschen mehr, wird wässriger, durchsichtiger. Der Name des Mannes beginnt mit einem E, er hat ihn mir bereits vor Jahren genannt, aber nicht bei einem Date, nicht bei unserem ersten Treffen, nein ... Er hat damals das tief ausgeschnittene rote Kleid an mir betrachtet, anstatt mir in die Augen zu sehen, und sich die schwarzen Locken aus der Stirn gestrichen, wobei diese Geste dazu diente, das Verlangen seiner Hand, nach mir zu greifen, zu unterdrücken - das sah ich ihm an, das war wohl mein erster Eindruck von ihm, denn er prägt mein Unterbewusstsein noch immer, zumal ich mich an keinen weiteren Anhaltspunkten richten kann. Von den Locken ist nichts mehr übrig, seine Haare liegen ordentlich gekämmt auf seinem Kopf, ein ordentlicher Skalp und darunter eine ordentliche, feingliedrige Brille mit hauchdünnen Gläsern. \"... aber gut.\" Mein Gehirn schaltet die Welt wieder auf volle Lautstärke und lässt mich mit ein paar Wortfetzen im Regen stehen. Welch umsichtige Art, mit einem fragilen Bewusstsein umzugehen. \"Entschuldige, dein letzter Satz, ich habe ...\" - \"Oh, ich meinte nur, du siehst gut aus, ungewöhnlich, aber gut. Ich glaube, ich habe dich noch nie in dieser Kleidung gesehen.\" Ich nehme ihn an der Hand und ziehe ihn auf das grässlich weiße Ledersofa in meinem und doch nicht meinem Wohnzimmer. \"Erik.\" Anscheinend habe ich ins Schwarze getroffen. Seine Augen glänzen mir eine Feuersbrunst entgegen, als er mich auf seinen Schoß setzt und einen Daumen auf meinem Mund plaziert. \"Oh, ich liebe es, wenn du das sagst, du glaubst gar nicht ...\" - \"Erik\", unterbreche ich unbarmherzig. \"Erinnerst du dich noch an das rote Kleid?\" Er hält inne, legt seine Stirn in Falten. \"Was meinst du? Doch nicht das, als ...\" Er macht eine Pause und wartet auf eine Reaktion von mir, die nicht kommt. \"Hey. Ich habe es dir versprochen, und ich werde dieses Versprechen einhalten. Du hast es so gewollt.\" Er glaubt, ich wüsste, wovon er redet, dabei habe ich nicht die geringste Ahnung. Das ist das Schicksal aller Doppelgänger, die sich nicht im Leben ihrer Originale zurechtfinden. Ein Königreich für einen Souffleur! Vielleicht sollte ich es darauf ankommen lassen und die Verwirrte spielen. Auf Amnesie plädieren, mein Gesicht mit Selbstfindungspuder bleichen und dezent anmerken, dass ich meine Erinnerungen nackt vor mir ausbreiten müsse, um sie löschen zu können. \"Ich möchte es wissen. Bitte. Es ist alles so lange her und ... ich bin im Begriff, aufzuräumen. In meiner Seele, verstehst du? Verdrängung ist nicht der richtige Weg.\" Erik blickt mich sichtbar verdutzt an und meinen Augen fällt nichts Besseres ein, als die Innenseite seines steifen Hemdkragens zu taxieren, deren Grauton sich in eigensinniger, unangemessener Manier von dem sonst recht weißen Weiß des restlichen Hemdes abhebt. Die Schnurrbartstoppeln unter seiner Nase sind damals nicht da gewesen, als er letztendlich dem Drang seiner Hand nachgab, mich an den Haaren packte und einen harten Kuss auf meine Lippen drückte, wobei ich das nicht habe als Kuss bezeichnen wollen, und seine glatte Oberlippe war das einzige, das sich mir von jener Szene eingeprägt hat. Er hatte mir das rote Kleid von den Schultern gerissen und ich fragte ihn nach seinem Namen, woraufhin er sich zwischen meine Knie drängte und zischte: „Erik. Merk dir das.“ Ich komme nicht umhin, diesen Gedanken einen sarkastischen geistigen Tritt hinterher zu schicken, bevor ich mich wieder auf die Situation konzentriere. \"Du hast gesagt, du wolltest nicht mehr darüber reden. Nie mehr. Du wolltest deine Vergangenheit vergessen, begraben, und unseren Anfang ebenso. Wir sind jetzt, hast du gesagt, und was wir waren, zählt nicht. Deshalb habe ich es dir versprochen ... weißt du nicht mehr?\" Ach so. Ich habe also an meiner Erinnerung herumgeschnitten, um etwas zu vertuschen, um Dinge zu verdrängen und ein neues Leben zu beginnen. Doch habe ich mir diesen Neuanfang verdient? Und ist er nicht zudem herrlich schief gegangen, gemessen an meinem jetzigen Zustand? Ich stecke in einem Zombie-Körper, bin hergerichtet wie eine frustrierte Beziehungsgeschädigte und ernähre mich von Salami und Kaffee. Ist das mein neues Leben?
Ich löse mich von Erik, gehe ein paar Schritte durch das Zimmer, bleibe am Bett stehen und ziehe schließlich mit einem Ruck den weinroten Überwurf herunter. Wie ein Leichentuch senkt es sich über das Nachttischchen, verbirgt kippende Parfumfläschchen und auf den Boden rollende Mascara-Stifte unter sich. Die Hände auf den Bettrand gestützt, schließe ich die Augen und sauge den Geruch dieser Schlafstätte ein, bereit, ihn auf meiner Probenpalette unter Liebe, Leben, Leiden oder Ruhe einzuordnen. Ohne mich umzudrehen bitte ich Erik, hinter mich zu treten, und in dieser Falte zwischen ihm und dem Bett spüre ich, wie mir unausgegorener Tod entgegenschlägt.
\"Komm\", flüstere ich, \"nimm mich.\" Das lässt er sich nicht zweimal sagen.

***


Meine Erinnerung ist ein schadhafter Mikrofilm, mit Lücken, Blindflecken, Rissen. Ich habe sie so zugerichtet, genau wie ich die Fotos meines Geliebten verunstaltet habe, ohne sie von den Wänden zu nehmen. \"Wie damals\", sagt Erik träumerisch, reicht mir seine Zigarette und bettet sein Gesicht auf meinem Unterarm. \"Wie an jenem Tag. Ich dachte, du hättest es ein für alle Mal aufgegeben. All das, was dich an deinen damaligen Zustand erinnern würde. Ich hätte damit leben können, aber wenn du wieder bereit bist, von vorne zu beginnen, ist es natürlich ...\" – Zustand, sagt er. Nutte, meint er. Das ist es also. Der Zombie-Körper hat meinem jetzigen Ich bisher als Rettungskapsel gedient, als Stasisbox für den jämmerlichen Klumpen Ich, der sich vor der Vergangenheit verstecken und seine Überbleibsel raffen und auf diese Weise retten wollte. Er hat nicht damit gerechnet, dass die Stasisbox ein Eigenleben entwickeln und die Konservierungsstoffe auslaufen lassen würde. Aber nun bin ich wieder hier. Ich bin da, um aufzuräumen. Warum bloß Nutte?

\"... diesem Bett.\" - \"Erik?\" - \"Ja, Liebling?\" - \"Was habe ich mit dem Mann auf den Fotos da gemacht?\"
Der Enthusiasmus in seiner Stimme verschwand genauso schnell, wie er aufgetaucht war. Irgendwie tut er mir Leid, dieser Mann, der sich einst in ein leichtes Mädchen verliebte, um zuzusehen, wie es zu einer Frau wurde, die ihre Vergangenheit wie ein verführerisches Sommerkleid an den Haken gehängt hatte. Er wartet seit Jahren darauf, dass sie genese, oder er wartet nicht, sondern liebt sie einfach, diese verdammte Frau. Er tut mir Leid, aber ich kann nichts für ihn tun. Ich bin nicht sie. Ich bin nicht sein.

„Du hast ihn verlassen“, antwortet er kurz angebunden. „Nur verlassen? Warum habe ich seine Fotos nicht abgenommen?“ Erik seufzt und streicht mit seiner Hand über meinen Hals. „Ich hatte immer gehofft, du würdest sie letztendlich abnehmen. Würdest deine unglückliche Beziehung zu ihm aus der Gegenwart streichen, doch du sagtest immer, du seist wütend auf ihn und wolltest die Wut nicht vergessen. Sag bloß, du weißt es nicht mehr. Wollen wir sie zusammen abnehmen?“ Wut? Ich möchte mich ohrfeigen. Nein, noch besser: mich mit verbundenen Augen und gefesselten Händen in den Ring begeben und mir von meinem Gegner Verstand einprügeln lassen. Moment mal – der Gedanke an „Ring“ löst einen sägenden Schmerz in mir aus, ein pulsierendes Stechen, die Assoziation tanzt mir wie im Sinnesrausch vor Augen und lässt nicht nach sich greifen. Das Gefühl vollkommener Hilflosigkeit schnürt meinen Brustkorb ein, ich spüre, dass meine Lungenflügel von den splitternden Rippen zerfetzt werden, wenn ich einen tiefen Atemzug nehme, und halte die Luft an. Verdammt soll ich sein, wenn ich uns vernichtet habe, ihn und mich!
„Erik, ich weiß nicht mehr, wie er aussieht. Ich habe sein Gesicht wohl nicht umsonst ausgebrannt.“ Der Mann, der neben mir liegt, dreht sich auf den Rücken und verschränkt die Arme unter dem Kopf, verharrt für eine kurze Zeit in dieser Position und erhebt sich schließlich vom Bett. „Was ist mit dir passiert? Gestern am Telefon sagtest du, du hättest endlich die Balance gefunden, hättest erkannt, wie zufrieden du mit deinem jetzigen Leben seist. Du klangst so ruhig und ausgeglichen, als hättest du mit allem abgeschlossen, und für einen Moment hatte ich die Befürchtung, du hättest auch mit mir abgeschlossen, aber dieser Eindruck entstammte lediglich meiner Fantasie. Ich folge deiner Einladung, komme dich besuchen und finde dich vollkommen verwandelt vor. Kaum bin ich zehn Minuten hier, schon schläfst du mit mir, und dann fragst du mich über deinen Exfreund aus. Versteh mich nicht falsch, ich will dir nichts vorwerfen, ich möchte lediglich verstehen …“
Erik, armer, armer Erik. Die Konservierungshülle, in die er sich verliebt hatte, für die er gesorgt, die er vor ihrem eigenen Inhalt beschützt hatte, hat gestern Nacht Selbstmord begangen. Sie hat ihre Aufgabe erfüllt und ist gemäß ihrer Programmierung aufgeplatzt. Wie ein nasser, blinder Welpe liege ich nun unter ihrer Leiche und wühle mich kläffend durch die Nachgeburt hinaus an die frische Luft.

„Ich muss da ganz alleine durch, Erik. Du kannst mir nicht helfen.“ Ich drücke die Zigarette auf einem Cremedöschen aus, verspreche mir, mich von nun an zu enthalten, und stehe auf. Wütend bohrt sich die Spitze eines Lippenstiftes in meine Fußsohle und zieht an allen Nervensträngen. Ebenfalls wütend schleudere ich den kleinen Silberstift gegen die verspiegelte Schranktür und werde noch wütender, als das Glas nicht zerbricht. Den Blick in den Spiegel wage ich nicht.
Erik steht in der Tür und blickt mich geistesabwesend an, deine Augen, wenn sie Kraniche wären, welche Meere könnten sie bezwingen?, eine Zeile mit Erinnerungswert. Woher kommt sie bloß? „Wie alt bin ich denn schon? Wie lange bin ich hier?“ Er fasst die Frage als einen verzweifelten Ausschrei auf, als ein Bündel Selbstzweifel. „Zerbrich dir nicht den Kopf über das Alter, mit deinen neununddreißig hast du das Leben noch vor dir.“ Dreizehn Jahre lang habe ich geschlafen.
Dreizehn Jahre lang war ich tot.

Tausend Kraniche für tausend Jahre, tausend Leben für dich und mich, nur dich und mich, ein Federkleid im Distelbett. Für dich zog ich den Füller über das Papier, den Füller, vor dem du solche Angst hattest. Bitte, schreib mich nicht, flehte dein gutmütiges Lächeln, schreib uns nicht, erfinde uns nicht. Wollten wir nicht frei sein? Warum steckst du uns in dieses Korsett? Und ich antwortete mit einem verzogenen Mundwinkel, sprach in nüchternsten Tönen, legte nachsichtig, doch nicht nachgiebig den Kopf auf die Seite. Wer bin ich, sagte ich, wenn ich mich nicht geschaffen habe?
Wer kann ich sein?

„… hörst du? Ich möchte, dass du mit mir kommst. Raus aus dieser Wohnung, weg von deiner Wut auf ihn. Komm für ein paar Tage mit zu mir, ich verspreche dir, es wird dir gefallen. Wenn du magst, können wir den ganzen Tag im Bett verbringen. Oder du legst dich in den Garten und hörst deine Kassetten. Ich könnte sogar Karten für das Konzert im Dom bekommen, in dem sie nächste Woche Bach spielen, und du könntest dir deine Lieblingsfuge auf einer echten Orgel anhören und alles andere vergessen.“ Erik, wer bist du? Warum sagst du mir das alles? „Du magst Bach doch gar nicht.“ – „Ich würde mitkommen und dir dabei zusehen, wie du ihm zuhörst. Ich sehe dich so gern, wenn du dich der Musik hingibst …“ Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter und schließe die Augen. Du bist ein Traummann, Erik, aus einem fremden Traum. Wie bist du den Fängen des Kissens entkommen, wie hast du den Weg zu mir gefunden? Habe ich dich entführt?
Bist du letzten Endes nichts weiter als ein Substitut für ihn, meinen einzigen Geliebten?

„Einverstanden. Komm mich morgen früh holen.“ Ich wende meinen Blick von seinem strahlenden Lächeln – Sonnenschein aus Fingerfarben, Regenbogen ohne Regen. Ich kann nicht hinsehen, ich sehe nur Kraniche ziehen. Tausende von Kranichen, ihre langen Schnäbel graziös ausgerichtet nach dem uferlosen Meer.

Als ich die Tür hinter ihm schließe, fällt mein Bewusstsein in ein bodenloses Loch. Ich stehe da und starre auf meine Hände, auf den Boden unter meinen Füßen. Irgendwie muss ich mir beweisen, dass ich tatsächlich gelebt habe. Dass ich geboxt und geliebt habe. Dass ich einen Geist hatte, ein Lachen und Träume. Meine Haut umspannt lediglich zusammengeklebte Scherben – wie kann ich mich noch auf den Beinen halten, wenn die Stücke in mir nicht zusammenhängen? Ich erwarte, dass ich jeden Moment gleich einem Hampelmann zusammenklappe, zu Staub zerfalle.
Ich sinke auf die Knie und umklammere meinen Bauch, mir scheint, ich habe Leben verloren, echtes Leben, dreizehn Jahre voller nicht gekämpfter Kämpfe, ich habe einen Müllsack mit mir herumgeschleppt, in dem Erinnerungen, Ängste, womöglich sogar Schande zusammengepfercht und allmählich verwest, vergammelt sind. Ich muss ihn wieder öffnen, ich muss alles herausschütteln und retten, was noch Form hat. Der Hitzeschwall, der mich übermannt, verlässt mich durch den Tränenkanal, ich kneife meine Augen zusammen und sie verkleben, die Nase läuft, ich liege gekrümmt auf dem Boden und werde von Weinkrämpfen geschüttelt. Gnade, Gott! Gnade dir, Gott, wenn du mich die ganze Zeit über beobachtet hast, mich in meiner Selbstverleumdung, mich in meiner Selbstaufgabe, und keinen Finger rühren wolltest, um mich wachzurütteln! Du hast meinen Geist liegen lassen in dieser Leiche, warum hast du mich nicht geholt, warum hast du mich so elendlich verlieren lassen?
Oder hat dich etwa auch jemand verletzt, irgendwann, dir etwas angetan, so dass du dich verbergen musstest, dich in eine Kapsel gesperrt und vergessen hast, wer du bist? Komm raus! Komm jetzt wieder raus und teile dein Schicksal mit mir! Ich wollte das nicht … ich wollte nicht so enden!
Wie habe ich eigentlich angefangen? Ich wische das Gesicht am Ärmel ab, setze mich auf und lehne den Rücken gegen die Tür. Mein erster großer Sieg – zum ersten Mal in einem echten Ring, eine echte Gegnerin, der Kampf um einen Pokal, um Anerkennung. Für mich war das die Chance, mir zu beweisen, dass ich über mich selbst hinauswachsen konnte. Aus dem Trainingslager direkt auf das Schlachtfeld, und ich habe mich so gut geschlagen! Ich schließe die Augen und bin in dieser Halle, umgeben von hunderten von Zuschauern, gleißendes Licht über unseren Köpfen, Schreie, Applaus, aufmunternde und spöttische Rufe an den Grünschnabel, an die dreiste Herausforderin – eine Miniatur menschlichen Lebens voller Verachtung und Mitgefühl. Betretene Gesichter, wutentbrannte Blicke, sie alle starren in unsere Richtung, zu mir, dem Inbegriff des Größenwahns, und zu ihr, dem Mahnmal, dem Felsen, an dem alle Neulinge zerbrechen. Zwischen unseren Augen hängt die Hölle, unsere Arme und Beine tragen den Kampf für uns aus, während wir uns gegenseitig das Leben austreiben. Ich weiß, ich werde verlieren. Trotz meines Durchhaltevermögens, trotz meines Zorns – sie ist zu stark, ich werde verlieren. Irgendwo in den ersten Reihen erahne ich das Gesicht meines Geliebten, die Sorgenfalten in seiner Stirn, sein tantrisches Flüstern – „du wirst gewinnen, du wirst gewinnen, du wirst gewinnen“… Ich muss gewinnen, ich muss für ihn gewinnen! Wenn ich verliere, wird er die Last meiner Selbstzweifel tragen müssen. Das darf nicht passieren.
Ich muss gewinnen.

Wie viele Runden haben wir hinter uns? Ich weiß es nicht mehr. Die Schmerzen erhaltener Schläge verlieren sich in der Euphorie direkter Treffer. Strategien, die ich anfangs aus Furcht, zu scheitern und eine lächerliche Niederlage einzustecken, zurückgestellt habe, drängen sich mir auf. Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Frau zu bezwingen – sie mit ihrer Selbstsicherheit zu schlagen. Das Publikum ächzt, als es merkt, wie ich die Spannung aus meinem Körper entweichen lasse und einige Schritte zurückgehe, um das Ende des Kampfes einzuläuten. Sie wissen – ich bin bereit, den k.o.-Schlag zu empfangen. Die Bewunderer meiner Gegnerin springen fast synchron von ihren Plätzen auf, als sie die Zähne fletscht, und ein Siegessturm bricht los. Sie treiben auf den Wellen, sie ahnen das Ende. Sie kennen das Ende bereits, noch bevor sie es gesehen haben. Und dann werfe ich ihnen einen Stein in den Strom.
Ihr Trainer schüttelt energisch den Kopf und schreit etwas, doch sie ist von meinem müden Blick gefesselt, von den hängenden Schultern bestärkt. Gebündelte Kraft in einem letzten Sprung, mit dem Ziel, meinen Kopf zu treffen. Ich schmettere ihr mein Bein in den Bauch, wobei ich ihre nur noch obligatorisch aufrecht gehaltene Deckung durchbreche, und werde von ihrem Tritt in die Stränge geschleudert. Keuchend und lachend hänge ich in den Seilen und zähle sie zusammen mit dem Richter ins Aus, während das ohrenbetäubende Getöse der Menge zwischen Verachtung und Bewunderung hin und her schwappt. Sie ist aus. Sie ist aus!
Blut trieft aus der Platzwunde unter meinem Schlüsselbein und macht den Boden des Rings nass und klebrig. Meine Trainerin kniet in der roten Pfütze und verabreicht mir irgendeine Spritze, und ich lache hysterisch, lache, als hätte ich die Welt erobert und zerstört, lache irrsinnig.
„Deine Deckung, verdammt! Wo ist deine Deckung gewesen? Du hast dich treffen lassen, so etwas kann tödlich enden, hörst du? Dass du mir nie wieder …“

Ich öffne die Augen und lächele bitter. Das ist die Zeit, in die ich gehöre. Darin war ich der Mensch, zu dem ich mich gemacht hatte, der Mensch, der ich sein möchte. Ich hatte nie daran gezweifelt, dass dieses Leben ewig andauern würde. Ich war so frei gewesen … und dann passierte etwas und warf meine Welt aus der Bahn.
Ich knöpfe mein Hemd auf und werfe einen Blick auf die Stelle oberhalb der linken Brust. Alles, was ich entdecken kann, ist eine feine Rille quer über den Muskel – eine genähte, fast verheilte Narbe. Als ich jedoch damals diese Wunde erhielt, habe ich sie als Symbol für meinen ersten Sieg, für das Opfer gesehen, welches ich bringen musste, um einen Gegner vernichten zu können, und sie deshalb auch nicht nähen lassen. Sie zierte meinen Brustmuskel wie eine Medaille, auf die ich stolz war, und erinnerte mich stets daran, dass ich mich nicht schonen und keine Erwartungen stellen durfte. Ich war die Waffe in meinem Kampf, und so musste ich mich auch einsetzen, mich verschwenden.

„Lass den Gegner nicht so nah an dich ran, hörst du? Bist du wahnsinnig? Was, wenn du eines Tages nicht schnell genug bist? Was, wenn er dich kalt erwischt und du deckungslos zu Boden gehst, was willst du dann tun, na? Du kannst nicht unendlich viel einstecken, du bist ein Mensch, verdammt, aus Fleisch und Blut!“

Die Wunde ist nicht mehr da. Ich habe mir die Medaille abnehmen, habe die Narbe komplett vernähen lassen. Das kann nicht real sein. Ich bin in einem Albtraum gefangen und spuke hier ohne Identität, ohne Erinnerung, ohne Ausweg. Meine Hände zittern und sind gewillt, ein Messer zu holen und die Medaille wieder freizuschneiden, bluten zu lassen, doch mein Verstand entscheidet vorerst dagegen. Ich muss wissen, warum ich das tat.

Während ich die Schubladen aus den Kommoden ziehe und die Papiere einer mir fremden und inzwischen verhassten Frau nach Hinweisen durchsuche, kombiniere ich im Geist meine Vermutungen und versuche, meinem Verschwinden auf die Spur zu kommen. Ich habe immer gewonnen, es mir aber nie zu Kopf steigen lassen. Keine meiner Gegnerinnen wagte es, meine Strategie anzuwenden, und keine hat sich zurückhalten können, zuzuschlagen, wenn sie eine Lücke in meiner Verteidigung entdeckte. Ich habe sie alle täuschen können. Ist es möglich, dass ich meinen letzten Kampf verloren habe? Dass ich eine Schande habe entgegennehmen müssen, was mich dazu bewegte, mit dem Kämpfen aufzuhören und mein Leben vollkommen neu zu gestalten? Doch so etwas würde mich nie dazu veranlassen, meinen Körper an Männer zu verkaufen. Auch nicht an Männer wie Erik.
Vielleicht ist das Gegenteil passiert – ich habe jemanden umgebracht, eine Gegnerin im Kampf getötet. Damit könnte ich nicht leben, das weiß ich. Aber gleichzeitig weiß ich auch ganz genau, dass ich mich stets unter Kontrolle hatte. Ich wäre nie so weit gegangen, ich war nicht jähzornig.
Ich komme hier nicht weiter.
Mein Geliebter hat immer hinter mir gestanden. Er unterstützte mich beim Training, half mir, meine Wunden zu kurieren, lebte mit mir Sonnenstrahlen- und Sturmtage und verwandelte Durchschnittstage in eines von beiden. Unser Leben spielte sich zwischen Zelten, Hotelzimmern und fremden Gartenhäuschen ab, wir waren ‚auf freiem Fuß’, nachdem wir der Enge einer festen Wohnung entkommen waren und uns ein Streunerdasein gönnten. Vermutlich waren wir nichts weiter als Drogensüchtige in Erwartung des nächsten Adrenalinstoßes – in Form eines Kampfes oder eines zügellosen Spieles unserer Körper. Ist im Grunde nicht jeder Mensch süchtig – nach Glücksgefühlen, schönen Momenten, erreichten Zielen, erfüllten Wünschen? Unser Leben war voll davon.

Ich muss unwillkürlich grinsen, wenn ich daran denke, wie er mich nach jedem meiner Kämpfe in der Umkleidekabine überfiel. Blutig und schweißüberströmt wie ich war, drückte er mich gegen eine Wand und nahm sich seinen Anteil an unserer Droge, nahm ihn fordernd und ohne Rücksicht auf meine Müdigkeit. Wenn sein Rausch ausgeklungen war, trug er mich auf seinen Armen ins Bad und wusch behutsam meinen Körper sauber, während ich mich vor Lachen kaum halten konnte. Die Küsse, die er auf meine Wunden setzte, waren mir so viel mehr wert als jeder Pokal, jede Anerkennung.

Ich merke, wie ich schluchzend am Schrank lehne und mich der Erinnerung an ihn hingebe. Es reicht, ich darf mich nicht hängen lassen, ich muss ihn wieder finden. Mein Leben in Ordnung bringen, die Leiche dieser Frau beseitigen, selbst wenn ich mir dabei die Hände schmutzig mache. Der Gedanke an Erik lässt mich die Augen schmerzhaft zusammenkneifen, doch ich weiß, dass er nicht zu meiner Welt gehört. Es tut mir leid, Erik.

Mit knirschenden Zähnen reiße ich die Fotos von der Wand, Bilder des Mannes ohne Gesicht. Nur er ist drauf zu sehen, teilweise sind die Fotografien zerschnitten, um andere Personen zu entfernen. Auf jedem einzelnen Bild hat diese verfluchte Hexe ihre Zigarette ausgedrückt. Welch unglaubliche Mühe! Was für ein Aufwand! Warum hat sie ihm nicht gleich heißes Öl ins Gesicht gegossen, wenn sie ihn so hasste? Diese Rachsucht überwältigt mich. Ich kann das nicht getan haben. Das war ich nicht. Das bin ich nicht! Hört doch, ihr Lästermäuler, ihr Parzen, ihr habt eure Fäden vernachlässigt! Mit wem habt ihr mich verwechselt? Was habt ihr euch da zusammengesponnen, ihr elenden Weiber?
Ich weiß nicht mehr, wie er aussah.
Am Liebsten möchte ich zusammenbrechen, doch das verbiete ich mir. Ich habe bereits genug Schwäche gezeigt. Die Rückseiten der Fotos sind bis auf einige Wenige leer oder durch den Brandfleck unkenntlich gemacht. „Shimonoseki, 23.05.“, steht auf einem der Bilder, „sie Kraniche wären“ auf einem anderen. Schließlich „wieder gewinnen, ich“ und „Lida“, darunter eine Telefonnummer. Ich erinnere mich – Lida war meine Trainerin. Ihr Bild habe ich noch vage im Kopf – eine starke, gefasste Frau, für die ein Kampf keineswegs einen Spielcharakter besaß. Sie lehrte mich Respekt vor der eigenen Kraft und stellte sich meiner Selbstaufgabe in den Weg. „Mit Feuer spielen nur Kinder“, zischte sie immer, während sie nach unseren Siegen meine Wunden nähte. „Nicht nur, dass du dich jedes Mal so unnötig zurichten lässt, nein, du schenkst dem Gegner auch noch unverdiente Punkte!“ Ich jedoch war nie der Meinung, es wäre unnötig. Ich entrichtete meinen Tribut an diesen brutalen Spaß, zahlte meinen Einsatz – zumal ich nur gegen stärkere, erfahrenere Kämpferinnen anzutreten bereit war. Um diese zu schlagen, musste ich opfern, also opferte ich. Das Leben hat das schon immer zu schätzen gewusst.
Ich werde sie anrufen. Ich durchsuche noch die restlichen Ordner, dann rufe ich sie an.

***


Ganz hinten auf dem Schrank hat er gelegen. Mit Jahrhundertestaub überzogen, eingewebt zwischen Spinnweben, ein stiller Kokon in einer Zeitmulde, der geschlafen und gehofft hatte, eines Tages entdeckt zu werden. Ich lege ihn behutsam vor mir auf den Boden und wische ihn mit der Hand sauber. Eine schwarze Schachtel mit rotem Rand kommt zum Vorschein; darin habe ich meine ersten Boxhandschuhe gekauft. Ich hatte mehrere Monate lang ohne Handschutz auf Boxbirnen und Säcke eingehämmert, was mir geschundene Hände und eine dicke Schicht Hornhaut auf den Knöcheln bescherte. Auch nach der Anschaffung trainierte ich meine Fäuste auf diese Weise, um sie abzuhärten. Jetzt ist die Haut auf meinen Händen dünn und schlaff, wie die einer verwöhnten, vierzigjährigen Frau. Ich habe alles verloren, was ich mir aufgebaut hatte. Ich habe mich verloren.
Der Schluchzer, der aus Selbstmitleid geboren seine Mächtigkeit in der Endgültigkeit meiner Lage gewinnt, wird mit einem innerlichen Fußtritt zurück in seine Mutter befördert, und ich nehme angespannt den Deckel von der Schachtel. Ein kleiner Stapel Papier kommt zum Vorschein, wie eine Handvoll nackter, schlafender Kinder liegen die Zettel da und rühren sich nicht. Sie scheinen peinlich berührt von meinem plötzlichen Eindringen in ihre bis heute homogene Atmosphäre, und meine Finger knacksen entschuldigend, als ich sie unter den Stapel schiebe und diesen heraushebe. Zwischen zwei Blättern kommt eine schwarze Spinne hervorgekrabbelt, läuft gleich einem wütenden Weltenwächter, über dessen Nutzlosigkeit sich meine Überlegenheit so dreist mokiert, meinen Ärmel entlang und seilt sich von meinem Ellbogen ab, um letztendlich unter dem Schrank zu verschwinden. Ich plaziere die Zettel vor mir und drehe einen nach dem anderen um.

„Ich siege“
„Ich gewinne“
„Ich besiege sie!“
„Ich gewinne“
„Ich bin stärker“

Ich sitze da und ritze die Worte in das Papier, Worte, die meinen Geist aufputschen sollen. Ich war schon immer abhängig von Worten, ich muss sie niederschreiben, um an sie zu glauben.

„Ich gewinne heute! Ich mache sie fertig! Niemand wird mich aufhalten! Auf ihren Schlag kommt mein Gegenschlag, ich schlage sie k.o., ich fege sie aus dem Ring, ich bin stark!“

Ich sage sie vor und schreibe sie auf, ich bete sie herunter, präge sie in meinen Geist, schlage sie an meine Schädeldecke. Ich gewinne! Mein Geliebter steht hinter mir und streichelt meinen Nacken. „Du kannst gar nicht anders, als zu gewinnen, meine kleine Kämpferin“, sagt er und drückt mir einen Kuss auf den Hinterkopf. „Ja, ich kann nicht anders“, zische ich, „ich kann einfach nicht anders. Das ist so eine verdammte Sucht, und weißt du was? Es sind nicht nur meine Schläge, auf die ich aus bin. Ich will auch ihre Schläge. Ich will sie auf mir spüren, Tritte abfedern, den Schmerz absorbieren, und nach jedem Kampf das Blut von mir waschen – ihr Blut und mein Blut. Ich kann dir das nicht erklären, ich …“ – „Ich verstehe was du sagen willst. Ich verstehe dich.“ Er greift nach meiner Hand und ich kralle mich in seinen Unterarm, ziehe ihn zu mir herunter und küsse sein Kinn. „Macht über sich zu haben ist so …“ – „Ja – herrlich.“


Deine Augen, wenn sie Kraniche wären, welche Meere könnten sie bezwingen?
Meine Küsse, wenn sie Kraniche wären, sie würden dich über die Berge ziehen.
Tausend Kraniche für tausend Jahre, tausend Leben für dich und mich, nur dich und mich, ein Federkleid im Distelbett. Das Leben ist ein blutiges Spiel, die Haut aufgerissen, doch ihre Schnäbel bringen Wasser. Die Liebe ist ein blutiges Spiel, das Federkleid ganz zerrissen, doch ihre Flügel, ihre großartigen, weißen Flügel fächern uns Atem zu. Wir sind frei, du, und ich, und du, und wir, wir beide, tausend Jahre voller ziehender Kraniche.
Wir beide, für tausend Leben, nur wir.
Nur wir.
Du und ich.


Er hat es nicht gemocht, als ich dieses eine Mal über ihn schrieb. Tu es nicht, bat er, wollten wir nicht frei sein? Du ziehst uns Grenzen, schöne Grenzen zwar, aber reicht dir nicht der Moment, den wir zusammen atmen? Bitte, tu es nicht.
Wer bin ich, warf ich ihm entgegen, wenn ich mich nicht schaffe?
Glaube doch meinen Worten, flehte er, glaube mir. Ich werde dich aus dem Feuer tragen, du musst es dafür nicht aufschreiben, bitte schreib mich nicht auf. Bitte lass uns frei sein.
Aber ich kann das Leben nicht dem Schicksal überlassen, verstehst du? Ich habe Angst vor dem Schicksal. Schicksal ist immer ein Trauerspiel …
Dann glaube nicht an das Schicksal! Und versprich mir, uns nicht mehr zu schreiben. Tu es für mich!

Ich tat es für ihn.
Ich glaube nicht an das Schicksal. Ich glaube an mich. Doch das „wir“ beherrscht meinen Geist, wie an jenem Tag, als ich es niederschrieb.



***


Es sind Worte, die mich beherrschen. Worte, die mir zu meinen Siegen verholfen haben. Zu allen Siegen. Habe ich jemals verloren?
Ich sitze inmitten zerstreuter Zettel wie auf einem abgeworfenen Federkleid und greife nach den Gedanken, die um mich herum tollen. Worte und Siege. Mein Geliebter, der Angst davor hatte, von mir aufgeschrieben und auf Papier fixiert zu werden. Es ist doch nur Papier, nicht wahr? Es ist doch nur eine Glaubensstütze? Kraniche, das Wir, das Schicksal. Ich habe aufgehört, an das Schicksal zu glauben, und die Parzen-Weiber haben meinen Faden zerschnitten. Er ist in meine Hände gefallen, ich habe ihn selbst weitergestrickt. Aber ich habe das ungute Gefühl, als hätten sie doch etwas von mir behalten. Einen kleinen Strang wollten sie nicht hergeben, diese Kontrollsüchtigen. Verdammt, ich denke zu abstrakt. Ihr Parzen könnt mich alle mal! Warum hatte mein Geliebter bloß solche Angst vor meinen Worten?

Mich hält nichts mehr – ich greife zum Telefonhörer und wähle Lidas Nummer. Wie wird sie reagieren? Kennt sie mich überhaupt noch? Will sie mit mir reden?
Lebt sie?
Ich lasse es lange klingeln, doch niemand hebt ab. Was kann ich ihr sagen, wenn ich sie erreiche? Dass ich mich an nichts erinnern kann? Dass ich die Zeit damals vermisse? Dass ich wieder kämpfen will, selbst wenn ich dabei zerbrochen und zertrampelt werde, selbst wenn sich meine Gegnerin kaum noch vor Lachen halten kann, wenn sie diesen Zombie vor sich stehen sieht, der sie mit irrem Blick herausfordert? Meine Augen wandern unwillkürlich zur Schranktür. Ich möchte sie zurückhalten, und gleichzeitig muss ich hinter das Glas sehen, muss dem Weib auf der anderen Seite begegnen. Ich lasse die Augen tanzen, vom Boden zur Decke, von der Decke zur Wand. Schließlich nehme ich mich zusammen und lasse das Bild aus dem Spiegel in meine Iris Einzug finden.

Hexe.

Das Klirren ist ohrenbetäubend, winzige Scherben rieseln wie Hagelkörner auf das Parkett. Ein Schrei hängt mir in den Ohren, vermutlich meiner. Und ein anderer Schrei durchdringt meine Paralyse und bringt mich wieder zu Bewusstsein.
„Hey! Was ist los?“
Sie hat abgehoben.
„Lida? Tut mir leid, ich habe gerade meinen Spiegel mit einem Parfumfläschchen zerlegt.“
„War es teuer?“
„Was? Keine Ahnung …“
Sie kennt mich noch.
„Spiegel zerfetzen, ja, das möchte ich auch manchmal. Aber wahrscheinlich nicht aus denselben Gründen wie du. Wo zum Teufel hast du gesteckt?“
Ich zögere kurz und genieße das Gefühl der Erleichterung, das sich in meinem Körper ausbreitet. Sie hat mich nicht vergessen! Sie ist real! Das heißt, mein Leben ist real. Ich bin ich.
„Wie lange haben wir uns nicht mehr gesprochen, Lida?“
„Wenn’s nach meiner Erinnerung geht, dann gut an die zwölf, dreizehn Jahre.“
„Und du weißt noch, wer ich bin…“
„Ich kenn nicht viele, die mit Dingen um sich werfen, wenn sie wütend sind. Außerdem hab ich dieses Telefon nur noch wegen dir, Kleines. Du bist einfach verschwunden, und ich hab’s dir auch nicht übel genommen, aber ich habe trotzdem nie aufgehört zu hoffen, dass du eines Tages wieder diese Nummer wählst oder einfach vor dem Ring stehst.“
„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“
„Naja, du hattest sicher deine Gründe… Hast du dich von ihnen erholt?“
„Ich weiß es noch nicht. Aber ich hätte nicht einfach abhauen dürfen, das war echt dumm von mir.“
„War ja auch nicht so, als hättest du mich sitzen lassen. Nein, ich hatte bis zu jenem Tag schon so gut an dir verdient, traumhaft gut! Keiner meiner späteren Schüler hat diese Planke jemals übersprungen.“
Das ist typisch Lida, sie hat sich kein bisschen verändert. Die Fakten zuerst, das habe ich schon immer an ihr gemocht. Ein schiefes Lächeln schleicht sich in mein Gesicht und ich nehme einen tiefen Atemzug.
„Hey, du bist die größte Trainerin, die die Welt gesehen hat, was sind denn deine Schüler für Idioten?“
„Sie sind keine Idioten. Sie haben einfach einen gut ausgeprägten Selbsterhaltungsdrang, weißt du.“
Ihre Stimme ist leicht bitter, als sie das sagt. Sie hat mich nicht aufgegeben.
„Lida, ich weiß, ich habe oft über die Stränge geschlagen und dir unnötige Scherereien verschafft. Aber ich habe nie jemanden enttäuscht – weder die Fans, noch die Gegner, noch dich, noch mich selbst. Nicht wahr?“
„Ja, du verdammter Tornado bist durch die Meisterschaften gefegt und hast einen Pokal nach dem anderen eingesammelt. Und wolltest dir nicht einmal die Mühe machen, Interviews zu geben und an Pressekonferenzen teilzunehmen, hast das alles auf deine Trainerin geschoben und dich sonst wohin verdrückt.“
„Ich war in der Umkleidekabine und habe …“
„… gevögelt, schon gut, keine Details.“
Ich muss lachen. Es erklingt ungezwungen und leicht, mein Gott, ist das herrlich, wieder zu lachen. Ich fühle mich neugeboren und gleichzeitig zu Hause, als wäre ich von einer langen Reise zurückgekehrt, als wäre ich nach einem Albtraum schweißgebadet aufgewacht und hätte erleichtert festgestellt, dass alles nur ein Traum war und mein Leben aus Honig und Sonnenschein bestand.
„Lida, wir hatten so tolle Zeiten damals …“
„Deshalb war es mir so schwer gefallen, dein Verschwinden zu verstehen. Natürlich habe ich etwas geahnt, und vermutlich lag ich mit der Ahnung sogar richtig. Nur habe ich dich nicht darauf angesprochen, es war deine Sache. Verdammt, ich hab’s bereut. Ich dachte später, ich hätte handeln müssen, denn wenn sich meine Ahnung als richtig erwiesen hätte, dann wäre ich heute allen Göttern dankbar, wenn ich dich dummes Ding zurechtgewiesen hätte.“
Ich sauge jedes ihrer Worte ein, hänge an ihnen gierig wie ein Kind an der Milchbrust seiner Mutter. Ahnung, sagt sie? Reue? Meine Sache?
„Ach, du hast immer von Macht über sich selbst gesprochen, und in deinen Händen lag tatsächlich eine gigantische Macht, verdammt, Mädchen, die haben dich sogar auf Drogen prüfen lassen, diese Schwachköpfe. Du hast ihnen was von der aufputschenden Wirkung von Sperma erzählt und ich lachte mir meinen Arsch ab, als sie dich mit ihren Mündern sperrangelweit offen anstarrten …“
„Dass du das alles noch weißt … Lida, ich kann dir gar nicht sagen, wie -“
„Wie viele Jahre haben wir zusammen verbracht, na? Wie viele? Ich hatte keine Kontrolle über deine Kraft, aber ich vertraute dir. Du warst unglaublich. Du hast mich in diesen verschwitzten, verfluchten Hallen leben lassen.“
Mit Mühe unterdrücke ich ein Schniefen und wische mit dem Handrücken eine Träne aus dem Gesicht.
„Aber ich habe meinen Spiegel zerschlagen, Lida. Ich bin ein Monster.“
„Hey, immerhin hast du ihn zerschlagen. Du hast es also verarbeitet?“
„Eigentlich wollte ich von dir hören, was ich die letzten dreizehn Jahre lang verdauen musste. Ich habe es heute Morgen erbrochen und konnte den Inhalt nicht wirklich zuordnen.“
„Du weißt es nicht mehr? Du weißt nicht, was passiert ist?“
„Nein, ich habe nicht den leisesten Schimmer, zum Teufel noch mal! Ich wache auf und bin auf einmal eine Missgeburt mit fettem Arsch und hängender Brust, keine Muskeln, keine Narben, Farbe in der Fratze und einem Kerl namens Erik an der Leine, und ich weiß nicht wie ich mir das eingebrockt habe! Als ich diesen Erik kennen lernte, war ich eine Nutte, kannst du dir das vorstellen?“
„Nun mach mal halblang, Kleines. Bis auf den Kerl und die Narben hast du nämlich eine perfekte Beschreibung von mir geliefert, also tu mir den Gefallen und streich das Missgeburt da raus. Und eine Nutte warst du nie, das kann ich dir mit Sicherheit sagen. Wenn der Typ gut ist, schick ihn ruhig ´rüber.“
Ich liebe diese Frau. Ich liebe ihren Humor. Mein Adrenalin war immer für meinen Geliebten gewesen, doch die Seele meines Kampfes hatte allein ihr gehört.
„Lida, tut mir leid, aber ich bin heute völlig verzweifelt. Ich habe gerade dreizehn Jahre meines Lebens das Klo runtergehen sehen, und ich will wissen, wo genau sie hingegangen sind. Bitte sag mir, was du geahnt hast. Was ich bei meinem letzten Kampf angerichtet habe. Bitte!“
Sag mir, warum ich es tat. Warum ich den Ring verließ und mich in dieses Gefängnis aus weißem, weichem Fleisch sperrte.
„Wenn du dich nicht erinnerst, hast du es nicht umsonst vergessen. Dann werde ich es dir auch nicht auf die Nase binden. Du musst es selbst herausfinden. Was deinen letzten Kampf angeht, nun ja, was soll ich sagen – er war purer Irrsinn. Dein größter Sieg, und deine größte Selbstaufgabe. Das Publikum war durchgehend von einer Ekstase ergriffen, wie ich sie noch nie im Ring erlebt hatte. Und dann warst du von der Bildfläche verschwunden, sie dachten, du wärst müde geworden. Das war für alle plausibel genug, um dich nach einigen öffentlichen Diskussionen und Schreiorgien endgültig zu den Akten zu legen. Du warst zu unberechenbar und eigensinnig, sie hätten auch nach ewigem Graben nichts ans Tageslicht befördern können. Somit ließen sie dich sein, und ich … nun ja, das Leben geht weiter, nicht?“
„Ja, das Leben ging weiter, aber ohne mich. Ich habe damals aufgehört, zu existieren … und ich weiß noch immer nicht, weshalb.“
„Ach ja, weißt du wenigstens noch, dass er ihr Bruder ist? Erik, meine ich.“
„Wessen Bruder?“
„Also doch nicht. Der Bruder deiner damaligen Gegnerin. Dann will ich dir auch nicht mehr sagen, tut mir leid. Ich versteh’s ja selbst nicht ganz. Finde es heraus. Und wenn du willst, kannst du jederzeit in die Halle kommen – ich würde dich nur zu gern wieder sehen.“
„Lida -“
Sie hat aufgelegt. Der Hörer, der gerade noch gesprochen und gelebt hat, liegt nun kalt und tot in meiner zitternden Hand. Der Pfeifton aus dem Telefon deckt sich ganz genau mit dem hohen, unnachgiebigen Piepsen in meinem Ohr.


II.


Nachdem ich das Telefon vorhin aus der Hand gelegt hatte, habe ich mir eine Schere gekrallt und den blondierten Teppichfransen, die mein Gesicht säumten, den Garaus gemacht; schließlich die schwarze Schachtel zusammen mit meinen alten Klamotten in einen Rucksack gesteckt und neben der Eingangstür abgestellt. Nun sitze ich nackt auf einem Hocker im Bad und frage mich, warum diese Frau keine Wanne hat, während ein kleiner Zettel zwischen meinen Fingern hin- und herwandert. Ich entdeckte ihn auf dem Boden, als ich den Deckel auf die Schachtel setzte – vermutlich war er bei meiner Inspektion entkommen und hatte versucht, sich unsichtbar zu machen. Jetzt liegt er entblößt vor mir und kann sich nicht mehr herauswinden, muss mir Rede und Antwort stehen.

Doch natürlich bleibt er stumm. Lediglich einige Worte, in meiner Schrift, prangen auf seiner Oberfläche und treiben mir kalten Schweiß aus allen Poren.

„Wer richtet den Henker hin?
Erst die Rache, dann das Verbrechen
Henker bestrafen sich selbst“

Ein Fliegenschwarm schwirrt in meinem Kopf, Aasfliegen über dem Kadaver meines Lebens. Ich frage mich, weshalb ich noch nicht gestorben bin, doch vermutlich gehört dies zu der Strafe, die ich über mich selbst verhängt habe. Eine Obduktion wartet auf ihre Durchführung, und der Arzt muss nüchtern sein – vollkommen nüchtern. Nach dreizehn Jahren Schlaf bin ich das durchaus, ich werde meine Pflicht erfüllen, einen anderen Zweck hat meine Existenz nicht. Ich verscheuche die lästigen Fliegen und beginne damit, das Stadium der Verwesung zu bestimmen.

Als Henker war ich grausam, das muss ich mir lassen. Nicht nur dass ich meine Narbe habe nähen lassen und das Kämpfen aufgab, nein, ich habe auch noch meinen Geliebten ausgelöscht und mich selbst verstümmelt, meine Lust beschnitten. Mein Körper ist ein halbverbrannter Holzscheit, die Lunge und der Unterleib durchsetzt mit Ruß und Rauch, die Glieder und Sehnen brüchig und ungelenkig. Ein Tunnel im Straßenverkehr hat mit Sicherheit mehr Spaß an einem Stau, als dieser Körper an Eriks leidenschaftlichen Stößen gehabt hat. Ich lache verächtlich auf, als ich mir vorstelle, wie das welke Fleisch hinter der gepuderten und geschminkten Maske der Prüderie bei einem Psychiater auf der Couch sitzt und seine verkümmerte Libido aus- und wegdiskutieren lässt. Der besagte Herr Doktor hat sein Zimmer natürlich mit Bildern geschmückt – allesamt anzügliche Motive, welche die Fantasie der Patientin anstacheln und hervorlocken sollen, doch diese hält sich bloß ihr Taschentuch an den Mund und schüttelt den Kopf. Klimt mag sie nicht, Schiele versteht sie nicht, Royo berührt sie nicht. „Verzeihen Sie sich doch endlich“, sagt der Psychiater, und: „Was berührt Sie denn?“ „Henker verzeihen nicht“, antwortet diese, und: „Berühren Sie mich doch.“ Er berührt sie und erfüllt seine ärztliche Pflicht, und sie spürt nichts – wie erwartet.
Lida meinte, ich habe mich nie verkauft. Doch was für ein Spiel habe ich dann mit dem Bruder meiner ehemaligen Gegnerin getrieben? Wenn ich dieses rote Kleid mit der Funktion, zerrissen zu werden, in die Hände nehmen, seinen Geruch einatmen könnte, würde sich die Vergangenheit womöglich ködern lassen, doch warum sollte es jemand aufgehoben haben?
Es ist eine groteske Vorstellung – ich schlafe mit einem Mann, dessen Schwester ich zusammengeschlagen habe. Vermutlich tue ich es nur aus diesem einen Grund – nein, tat sie es, die Frau, die ihn gestern Abend anrief, die mir die Krumen streute, bevor sie sich aufschlitzte und ihre stinkenden Überreste der Nachwelt überließ.
Sie hat einen Grund gehabt, dessen bin ich mir sicher. Einen Grund, der die Ruchlosigkeit dieser Entscheidung rechtfertigte. Dass sie ihn geliebt hat, ist ausgeschlossen – sie hat nur mich geliebt, mich, ihr altes Ich. Sie hat mich gehegt und schlafen lassen, hat gehofft, mit ihrem Tod auch ihren Fehler aus meinem Leben zu tilgen – wie selbstlos. Nur den Mann, den ich liebte, hat sie mir nicht gelassen. Glaubte sie, er sei nicht gut für mich?
Was glaubte sie eigentlich, diese Hexe? Was glaubte sie, wer sie war?
Verdammt. Ich will ein heißes Bad, will meine Glieder ausstrecken und für ein paar Momente schwerelos sein, die Augen schließen und schweben, meine Gedanken im Schaum lösen, doch alles, was mir diese Wohnung bietet, ist eine enge, blaugeflieste Duschkabine. Der Zettel in meinen Händen knittert unter der Last meiner an ihn gestellten, nicht ausgesprochenen Fragen, und ich beschließe, ihn vorerst wegzustecken, bevor ich ihn endgültig zu Tode quäle. Über dem Waschbecken hängt ein Badschränkchen, dessen hauptsächlicher Inhalt sich für mich als unbrauchbar herausstellt, bis ich die kleine Box hinter einem Seifenbehälter entdecke – neue, nicht ausgepackte Rasierblättchen.
Kalt und glänzend liegen sie in meiner Hand, mein Kopf spielt die Szene ab, die unmittelbar bevorsteht. Ich schlitze die Narbe wieder auf, zwinge mich in meinen alten Zustand zurück, erinnere mich an den Tag, an dem ich zum letzten Mal blutete. Vielleicht kommt zusammen mit meinem Blut etwas Wichtiges, Essentielles zum Vorschein. Auf einmal muss ich an Erik denken – weiß er überhaupt, wer ich war? Hat er mich als Kickboxerin kennen gelernt oder als überschminkte, labile Puppe? Was wird passieren, wenn er diese Narbe entdeckt, pulsierend und blutend, von meinem früheren Leben schreiend?
Warum – und das scheint mir noch wichtiger zu sein als die Fragen davor – sollte es mich kümmern, was jener Mann darüber denkt? Wie er reagieren wird? Er ist niemand, er ist nicht mein Leben, unwichtig, nur eine Variable – während ich mich an diesen Gedanken klammere, setze ich eine der Klingen an die Narbe. Mein Atem beschleunigt sich, die Handflächen sind nass. Das wird wehtun, das wird gleich sehr, sehr wehtun. Ich schließe die Augen, beiße die Zähne aufeinander und ziehe durch.

Waschbecken, Boden, Wände sind blutbesprenkelt, der Geruch von Desinfikationsmittel beherrscht den kleinen Raum, in meiner linken Handfläche bildet sich ein dunkelroter See und rinnt über den Rand. Ich hatte die Rasierklingen in der linken Hand vergessen, als ich sie vor Schmerzen zu einer Faust ballte. Gegen die Ohnmacht kämpfend heiße ich den Schmerz willkommen und versuche, mit der Körperreaktion einen psychischen Zustand zu verbinden, Erinnerungen hervorzuzerren und einen Blick hinter den Vorhang zu erhaschen. Doch alles, was ich fühle, ist flacher, schneidender Schmerz der Gegenwart. Ich liege halb bewusstlos auf dem kalten Fliesenboden im Bad und warte darauf, dass das Blut aufhört zu strömen.

Als ich wieder die Augen öffne, stelle ich fest, dass völlige Kälte sich in mir ausgebreitet, von mir Besitz ergriffen hat. Meine Fingerspitzen sind taub, der Hals schmerzt und in meinem Schädel ist ein Stein plaziert worden, um mich schneller auf den Grund des Styx sinken zu lassen. Alles glaubt, ich sei tot, nur mein Geist will das noch nicht wahrhaben. Er lässt mich meinen Körper aufrichten und einen Blick auf die Wanduhr werfen. Die Zeiger schwimmen irgendwo zwischen vier und fünf, ich bin anscheinend lange weggewesen. Während ich den Stein vorsichtig von einer Seite auf die andere rolle und mich aufrappele, entdecke ich Bilder aus meinem Traum an mein Bewusstsein projiziert – eine Welt aus Blut, ein blutiger Himmel, blutige Straßen, blutiger, dunkelroter Regen. Taumelnd schließe ich die Glastür der Duschkabine hinter mir und drehe heißes Wasser auf, doch der Strahl spült lediglich das trockene Blut von meinem Körper – nicht aber den tiefroten Ton aus meinem Geist. Die Dusche verwandelt sich in einen Plastikbeutel, luftlos geschnürt und mit Blut angefüllt, und ich hänge darin strampelnd und nackt, ein junges Mädchen, ein kleines Kind, die eigenen Hände um den Hals gelegt und bereit, zuzudrücken. Der Mund lässt sich nicht öffnen, ohne Luft lassen sich keine Schreie ausstoßen, ich bin ein Häufchen Knochen und Muskeln und Haut, gemäß einem DNA-Code gewachsen, doch stümperhaft aneinander genäht, nicht lebensfähig, kein Mensch, niemals bin ich ein Mensch. Weshalb klammere ich mich dann so sehr an das Leben? Warum überlasse ich es nicht denen, die ein Recht darauf haben? Was suche ich noch hier?
Ich verlasse die Dusche, überschreite die Pfützen und reibe mich mit einem Handtuch wach und trocken. Mein Bad gibt dank den auf dem Boden verstreuten Alkoholfläschchen, Rasierklingen und durchtränkten Wattebäuschen ein skurilles Bild ab, und ich überlasse es vorerst sich selbst. In ein paar Stunden kommt Erik, um mich abzuholen, und bis dahin will ich mir ein paar Tassen Tee gönnen, wenn ich hier irgendwo einen auftreiben kann.


***


Als ich in Eriks Cabrio sitze und den Wind meinen von Müdigkeit und Stress erhitzten Körper abkühlen lasse, fasse ich neuen Lebensmut. Ist es nicht völlig egal, was passiert ist? Wer ich vorher war, was ich getan habe? Ich bin neugeboren, ich bin jetzt auf der Welt, habe ich da nicht auch das Recht, zu leben? Glücklich zu sein? Den Verband um meine Hand habe ich Erik mit einem zerbrochenen Glas erklärt, und seine von Fürsorge durchtränkte Reaktion lässt mich vermuten, dass er nicht weiß, wer oder was ich vor dreizehn Jahren gewesen bin. Mal sehen, wie lange ich dieses Spiel durchhalten kann. Wir werden sehen.

Bei ihm zu Hause fühle ich mich wie eine Königin – er legt Musik auf, kocht für mich, zaubert Geschichten und bringt mich zum Lachen. Fast bin ich gewillt, mich zu vergessen und ein neues Leben einzuläuten. Es wäre erholsam, so erholsam. Vielleicht ist ja gar nichts passiert, vielleicht habe ich damals einen schönen Abgang geplant und den Bogen etwas überspannt, habe mir mehr Schmerzen zufügen lassen, als ich habe wegstecken können. Und dann wollte ich eine Pause, wollte meine Ruhe, etwas Neues womöglich. Warum denn auch nicht?
Ich lächele, wenn Erik mir ein Kompliment macht, und ich lobe in überschwenglichen Worten sein köstliches Essen. Ich tanze mit ihm zu Santana, sitze unter leuchtendem Milchstraßenhimmel auf seinem Schoß auf der Veranda und trinke Kaffee. Ich schlafe auf dem Teppich ein, seinen Arm als Kopfkissen, und vergesse den Mann, der sich nie in die Nähe eines Herdes gewagt hat, der lieber vögelte, als zu tanzen, für den ich nicht Königin, sondern Eigentum war, und dessen schwerer Arm auf meiner Brust mir in so vielen Nächten das Atmen unmöglich gemacht hat. Als meine Lider müde werden und zufallen, bin ich bereits überzeugt davon, jenen Mann zu Recht ausgebrannt zu haben. Mit einer tiefen Wut auf ihn schlafe ich ein – und beginne zu träumen.

Ich träume von einer lächerlichen, jämmerlichen Frau, die auf einer Salami herumkaut und von Meditationskassetten zugeschüttet wird. Ich träume von ihrer hängenden Gesichtshaut und ihren schwarzen, leeren Augenhöhlen, aus denen rußiger Qualm strömt. Sie streckt ihren Arm aus und packt mich am Kragen, ihre Nägel splittern und das Gelenk des Ellbogens springt entzwei. Als sie ihren Mund öffnet, um mich anzuklagen oder um etwas zu bitten, fließt ein Gemisch von Kaffee und Blut heraus, beschmutzt ihre Bluse und lässt sie beschämt an sich herabblicken. Sie verschränkt ihre trockenen, kaputten Arme vor der Brust, öffnet abermals ihren dünnen Mund und eine weitere Woge Flüssigkeit schwappt hinter ihren Zähnen hervor. Schmutzig-graues Wasser tritt aus den Augenhöhlen, Tränen womöglich, sie sinkt auf die Knie, versucht, den blutigen Kaffee mit einem Tuch vom Boden zu wischen, doch es wird immer mehr, strömt unter meine Schuhe und lässt mich einen Schritt zurückgehen. Wenn ich dieses abscheuliche Geschöpf anblicke, möchte ich mich übergeben, doch als ich meinerseits den Mund öffne, merke ich, dass um mich herum keine Luft ist, sondern nur das Vakuum eines Plastikbeutels. Die Frau zeigt mit dem Finger auf mich und schüttelt den Kopf, und ich werde von dem Vakuum zerdrückt, meine Knochen splittern, die Organe platzen eines nach dem anderen. Bevor meine Augäpfel zerquetscht werden, blicke ich auf meine Finger, sie sind winzig und weiß, wie kleine Maden.

Dann sehe ich die Frau am Tisch sitzen und Zigaretten auf Fotos drücken, wie Stempel. Dieses Mal sieht sie mir sogar ähnlich. Ihre gesamte Wut scheint in die Brandflecke zu fließen, so konzentriert geht sie dabei vor, und ich möchte ihr dafür die Nase brechen.
Sie steht auf und schlägt mit geballter Faust gegen die Wand, schlägt noch einmal und noch einmal, bis blutverschmierter Putz zu bröckeln beginnt. Ich sehe, wie sie mit einem langen Messer ihren Boxsack zerfetzt, wie sie stundenlang in der Dusche sitzt und kaltes Wasser auf sich herabrieseln lässt. Ich sehe, wie sie sich mit Alkohol zu betäuben versucht, aber ein Blick in ihre halbgeschlossenen, zitternden Augen verrät mir, dass ihre Gedanken, dass ihre Dämonen nicht mit Kälte und nicht mit Alkohol betäubt werden können.
Ihre Augen erzählen mir, dass sie seinen schweren Arm auf ihrer Brust geliebt hat. Ihre Augen erzählen mir, dass sie sich gern als sein Eigentum sah, weil er ihr Eigentum war. Ihre Augen malen eine Frage an die Wand: „Wer richtet den Henker hin?“, und blicken klagend in meine Richtung. Du, sagen sie, bist keine Königin. Hast du nicht gesehen, in was wir uns verwandelt haben? Willst du dich wieder verwandeln?
Mag sein, dass du willst. Aber du darfst nicht. Du bist hier, um bestraft zu werden. Als wir dich verurteilten, haben wir dich für unzurechnungsfähig befunden. Wir haben dich in die Ausnüchterungszelle gesteckt. Wir haben dich schlafen lassen. Jetzt bist du wieder hier, jetzt muss das Urteil vollstreckt werden.
Hörst du?
Hörst du das?

Der Henker bestraft sich selbst!

Der Mann mit verbranntem Gesicht reißt mir das rote Kleid vom Körper, stößt mich gegen einen Tisch, sein Gewicht erdrückt mich, er ist stärker als ich, er ist stärker als mein Wille, mich zu wehren, und als ich die Hände gegen seine Brust stemme, schlägt er sie weg und vergewaltigt mich.




***


Schweißgebadet schrecke ich hoch, mein Herz pocht in den Ohren, ich zittere am ganzen Körper. Die Welt liegt in Trümmern, die Nacht keucht mir tausend Tode entgegen, der Teppich unter meinen Handflächen kriecht und zischt, und ich kann die hervorbrechenden Tränen nicht zurückhalten. „Erik, hat er … Erik! Hat er mich …“ Er ist wach, seine Augen schimmern noch schlaftrunken im Kerzenlicht. Er legt beruhigend seinen Arm um meine Schultern und drückt mich an sich. „Was hast du geträumt, Liebes? Es ist alles gut, es war nur ein Traum …“ – „Du musst es mir sagen, sonst sterbe ich, hörst du? Du musst es mir sagen, verdammt! Hat er mich vergewaltigt? Der Mann, den ich liebte, was hat er getan?“ Eriks Griff wird fester, er atmet hörbar Luft ein und hält seine Hand an meine Wange. Auf einmal fügt sich alles zusammen, alles macht Sinn. Er hat es zu weit getrieben, hat meinen Stolz verletzt, woraufhin ich ihn verließ und bei Erik Trost fand. So muss es gewesen sein, selbst wenn es mir noch etwas zu einfach erscheint. Hätte er mich tatsächlich dermaßen verletzen können? Hätte solch ein Ereignis mich so verwandeln können?
Und warum bestraft sich ein Henker selbst?

Eriks Hand liegt auf meinem Gesicht, seine Umarmung fühlt sich verzweifelt an, fast schon um Verzeihung flehend. „Es tut mir Leid … es tut mir so Leid! Ich hätte es wissen müssen, ich hätte es nie zulassen dürfen, es tut mir so Leid …“ Ich löse mich von Erik und blicke ihm in die Augen. „Was tut dir Leid? Was hättest du …“
Er schüttelt den Kopf, erhebt sich und legt die Hand an die Stirn. Wo sind deine schwarzen Locken von damals, junger Mann, wo ist dein Feuer? Womit hast du mich trösten können?
„Warum willst du es von mir hören? Was ist denn auf einmal mit dir los? Ich habe dir schon vor langer Zeit verziehen, warum kannst du es nicht auch tun?“
All meine Versuche, zu verstehen, die Teile in das Gesamtbild zu fügen, scheitern.
„Was hast du mir verziehen, Erik? Was habe ich dir angetan?“
„Ich war es doch, verflucht, ich habe dich vergewaltigt.“

Meine Seele befindet sich kurz vor ihrem Zusammenbruch. Absurder hätte ich mir dieses Erwachen nicht vorstellen können, aber anscheinend hat die Hexe Leichen hinterlassen, die selbst der nüchternste Arzt nicht zu sezieren bereit ist. Es war also Erik. Seine schwarzen Locken, seine Hand, seine glatte Oberlippe. Seine Vergewaltigung.
„Warum?“
Eriks Mund ist verzerrt, seine geröteten Augen füllen sich mit Tränen. „Weil du es wolltest“, stößt er zwischen seinen Zähnen hervor, „weil du mich darum gebeten hast.“

Allmählich beginnt mein Geist, von den Ufern des gesunden Verstandes abzudriften. Wie kann ich um so etwas gebeten haben? Wie konnte er dem zustimmen? Was ist mit mir geschehen, wofür habe ich mich bestraft? Was habe ich über die Jahre so sorgfältig vergraben und vergessen? Ich sehe Erik an, ohne ein Wort zu sagen. Ich möchte, dass er es mir erzählt. Es muss erzählt werden. Etwas, das ich glauben kann. Woran ich mich halten kann. Ich muss mich verstehen, meine Handlung nachvollziehen können, mir meine Identität zurückkaufen – dafür zahle ich mit meinem neugeborenen Verstand.

„Sie hat sich nach eurem Kampf das Leben genommen, so einfach ist das. Sie ist mit ihrem Auto gegen einen Zug gefahren, und ich dachte, sie hätte die Niederlage nicht verkraftet. Dann kamst du und sagtest, du würdest den wirklichen Grund für diese Tat kennen … und du würdest nicht leben können, wenn ich dich nicht für das bestrafte, was du ihr angetan hast. Henker bestrafen sich selbst, hast du gesagt und deinen Mantel abgelegt. Und mich gebeten, dich zu vergewaltigen.“

Ich beginne zu lachen. Hysterisch und ungehalten, mein Bauch schmerzt, meinen Hals zerreißt es von innen, mein Brustkorb ist zu eng für die vibrierende Lunge, keuchend falle ich in mich zusammen und schluchze los. Erik streicht über mein Haar und schluckt seine Tränen herunter. „Ich dachte, ich könnte dich nur so vor der gleichen Tat bewahren. Ich hätte nie zustimmen dürfen, aber ich war völlig neben mir, ich habe die Welt durch einen Nebel gesehen, als du mir die Wahrheit erzähltest, und tat einfach, was du von mir wolltest… Du hast meine Wut ausgenutzt. Ich hätte niemals …“

Hexe. Ein Weib mit der Fähigkeit, alle Menschen zu Henkern zu machen, zu Werkzeug in ihren Händen, zu Selbstmordwerkzeug. Ich weiß, was ich ihm erzählt habe. Der Kampf war eine ausgemachte Sache, habe ich zu ihm gesagt. Sie musste kämpfen, und sie wusste, dass sie schwanger war. Also versprach sie mir, den Kampf zu verlieren, und wollte von mir den Schwur, dass ich sie nicht in den Bauch schlagen würde. Die Vereinbarung stand, als sie im Ring plötzlich merkte, dass sie stärker war als ich, und dass es sicherer wäre, mich fertig zu machen und zu gewinnen. Ich merkte, dass sie ihr Versprechen brach, und brach somit auch meinen Schwur. Ich tötete ihr Baby, und sie tötete sich selbst.

Ich weiß, dass ich ihm das erzählt habe.
Ich weiß auch, dass ich gelogen habe.


III.


Eine sonderbare Freude stellt sich in mir ein, ich spiele Detektiv, mal sehen, was sich ans Tageslicht hervorzerren lässt. Die Frau, die ich gerade bin, ist ein Wrack, und ich habe keinerlei persönlichen Bezug mehr zu ihr. Ich bin lediglich der Detektiv. Ich bin der Gerichtsmediziner. Torkelnd stehe ich auf, drücke Erik einen Kuss auf die Stirn und wische mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. „Tut mir leid, Erik. Ich hätte es dabei belassen müssen, aber die fehlende Erinnerung schmerzte in den letzten Tagen, und … Verdrängung ist einfach nicht der richtige Weg. Danke, dass du mir verzeihen konntest. Danke, dass du mir geholfen hast, mein Monster im Schrank einzusperren. Danke, Erik …“
Hilflos versucht er ein schiefes Lächeln, und ich küsse ihn auf den Mund. „Hast du etwas dagegen, wenn ich ein Bad nehme?“

Das Badewasser schlägt Bläschen, als es auf den weißen Grund der Keramikwanne trifft. Ich sperre die Tür zu, lege meine Kleidung ab und kippe einige von den Ölen ins Wasser, die ich in Eriks Badeschränkchen finde. Der Mann mit dem verbrannten Gesicht war nicht umsonst in meinem Traum, denke ich mir, während ich beobachte, wie der Pegel in der Wanne steigt und die Wasseroberfläche Schaumkronen aufwirft. In Wirklichkeit hat mich nicht Erik vergewaltigt – er hat lediglich materialisiert, was mein ehemaliger Geliebter mir angetan hat. Woraufhin ich mich an ihm gerächt habe. Wofür ich mich wiederum habe bestrafen müssen – mit Erik als der rechten Hand des Henkers. Wenigstens hatte diese Frau ansatzweise einen Sinn für Gerechtigkeit, spotte ich innerlich, während ich mit der Zehenspitze das Wasser teste und mich hineinbegebe. Oder war es doch nur ihr Gewissen, welches es zu beruhigen galt?

Als ich bis zum Hals im heißen Wasser versunken bin, begreife ich auf einen Schlag, warum es in meiner Wohnung keine Badewanne gibt.

Ich liege in dunklem, kochendem Blut, und etwas zieht mich unter die Oberfläche, zieht mich herab, um mich zu ertränken, zu verbrennen, mich zu verschlingen. Heftig strampelnd kämpfe ich gegen den Sog an, halte meinen Kopf oben, kralle mich an die Wandhalterung und versuche, mich aufzurichten. Je stärker ich kämpfe, desto schneller versinke ich, und bald schon liege ich samt Kopf in einem Meer aus Blut und wage es nicht, die Augen zu öffnen. Es strömt aus allen meinen Poren, aus der Nase, aus meinen Narben, es strömt aus meinem Unterleib. Ich spüre, wie Leben entweicht, öffne unwillkürlich meinen Mund und schlucke die zähe, bittere Flüssigkeit, die ich umspült, doch das Leben kommt nicht in mich zurück. Ich bin wieder dort, in meinem alten Leben.

Ihre Schläge sind gezielt, meine Deckung nehme ich nur sporadisch auf, um sie gleich wieder sinken zu lassen. Ich weiß, dass sie nicht gewinnen kann, und sie weiß das auch. Deshalb gibt sie alles. Sie spielt mir den Ball zu, so wie ich das möchte, sie schlägt brutal und rücksichtslos. Sie hat Angst. Ich lasse sie schlagen. Nehme jeden Ihrer Stöße in Empfang, schmücke mich damit. Das Publikum liebt mich, ich bin in seinen tausenden Augenpaaren eine Märtyrerin des brutalsten Spieles, das es gibt. Ich opfere mich für sie, lasse sie mitleiden, heile sie mit meinem Aderlass, spüle ihre Tränenkanäle frei. Sie fühlen sich jedes Mal neugeboren, wenn sie diese Halle verlassen, denn ich habe für sie gelitten und für sie gewonnen, ich habe sie aus der Stumpfheit errettet.
Ich habe jedoch nicht für sie gekämpft.
Sie hat Angst vor mir und schlägt zu. Ich lasse sie schlagen. Nehme ihren Hass in Empfang und schicke ihr eine winzige Nachricht zurück. Eine winzige, weiße Madennachricht, die sie kurz vor meinem Siegesstoß empfängt und welche sie nicht nur ins Aus, sondern auch in den Tod befördert.
Mein Körper ist geschunden, nichts Lebendes ist an ihm zu entdecken. Ich kann kaum meine Hände erkennen, als sie von denen des Ringrichters umklammert und in die Höhe gezogen werden, und das wahnsinnige Getöse der Menge rattert mit Unterbrechungen und Aussetzern in meinen Ohren. Den Pokal an die Brust gedrückt stolpere ich hinaus, gestützt von meiner Trainerin, überlasse ihn vor dem Bad in ihre Hände und hebe meinen Körper in die Badewanne. Ich will sie nicht sehen, ich will niemanden sehen, keiner soll hier hereinkommen, während ich mit zitternden, gebrochenen Fingern meine Kleidung abstreife und mich dem Wasser hingebe. Prellungen, Schürfwunden, geplatzte Venen, Beulen, ein gebrochener Zahn, das alles soll vom Wasser davongetragen werden. Ich schließe die Augen und spüre, wie das Blut fließt. Aus meiner Nase, aus der Ohren, aus den Mundwinkeln, aus den Narben, aus Platzwunden, aus dem Unterleib. Ich habe gewonnen.
Er steht vor der Wanne und sieht auf mich herab. Seine Augen schimmern, ich will, dass er sich mit mir freut, sich über meinen Sieg freut, den Sieg über das Publikum und über mich selbst, doch seine Augen schimmern nicht vor Freude. Sie schimmern vor Mitleid.


Ich japse nach Luft, hänge mich über den Wannenrand und huste das Wasser aus dem Hals. Das Blut ist nicht mehr da, es ist nur noch Schaum, kalter, öliger Schaum. Vor Kälte und Erinnerung schlotternd steige ich aus dem Wasser, hülle mich in ein Badetuch und setze mich auf den Toilettendeckel. Ich habe für das Wir gelebt und gekämpft. Er hat dieses Wir zerstört. Er hat mich vergewaltigt, hat seine Macht über mich missbraucht und meine Macht über mich übertroffen. Das konnte ich ihm nicht verzeihen. Das kann man nicht verzeihen!
Ich habe mich gerächt.


Der Detektiv hat nicht über seinen Auftraggeber zu urteilen. Seine Aufgabe besteht darin, relevante Informationen zusammenzutragen und Rätsel zu lösen. Wenn er dabei Umstände zu Tage befördert, die ihm persönlich moralisch verwerflich erscheinen, hat er darüber hinwegzusehen. Es ist nicht seine Sache, er ist nicht Richter, nicht Vollzugsbeamte, nicht Polizist. Er ist die linke Hand des Henkers, der das Beil am eigenen Hals angesetzt hat und zum Schlag ausholt.



***


Am nächsten Morgen lasse ich Erik schlafen und schleiche aus der Wohnung. Ich weiß, wohin ich gehen muss, um die letzten Puzzlestückchen zu sammeln. Ich weiß, dass ich allein gehen muss.
Die Halle hat sich von außen kaum verändert, lediglich einen neuen Anstrich sieht man ihr an, und das eingeschlagene Fenster des Abstellraumes an der Rückseite ist ausgewechselt worden. Sonst ist alles wie früher – die abgegriffene Türklinke des Hintereingangs, das Graffiti von zwei kämpfenden Hähnen vor dem grellen Bild einer untergehenden Sonne, und der schwarze Jeep meiner Trainerin auf dem Parkplatz, mit dessen Kauf vor fünfzehn Jahren sie sich einen Jugendtraum erfüllt hat. Hier hat alles begonnen, hier habe ich gelebt, hier bin ich gestorben. Nun bin ich wieder da.
Mit bebender Hand drücke ich die Klinke herunter und betrete den hinteren Korridor. Aus den Räumen an den Seiten dringen Faustschläge an mein Ohr, Schläge gegen Sandsäcke und gegen menschliches Fleisch. Ich vergesse, wie ich aussehe, und schreite selbstbewusst den Gang entlang – mein Geist hat sich durch die dreizehn Jahre nicht schwächen lassen, er lebt unabhängig von meinem Körper, er braucht ihn nicht, um stark zu sein. Kämpfern, die mir auf dem Korridor begegnen, nicke ich freundlich zu, aber nicht ohne einen Funken Überlegenheit im Augenwinkel. Ich brauche es euch nicht zu beweisen, ich weiß, dass ich stärker bin. Dass ich mächtig bin. Mächtiger als ihr alle, denn ich beherrsche mich selbst.

Lida kniet vor dem leeren Ring und geht irgendwelche Listen durch. Das Alter steht ihr ins Gesicht geschrieben, aber ihre Haltung ist nach wie vor makellos. Ich lache über das ganze Gesicht, als ich näher komme.

„Verdammt noch mal, ich wusste es, du Miststück!“
Lida grinst breit und boxt gegen meine Schulter, bevor sie mich mit festem Griff in ihre Arme nimmt. „Ich wusste, dass du kommst.“
„Ich hatte keine Wahl.“ Mein Lächeln erfährt eine Phasenverschiebung und rastet in Sarkasmus ein – für immer, das weiß ich. „Ich muss mich einsammeln, Lida. Ich glaube, ich weiß, was passiert ist. Sie ist tot, richtig? Sie hat sich umgebracht.“
Lida nickt, steigt in den Ring und winkt mich ebenfalls hinein. Als ich meinen Körper zwischen den Strängen hindurch auf die Matte befördere, habe ich das Gefühl, ein Tor zu passieren, hinter welchem mich gefrorene Zeit und gefrorene Welt erwarten. Ein Raum zwischen den Dimensionen, der sich nie verändert, eine konservierte Atmosphäre, die meine Fußspuren bereithält und auf neue wartet. Der Raum hat alles aufgesogen, was sich inmitten der Stränge abgespielt hat, er hat jeden Tropfen Blut gespeichert und die Sphäre mit Leben getränkt – bis ich ihn mit einer neuen Art Blut bekannt machte.

Projektoren ergießen gleißendes Licht über die Halle, die Luft vibriert vom Brüllen der Zuschauer. Ich manövriere das Boot in diesem Wellengang, ich gebe das Ruder nicht aus der Hand.
„Erzähl es mir noch einmal, Lida. Ich möchte es von dir hören. Mein letzter Kampf – wie war er?“
Sie lacht auf, hält ihre Arme schützend vor und ballt die Fäuste.
„Wie wohl - er war purer Irrsinn.“
Mein größter Sieg, und meine größte Selbstaufgabe.
„Das Publikum war in einer Ekstase, wie ich sie noch nie im Ring erlebt habe. Nicht davor, und nicht danach.“
Jeder Schlag, der mich traf,
„Jeder Schlag, der dich traf, traf auch das Publikum, ganz zu schweigen von mir und deinem Geliebten. Wir“
- stöhnten und spuckten mit, sie hielten sich die Bäuche und schluckten Tränen und hassten und liebten mich für dieses verfluchte –
„Schinden. Wir wollten alle, dass du dich ihr auslieferst, dass du sie zuschlagen lässt, unsere Euphorie war nichts weiter als eine Marionette in deinen Fingern. Dieses Theater war“
- faszinierend und beklemmend zugleich. Oh ja, sie ahnten, dass dies –
„das letzte Mal sein würde. Deshalb genossen wir jeden Funken, jeden Tropfen Blut zwischen euren Körpern… Und nachdem“
- sie mich blutig geschlagen und meinen Körper mit Wunden übersät hatte, habe ich sie ein letztes Mal kommen lassen, genau so wie bei meinem ersten Kampf, habe sie mit einer kleinen, madenweißen Nachricht empfangen, ihre Deckung gebrochen und sie -
„mit einem einzigen Schlag ins Land der Träume geschickt. Das Publikum tobte vor Begeisterung und Verzweiflung, sie hatten mehr sehen wollen, vielleicht“
- wären sie mit meinem Tod zufriedener gewesen.
„Aber so hast du den Ring verlassen, blutüberströmt, in dich zusammengekrümmt und als Siegerin, und bist aus ihren Leben verschwunden. Aus unser aller Leben.“
Und die ganze Zeit über…
„Und die ganze Zeit über wusste ich …“
- wussten sie, dass ich einen -
„dass du einen“
- Mord beging.
„Fehler begingst. Einen großen Fehler … Du hast sie zur Mörderin gemacht.“
Zur Mörderin seines Gewaltaktes an mir. Und er wusste es auch, er hat mich flehend angesehen, bevor er mich in den Kampf entließ, er hat kein Wort gesagt, doch seine Augen schrieen Welten. Er hat es mir nicht zugetraut, und dennoch hätte er es wissen müssen. Das Wir war bereits geschrieben, eingeprägt, die Kraniche flogen von mir zu ihm und ließen sich auf seinem Kopf nieder. Siehst du, klapperten sie mit ihren mutigen, selbstsicheren Schnäbeln, du hast das Uns vernichtet. Du hast das Wir auseinander gebrochen. Sieh hin, dort ist die Rache.

„Ich bin eine gute Beobachterin, das muss ich sein, sonst kann ich niemanden trainieren. Ich habe deinen Tanz im Ring genau verfolgt. Ich kannte dein Muster, und ich bemerkte, dass es dieses Mal anders war. Etwas war aus dem Gleichgewicht, die Schläge, die du eingesteckt hast, konzentrierten sich größtenteils auf deinen …“
- Bauch. Ich leitete sie mit meinen Drehungen, Schritten, mit Provokation. Ich spielte mit meiner Gegnerin, ich ließ sie mich überall treffen, aber die heftigsten Tritte und Stöße fing ich alle mit dem Bauch ab. Das Dümmste, was eine Kickboxerin machen kann – das Einzige, das ich tun konnte, um mich zu retten. Um mein verfluchtes Ich zu retten, meine Identität, meine Freiheit, meine Macht über mich. Ich zwang meine Gegnerin dazu, die winzigen Madenfinger zu zerquetschen, und irgendeine böse Laune zwang mich dazu, ihr diese Tatsache vor Augen zu führen. Sie hat begriffen.

„Meine Vermutung war also tatsächlich richtig? Verflucht noch mal. Du hast ein Schauspiel daraus gemacht, du hast uns alle in Trance versetzt und handlungsunfähig gemacht! Und mitschuldig. Alle Augen waren auf die große Märtyrerin gerichtet, niemand hält einen Märtyrer von seinem Weg ab. Ich kann dich bei Gott nicht verurteilen, aber ich würde so gern wissen …“

„…Warum? Weil er mich überwältigt hat. Mich nicht gefragt, meinen Körper infiltriert. Die Zügel sind mir aus der Hand gerutscht, warum hätte ich das zulassen sollen? Warum hätte ich mich einem Schicksal fügen sollen, an das ich nicht glaube? Es gab nur ihn und mich, da war kein Platz für weiteres Leben … Ich bin eine Kämpferin und keine Mutter, verstehst du das denn nicht? Versteht es denn niemand? Verdammt!“

Lida lässt die Arme sinken, schüttelt langsam den Kopf und zieht einen Mundwinkel nach oben.
„Überleg doch selbst. Kämpferin, sagst du? Du hattest einen Mann in deinem Leben, und du weißt doch, dass es keine fruchtlose Liebe gibt. Du hättest nicht lieben dürfen. Schicksal und Liebe, heißt es, gehen Schulter an Schulter – du kannst dich nicht einfach für eines entscheiden und das andere verleugnen.“
„Lida, du weiß auch, dass ich ihn brauchte. Ich habe für ihn gekämpft und für ihn gelebt, warum reicht es denn nicht? Warum musste er mich verraten …“
„Warum ist dir Verständnis so wichtig? Es war deine Entscheidung. Nicht dein Schicksal. Du wolltest lieben? Du hast geliebt. Du wolltest töten – du hast getötet.“

Ich wollte leben. Ich habe gelebt.
Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Ich weiß nur, dass ich einst beschloss, mich zu bestrafen, ohne jemals bereut zu haben. Als ich in der Badewanne saß und halb bewusstlos vor Schmerzen die Reste eines Kindes aus mir herausquetschte, hatte mein Geliebter Mitleid in den Augen, und ich bat ihn darum, mich zu schlagen. Ich bot ihm eine Revanche an, ich wollte, dass wir abrechnen. Er sollte begreifen, dass mein Ich nur so lange Bestand hatte, wie ich Macht über mich selbst halten konnte. Ohne diese Macht wäre ich, seine Geliebte, tot, ausgelöscht, nicht lebensfähig. Ich beherrschte mich selbst, und ich bewahrte ein Wir in meiner Liebe. Doch als er vor der Wanne stand und auf mich herabsah, erkannte ich, dass seine Liebe nun nicht mehr mir galt, sondern dem toten Kind. Auf meine Bitte hin, mich zu schlagen, reagierte er mit einem Schniefen, sank vor mir auf die Knie und drückte meinen nassen und blutigen Kopf an sich. „Es tut mir Leid“, flüsterte er heiser und etwas tropfte auf meinen Hinterkopf. „Es tut mir Leid, dass ich nicht auf dich aufgepasst habe. Es tut mir Leid, dass ich euch beide habe sterben lassen … es tut mir Leid, dass ich keine Zeit hatte, dir zu beweisen, dass ich euch beide liebe, dass ich nicht ohne euch leben kann, dass ich euch brauche. Es tut mir so Leid …“
Euch, sagt er. Ich bin kein selbstständiges, autonomes menschliches Wesen mehr. Ich bin nur noch ein Wir. Ein Euch. Wie kann er mir das antun? Er umarmt mich und weint sich die Seele aus dem Leib, und ich starre fassungslos auf das Blut um mich herum, auf das Leben, das aus mir geflossen ist, auf mein vernichtetes Leben. Dieser Klumpen Materie, stümperhaft vernäht, nicht lebensfähig, war kein Mensch, niemals war es ein Mensch, es hat das Leben nicht verdient, und seine Liebe ebenso wenig. Auch ich bin kein Mensch mehr, ich bin gestorben – im Kampf für die Freiheit, möchte ich glauben, doch vermutlich war es nur ein Kampf in Angst, ein Kampf um das eigene Überleben.

Es gibt keine fruchtlose Liebe, sagst du. Dann habe ich ihn wohl nie geliebt. Dann habe ich nie geliebt.
Aber gelebt, gelebt habe ich. Und ich habe so viele leben lassen.


Mein Blick schweift zur Decke, und ich sehe Kraniche. Gigantische Kraniche auf den einst schmutzig-weißen Flächen zwischen den Balken des Metallgerippes der Hallenbeleuchtung über meinem Kopf. Bilder von ruhigen, selbstbewussten Kranichen, ihre Schnäbel graziös ausgerichtet nach der Ferne.
„Er hat sie gezeichnet“, sagt Lida emotionslos. „Er ist blind, aber beim Zeichnen scheint er mit den Händen zu sehen. Ich weiß nicht, warum es Kraniche sind, habe ihn nie gefragt. Er malt nur Kraniche …“
Tausend Kraniche, tausend Leben. Fremde Leben, die an mir vorbeiziehen, ohne von meiner Existenz Notiz zu nehmen. Fremde Leben, ausgefüllt mit Sehnsüchten, unerfüllten Träumen, Hoffnungen, unendlicher Freude, Tränen und Kinderlachen. All ihre Leben entspringen der gleichen Quelle, und meines ist der Regen, der darauf herabfällt und sich mit ihnen vermischt, ohne jemals Teil von ihnen sein zu können.
Ich bin gern der Regen. Er kann überall sein, er ist alles, seine Tropfen sickern in den Boden und kommen in neuen Quellen zum Vorschein. Das ist Macht, und das ist Freiheit.

„Er ist blind?“
Lida sieht mich schweigend an, und ich verstumme, alles verstummt, ich stelle keine Fragen mehr.
Nichts möchte ich mehr hören, ich sinke auf den Boden des Rings und beginne zu zittern. Der Henker hat die schwarze Kapuze über sein Haupt gezogen und wiegt das schwere Beil in den Händen. Ich habe meine Macht missbraucht. Meine Wut hat so viel mehr Leben ausgelöscht als sie geschaffen hat. Gnade mir, Gott, ich habe wild gelebt, doch nichts vollbracht…

Meine Trainerin kniet vor mir und blickt mir in die Augen. Kein Urteil glänzt darin, keine Verurteilung, kein Spott. „Er hat mich gebeten, dich zu fragen, wenn ich dich wieder sehen würde.“
„Zu fragen? Ob ich …“
„Ob du es wieder tun würdest.“
Ich gebiete dem Henker Einhalt und blicke auf meine bleichen, dünnen Hände.
„Wie soll ich dir diese Frage beantworten? Ich kann doch nur so handeln, wie mein damaliges Ich gehandelt hat. Das jetzige Ich ist nicht befugt, etwas zu ändern, nicht einmal zu bereuen. Es ist hier, um das alte Ich zu strafen, es ist …“
„Das heißt also ja? Du würdest nicht anders handeln, richtig?“

„Ja. Ja, verdammt! Ich würde nicht anders handeln.“


***


Mein Leben ist zu Ende. Das Gespenst von Freiheit hat einst auf meinem Dachboden gepoltert, und mein Geliebter hat es ausgetrieben. Ich weiß, es gibt keine Freiheit. Und am Ende steht immer ein Fehler.

Kaum bemerkbar senke ich meinen Kopf und heiße den Henker zuschlagen.

Ich kann nicht mehr glücklich werden. Aber Erik wird es. Ich bin es ihm schuldig.
Ich werde meinen Tribut entrichten an das brutalste Spiel, das es gibt – das Spiel Leben. Ich werde meine Deckung aufgeben, meine Arme ein bisschen sinken lassen, werde ihn ganz nah herankommen lassen. Aber nicht zuschlagen. Nein, zuschlagen werde ich nie mehr.
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich bin hemmungslos begeistert, Rika!

Seit gut drei Jahren spiele ich jetzt den Türsteher bei den Kurzgeschichten der Leselupe, diese Erzählung ist das erste Vorstellungswerk, bei dem ich vor Begeisterung die Tür am liebsten aus den Angeln gehoben hätte.

Exorbitant impressioniert disloziiert
 

Rika

Mitglied
I.

„Wir gehen in die Nacht, tief in die Nacht, wir finden uns selbst“
Ich öffne die Augen, wache auf. Eine Stimme redet zu mir.
„Wir gehen tiefer. Wir sind in der Stille.“
Einige Momente vergehen, bis ich mich orientieren kann. Ich sitze am Tisch und habe Kopfhörer auf. Vermutlich versuche ich, zu meditieren.
Meditieren? Das habe ich noch nie gemacht.
„Wir hören der Stille zu ...“
Meine linke Hand zieht die Kopfhörer herunter und legt sie auf den Tisch. Die Stimme verstummt, dafür pfeift jetzt ein Fernseher in meinem Ohr. Nein, das ist kein Fernseher. Das ist ein einzelner, langer Ton, Frequenz hoch. Extrem hoch. Der Ton ist in meinem Ohr, ich schüttele den Kopf und klopfe gegen die Schläfe, aber er verzieht sich nicht. Er verstummt nicht. Es ist in meinem Ohr. Seit wann höre ich dieses Piepsen? Ich kann mich an hervorragendes Gehör zurück erinnern, ich mag und brauche die Stille, das weiß ich. Das Piepsen ist mir neu. Es macht mir Angst.
Ich merke, wie ich mir eine Zigarette in den Mund stecke und zur Streichholzschachtel greife - du willst beim Rauchen Schwefel riechen, erklärt mir mein Unterbewusstsein, deshalb hast du immer Streichhölzer da und benutzt kein Feuerzeug, du hattest schon immer etwas gegen diesen metallischen Funken am Ende deiner Zigarette. Seit wann rauche ich? Wann habe ich angefangen? Ich habe den Rauch immer verabscheut, der Geschmack von Nikotin auf den Zähnen nach meiner ersten und einzigen Probezigarette war mir zuwider gewesen, und der Vorstellung, mit jedem Zug schwarzes Gift in meiner Lunge abzulagern, hatte ich auch nichts abgewinnen können. Dennoch bewegen sich meine Hände automatisch, eingespielt, als hätten sie das schon hunderte von Malen gemacht. Tausende von Malen.
Vielleicht bin ich es gar nicht, kommt es mir in den Sinn, vielleicht sitze ich nicht wirklich hier. Ich träume, oder ich bin tatsächlich in einen Meditationszustand gewechselt, in dem ich irgendjemand bin, nur nicht ich selbst. Ich schlage den Saum meines Bademantels zurück und kneife mich in den Oberschenkel. Es schmerzt, ich bin wach. Ich wünschte, ich wäre es nicht. Meine Oberschenkel geben mir zu denken - blass, kalt, wie schlecht gekneteter Teig. Was ich so sorgfältig mit Sex und Kickboxen aufgebaut hatte, schwabbelt nun unter meinen trockenen Handflächen. Meine Fingernägel sind spitz geschliffen und glänzend lackiert. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals Lack benutzt zu haben. Wer hat das getan? Was ist mit mir passiert?
Ich inhaliere nervös den Zigarettenrauch. Anscheinend brauche ich ihn, mir wird sogleich warm, ich beruhige mich. Ich weiß nicht, was ich von der Situation halten soll. In meiner Erinnerung schwebt mir eine Person vor, die nichts mit meinem jetzigen Zustand zu tun hat. Als wäre ich ein Abziehbildchen, nein, nicht einmal das - ein Negativ. Ich könnte einen Blick in den Spiegel werfen, doch das wage ich nicht. Ich habe Angst, mir in die Augen zu blicken. Vermutlich habe ich gar keine mehr. Womöglich bin ich sogar geschminkt. Verzogene Mundwinkel, Falten in der Stirn, leere Pupillen, umgeben von schwarzen, verklebten Fliegenbeinchen. Nein, so weit muss ich jetzt nicht gehen. Ich muss mich erinnern. Einfach erinnern.
Mein Ex kommt mir in den Sinn. Interessant. Ich hätte nicht gedacht, dass ich je einen haben würde. Einen Exfreund, oder gar einen Exmann. Ich weiß nicht, was von beidem er ist, aber ich weiß, dass er nicht mehr ist. Nicht bei mir, nicht in erreichbarer Nähe. Was habe ich getan? Hatte ich mir nicht geschworen, ihn nicht aus meinem Leben verschwinden zu lassen? Habe ich ihn nicht geliebt?
Er ist weg. Ich bin hier, allein. Ich bin nicht ich. Wie alt mag ich wohl sein? Dreißig? Vierzig? Unwichtig.
Unter meinem Küchentisch liegt eine leere Pizzaschachtel, mindestens zwei Tage alt. Was für ein Klischee. Ein ironisches Lächeln drängt sich in mein Gesicht, und ich merke, wie dabei Muskeln beansprucht werden, die lange geschlafen haben. Die Zigarette wandert in den Aschenbecher. Jetzt wird aufgeräumt.

Zunächst bringe ich mich selbst wieder in Ordnung. Der Bademantel fällt, eine kalte Dusche weckt die Reste meines Geistes, quetscht sie mühsam aus meiner fast aufgebrauchten Gehirnpastatube. Schwarze Wassertropfen bahnen sich einen Weg über Speckröllchen am Bauch, gut, die Tusche ist aus dem Gesicht gespült. Ich verstecke mich unter einem Badetuch, um diesen scheußlichen Körper nicht sehen zu müssen, und räume meinen Kleiderschrank aus. Fremde Klamotten fliegen durch das Zimmer - Designerkleider, Hosenanzüge, Miniröcke. Wo sind meine Sachen? Wo ist meine schlichte, immer bequeme Kleidung, die mich zur Bewegung motiviert? Wo bin ich?
In einer Ecke des Schrankes finde ich etwas Passables, offensichtlich längst Vergessenes. Mein neues Ich scheint es nicht übers Herz gebracht zu haben, alles weg zu werfen, was dem echten Ich gehört hatte. Wie tröstlich.
Ich bin wiederhergestellt, zumindest äußerlich. Es folgt die Zimmerinventur. Im Kühlschrank gammelt eine Gurke vor sich hin, daneben liegt eine angeschnittene, stinkende Salami. Kaffee- und Zuckerdosen sind im Buffetschränkchen zusammengepfercht, auf der Mikrowelle stapeln sich Zigarettenschachteln. Lebt die Person, der das alles gehört, eigentlich noch? Was macht sie den ganzen Tag, außer zu rauchen und zu meditieren? Eine sonderbare Freude stellt sich in mir ein, ich spiele Detektiv, mal sehen, was sich ans Tageslicht hervor zerren lässt. Die Frau, die ich gerade bin, scheint ein Wrack zu sein. Ein Foto hängt an der Wand - ein Mann ohne Gesicht. Von der Stelle seines Kopfes starrt ein Brandfleck in meine Richtung. Rachsüchtig ist sie auch noch, diese Kuh. Was für ein Biest. Das Nachttischchen ist übersät mit Schminkzubehör, von dem ich die Hälfte nicht zuordnen kann. Eine ganze Farbpalette, das gibt bestimmt eine schöne Kriegsbemalung. Ich muss unwillkürlich lachen. Das wird mir allmählich zu verrückt. Bisher liefert mir nichts in dieser Wohnung einen sichtbaren Hinweis auf meine Gedächtnislücke. Wenn ich nur wüsste, wo mein Geliebter abgeblieben ist. Was habe ich mit ihm gemacht? Warum musste ich ihn auslöschen?

Jemand klingelt an der Tür. Hervorragend, ein Anhaltspunkt, komm in meine Arme. Als ich die Tür öffne, steht ein Mann vor mir, ein gewöhnlicher, gut angezogener Mann. Meinen fragenden Blick quittiert er seinerseits mit einem verwirrten Blinzeln, so als müsste ich ihn erwartet haben, und als Zugabe breitet er seine Arme aus und legt den Kopf auf die Seite - ob ich mich nicht freue, ihn zu sehen? Ich beschließe, mit zu spielen, ziehe ein leichtes Lächeln auf und trete zur Seite, damit er hereinkommen kann. Dabei registriere ich missbilligend, dass er seine Schuhe an behält.
„Tut mir leid, ich war gerade ... wo anders.“ Während ich die Worte ausspreche, kämpfe ich mit Untertönen, die mich womöglich verraten könnten. Erst einmal das Gebiet sichern - dann zum Angriff übergehen. Der Mann nickt und legt einen Arm um meine Schulter. „Ich verstehe schon. Sag es mir einfach, wenn du mehr Zeit für deine Suche brauchst. Eine Religion ist nichts, das man sich von heute auf morgen ...“
Über meinen Gedanken liegt Nebel, doch mit jedem Wort, das der Mann von sich gibt, schneidet ein Luftzug durch die Schwaden, es lichtet sich ein bisschen mehr, wird wässriger, durchsichtiger. Der Name des Mannes beginnt mit einem E, er hat ihn mir bereits vor Jahren genannt, aber nicht bei einem Date, nicht bei unserem ersten Treffen, nein ... Er hat damals das tief ausgeschnittene rote Kleid an mir betrachtet, anstatt mir in die Augen zu sehen, und sich die schwarzen Locken aus der Stirn gestrichen, wobei diese Geste dazu diente, das Verlangen seiner Hand, nach mir zu greifen, zu unterdrücken - das sah ich ihm an, das war wohl mein erster Eindruck von ihm, denn er prägt mein Unterbewusstsein noch immer, zumal ich mich an keinen weiteren Anhaltspunkten richten kann. Von den Locken ist nichts mehr übrig, seine Haare liegen ordentlich gekämmt auf seinem Kopf, ein ordentlicher Skalp und darunter eine ordentliche, feingliedrige Brille mit hauchdünnen Gläsern.
„... aber gut.“
Mein Gehirn schaltet die Welt wieder auf volle Lautstärke und lässt mich mit ein paar Wortfetzen im Regen stehen. Welch umsichtige Art, mit einem fragilen Bewusstsein umzugehen. „Entschuldige, dein letzter Satz, ich habe ...“
„Oh, ich meinte nur, du siehst gut aus, ungewöhnlich, aber gut. Ich glaube, ich habe dich noch nie in dieser Kleidung gesehen.“ Ich nehme ihn an der Hand und ziehe ihn auf das grässlich weiße Ledersofa in meinem und doch nicht meinem Wohnzimmer. „Erik.“ Anscheinend habe ich ins Schwarze getroffen. Seine Augen glänzen mir eine Feuersbrunst entgegen, als er mich auf seinen Schoß setzt und einen Daumen auf meinem Mund platziert. „Oh, ich liebe es, wenn du das sagst, du glaubst gar nicht ...“
„Erik", unterbreche ich unbarmherzig. „Erinnerst du dich noch an das rote Kleid?“
Er hält inne, legt seine Stirn in Falten. „Was meinst du? Doch nicht das, als ...“ Er macht eine Pause und wartet auf eine Reaktion von mir, die nicht kommt. „Hey. Ich habe es dir versprochen, und ich werde dieses Versprechen einhalten. Du hast es so gewollt.“ Er glaubt, ich wüsste, wovon er redet, dabei habe ich nicht die geringste Ahnung. Das ist das Schicksal aller Doppelgänger, die sich nicht im Leben ihrer Originale zurechtfinden. Ein Königreich für einen Souffleur! Vielleicht sollte ich es darauf ankommen lassen und die Verwirrte spielen. Auf Amnesie plädieren, mein Gesicht mit Selbstfindungspuder bleichen und dezent anmerken, dass ich meine Erinnerungen nackt vor mir ausbreiten müsse, um sie löschen zu können. „Ich möchte es wissen. Bitte. Es ist alles so lange her und ... ich bin im Begriff, aufzuräumen. In meiner Seele, verstehst du? Verdrängung ist nicht der richtige Weg.“
Erik blickt mich sichtbar verdutzt an und meinen Augen fällt nichts Besseres ein, als die Innenseite seines steifen Hemdkragens zu taxieren, deren Grauton sich in eigensinniger, unangemessener Manier von dem sonst recht weißen Weiß des restlichen Hemdes abhebt. Die Schnurrbartstoppeln unter seiner Nase sind damals nicht da gewesen, als er letztendlich dem Drang seiner Hand nachgab, mich an den Haaren packte und einen harten Kuss auf meine Lippen drückte, wobei ich das nicht habe als Kuss bezeichnen wollen, und seine glatte Oberlippe war das einzige, das sich mir von jener Szene eingeprägt hat. Er hatte mir das rote Kleid von den Schultern gerissen und ich fragte ihn nach seinem Namen, woraufhin er sich zwischen meine Knie drängte und zischte: „Erik. Merk dir das.“
Ich komme nicht umhin, diesen Gedanken einen sarkastischen geistigen Tritt hinterher zu schicken, bevor ich mich wieder auf die Situation konzentriere.
„Du hast gesagt, du wolltest nicht mehr darüber reden. Nie mehr. Du wolltest deine Vergangenheit vergessen, begraben, und unseren Anfang ebenso. Wir sind jetzt, hast du gesagt, und was wir waren, zählt nicht. Deshalb habe ich es dir versprochen ... weißt du nicht mehr?"
Ach so. Ich habe also an meiner Erinnerung herum geschnitten, um etwas zu vertuschen, um Dinge zu verdrängen und ein neues Leben zu beginnen. Doch habe ich mir diesen Neuanfang verdient? Und ist er nicht zudem herrlich schief gegangen, gemessen an meinem jetzigen Zustand? Ich stecke in einem Zombie-Körper, bin hergerichtet wie eine frustrierte Beziehungsgeschädigte und ernähre mich von Salami und Kaffee. Ist das mein neues Leben?
Ich löse mich von Erik, gehe ein paar Schritte durch das Zimmer, bleibe am Bett stehen und ziehe schließlich mit einem Ruck den weinroten Überwurf herunter. Wie ein Leichentuch senkt es sich über das Nachttischchen, verbirgt kippende Parfumfläschchen und auf den Boden rollende Mascara-Stifte unter sich. Die Hände auf den Bettrand gestützt, schließe ich die Augen und sauge den Geruch dieser Schlafstätte ein, bereit, ihn auf meiner Probenpalette unter Liebe, Leben, Leiden oder Ruhe einzuordnen. Ohne mich um zu drehen bitte ich Erik, hinter mich zu treten, und in dieser Falte zwischen ihm und dem Bett spüre ich, wie mir unausgegorener Tod entgegen schlägt.
„Komm“, flüstere ich, „nimm mich.“ Das lässt er sich nicht zweimal sagen.

***


Meine Erinnerung ist ein schadhafter Mikrofilm, mit Lücken, Blindflecken, Rissen. Ich habe sie so zugerichtet, genau wie ich die Fotos meines Geliebten verunstaltet habe, ohne sie von den Wänden zu nehmen. „Wie damals“, sagt Erik träumerisch, reicht mir seine Zigarette und bettet sein Gesicht auf meinem Unterarm. „Wie an jenem Tag. Ich dachte, du hättest es ein für alle Mal aufgegeben. All das, was dich an deinen damaligen Zustand erinnern würde. Ich hätte damit leben können, aber wenn du wieder bereit bist, von vorne zu beginnen, ist es natürlich ...“

Zustand, sagt er. Nutte, meint er. Das ist es also. Der Zombie-Körper hat meinem jetzigen Ich bisher als Rettungskapsel gedient, als Stasisbox für den jämmerlichen Klumpen Ich, der sich vor der Vergangenheit verstecken und seine Überbleibsel raffen und auf diese Weise retten wollte. Er hat nicht damit gerechnet, dass die Stasisbox ein Eigenleben entwickeln und die Konservierungsstoffe auslaufen lassen würde. Aber nun bin ich wieder hier. Ich bin da, um aufzuräumen. Warum bloß Nutte?

„... diesem Bett.“
„Erik?“
„Ja, Liebling?“
„Was habe ich mit dem Mann auf den Fotos da gemacht?“
Der Enthusiasmus in seiner Stimme verschwand genauso schnell, wie er aufgetaucht war. Irgendwie tut er mir leid, dieser Mann, der sich einst in ein leichtes Mädchen verliebte, um zuzusehen, wie es zu einer Frau wurde, die ihre Vergangenheit wie ein verführerisches Sommerkleid an den Haken gehängt hatte. Er wartet seit Jahren darauf, dass sie genese, oder er wartet nicht, sondern liebt sie einfach, diese verdammte Frau. Er tut mir leid, aber ich kann nichts für ihn tun. Ich bin nicht sie. Ich bin nicht sein.

„Du hast ihn verlassen“, antwortet er kurz angebunden.
„Nur verlassen? Warum habe ich seine Fotos nicht abgenommen?“
Erik seufzt und streicht mit seiner Hand über meinen Hals. „Ich hatte immer gehofft, du würdest sie letztendlich abnehmen. Würdest deine unglückliche Beziehung zu ihm aus der Gegenwart streichen, doch du sagtest immer, du seist wütend auf ihn und wolltest die Wut nicht vergessen. Sag bloß, du weißt es nicht mehr. Wollen wir sie zusammen abnehmen?“
Wut? Ich möchte mich ohrfeigen. Nein, noch besser: mich mit verbundenen Augen und gefesselten Händen in den Ring begeben und mir von meinem Gegner Verstand ein prügeln lassen. Moment mal – der Gedanke an „Ring“ löst einen sägenden Schmerz in mir aus, ein pulsierendes Stechen, die Assoziation tanzt mir wie im Sinnesrausch vor Augen und lässt nicht nach sich greifen. Das Gefühl vollkommener Hilflosigkeit schnürt meinen Brustkorb ein, ich spüre, dass meine Lungenflügel von den splitternden Rippen zerfetzt werden, wenn ich einen tiefen Atemzug nehme, und halte die Luft an. Verdammt soll ich sein, wenn ich uns vernichtet habe, ihn und mich!
„Erik, ich weiß nicht mehr, wie er aussieht. Ich habe sein Gesicht wohl nicht umsonst ausgebrannt.“
Der Mann, der neben mir liegt, dreht sich auf den Rücken und verschränkt die Arme unter dem Kopf, verharrt für eine kurze Zeit in dieser Position und erhebt sich schließlich vom Bett. „Was ist mit dir passiert? Gestern am Telefon sagtest du, du hättest endlich die Balance gefunden, hättest erkannt, wie zufrieden du mit deinem jetzigen Leben seist. Du klangst so ruhig und ausgeglichen, als hättest du mit allem abgeschlossen, und für einen Moment hatte ich die Befürchtung, du hättest auch mit mir abgeschlossen, aber dieser Eindruck entstammte lediglich meiner Fantasie. Ich folge deiner Einladung, komme dich besuchen und finde dich vollkommen verwandelt vor. Kaum bin ich zehn Minuten hier, schon schläfst du mit mir, und dann fragst du mich über deinen Exfreund aus. Versteh mich nicht falsch, ich will dir nichts vorwerfen, ich möchte lediglich verstehen …“
Erik, armer, armer Erik. Die Konservierungshülle, in die er sich verliebt hatte, für die er gesorgt, die er vor ihrem eigenen Inhalt beschützt hatte, hat gestern Nacht Selbstmord begangen. Sie hat ihre Aufgabe erfüllt und ist gemäß ihrer Programmierung aufgeplatzt. Wie ein nasser, blinder Welpe liege ich nun unter ihrer Leiche und wühle mich kläffend durch die Nachgeburt hinaus an die frische Luft.

„Ich muss da ganz alleine durch, Erik. Du kannst mir nicht helfen.“ Ich drücke die Zigarette auf einem Cremedöschen aus, verspreche mir, mich von nun an zu enthalten, und stehe auf. Wütend bohrt sich die Spitze eines Lippenstiftes in meine Fußsohle und zieht an allen Nervensträngen. Ebenfalls wütend schleudere ich den kleinen Silberstift gegen die verspiegelte Schranktür und werde noch wütender, als das Glas nicht zerbricht. Den Blick in den Spiegel wage ich nicht.
Erik steht in der Tür und blickt mich geistesabwesend an, deine Augen, wenn sie Kraniche wären, welche Meere könnten sie bezwingen?, eine Zeile mit Erinnerungswert. Woher kommt sie bloß?
„Wie alt bin ich denn schon? Wie lange bin ich hier?“
Er fasst die Frage als einen verzweifelten Ausschrei auf, als ein Bündel Selbstzweifel. „Zerbrich dir nicht den Kopf über das Alter, mit deinen neununddreißig hast du das Leben noch vor dir.“ Dreizehn Jahre lang habe ich geschlafen.
Dreizehn Jahre lang war ich tot.

Tausend Kraniche für tausend Jahre, tausend Leben für dich und mich, nur dich und mich, ein Federkleid im Distelbett. Für dich zog ich den Füller über das Papier, den Füller, vor dem du solche Angst hattest. Bitte, schreib mich nicht, flehte dein gutmütiges Lächeln, schreib uns nicht, erfinde uns nicht. Wollten wir nicht frei sein? Warum steckst du uns in dieses Korsett? Und ich antwortete mit einem verzogenen Mundwinkel, sprach in nüchternsten Tönen, legte nachsichtig, doch nicht nachgiebig den Kopf auf die Seite. Wer bin ich, sagte ich, wenn ich mich nicht geschaffen habe?
Wer kann ich sein?

„… hörst du? Ich möchte, dass du mit mir kommst. Raus aus dieser Wohnung, weg von deiner Wut auf ihn. Komm für ein paar Tage mit zu mir, ich verspreche dir, es wird dir gefallen. Wenn du magst, können wir den ganzen Tag im Bett verbringen. Oder du legst dich in den Garten und hörst deine Kassetten. Ich könnte sogar Karten für das Konzert im Dom bekommen, in dem sie nächste Woche Bach spielen, und du könntest dir deine Lieblingsfuge auf einer echten Orgel anhören und alles andere vergessen.“ Erik, wer bist du? Warum sagst du mir das alles?
„Du magst Bach doch gar nicht.“
„Ich würde mitkommen und dir dabei zusehen, wie du ihm zuhörst. Ich sehe dich so gern, wenn du dich der Musik hingibst …“
Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter und schließe die Augen. Du bist ein Traummann, Erik, aus einem fremden Traum. Wie bist du den Fängen des Kissens entkommen, wie hast du den Weg zu mir gefunden? Habe ich dich entführt?
Bist du letzten Endes nichts weiter als ein Substitut für ihn, meinen einzigen Geliebten?

„Einverstanden. Komm mich morgen früh holen.“ Ich wende meinen Blick von seinem strahlenden Lächeln – Sonnenschein aus Fingerfarben, Regenbogen ohne Regen. Ich kann nicht hinsehen, ich sehe nur Kraniche ziehen. Tausende von Kranichen, ihre langen Schnäbel graziös ausgerichtet nach dem uferlosen Meer.

Als ich die Tür hinter ihm schließe, fällt mein Bewusstsein in ein bodenloses Loch. Ich stehe da und starre auf meine Hände, auf den Boden unter meinen Füßen. Irgendwie muss ich mir beweisen, dass ich tatsächlich gelebt habe. Dass ich geboxt und geliebt habe. Dass ich einen Geist hatte, ein Lachen und Träume. Meine Haut umspannt lediglich zusammengeklebte Scherben – wie kann ich mich noch auf den Beinen halten, wenn die Stücke in mir nicht zusammenhängen? Ich erwarte, dass ich jeden Moment gleich einem Hampelmann zusammenklappe, zu Staub zerfalle.
Ich sinke auf die Knie und umklammere meinen Bauch, mir scheint, ich habe Leben verloren, echtes Leben, dreizehn Jahre voller nicht gekämpfter Kämpfe, ich habe einen Müllsack mit mir herum geschleppt, in dem Erinnerungen, Ängste, womöglich sogar Schande zusammengepfercht und allmählich verwest, vergammelt sind. Ich muss ihn wieder öffnen, ich muss alles heraus schütteln und retten, was noch Form hat. Der Hitzeschwall, der mich übermannt, verlässt mich durch den Tränenkanal, ich kneife meine Augen zusammen und sie verkleben, die Nase läuft, ich liege gekrümmt auf dem Boden und werde von Weinkrämpfen geschüttelt. Gnade, Gott! Gnade dir, Gott, wenn du mich die ganze Zeit über beobachtet hast, mich in meiner Selbstverleumdung, mich in meiner Selbstaufgabe, und keinen Finger rühren wolltest, um mich wach zurütteln! Du hast meinen Geist liegen lassen in dieser Leiche, warum hast du mich nicht geholt, warum hast du mich so elendlich verlieren lassen?
Oder hat dich etwa auch jemand verletzt, irgendwann, dir etwas angetan, so dass du dich verbergen musstest, dich in eine Kapsel gesperrt und vergessen hast, wer du bist? Komm raus! Komm jetzt wieder raus und teile dein Schicksal mit mir! Ich wollte das nicht … ich wollte nicht so enden!
Wie habe ich eigentlich angefangen? Ich wische das Gesicht am Ärmel ab, setze mich auf und lehne den Rücken gegen die Tür. Mein erster großer Sieg – zum ersten Mal in einem echten Ring, eine echte Gegnerin, der Kampf um einen Pokal, um Anerkennung. Für mich war das die Chance, mir zu beweisen, dass ich über mich selbst hinauswachsen konnte. Aus dem Trainingslager direkt auf das Schlachtfeld, und ich habe mich so gut geschlagen! Ich schließe die Augen und bin in dieser Halle, umgeben von hunderten von Zuschauern, gleißendes Licht über unseren Köpfen, Schreie, Applaus, aufmunternde und spöttische Rufe an den Grünschnabel, an die dreiste Herausforderin – eine Miniatur menschlichen Lebens voller Verachtung und Mitgefühl. Betretene Gesichter, wutentbrannte Blicke, sie alle starren in unsere Richtung, zu mir, dem Inbegriff des Größenwahns, und zu ihr, dem Mahnmal, dem Felsen, an dem alle Neulinge zerbrechen. Zwischen unseren Augen hängt die Hölle, unsere Arme und Beine tragen den Kampf für uns aus, während wir uns gegenseitig das Leben austreiben. Ich weiß, ich werde verlieren. Trotz meines Durchhaltevermögens, trotz meines Zorns – sie ist zu stark, ich werde verlieren. Irgendwo in den ersten Reihen erahne ich das Gesicht meines Geliebten, die Sorgenfalten in seiner Stirn, sein tantrisches Flüstern – „du wirst gewinnen, du wirst gewinnen, du wirst gewinnen“… Ich muss gewinnen, ich muss für ihn gewinnen! Wenn ich verliere, wird er die Last meiner Selbstzweifel tragen müssen. Das darf nicht passieren.
Ich muss gewinnen.

Wie viele Runden haben wir hinter uns? Ich weiß es nicht mehr. Die Schmerzen erhaltener Schläge verlieren sich in der Euphorie direkter Treffer. Strategien, die ich anfangs aus Furcht, zu scheitern und eine lächerliche Niederlage einzustecken, zurückgestellt habe, drängen sich mir auf. Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Frau zu bezwingen – sie mit ihrer Selbstsicherheit zu schlagen. Das Publikum ächzt, als es merkt, wie ich die Spannung aus meinem Körper entweichen lasse und einige Schritte zurückgehe, um das Ende des Kampfes ein zu läuten. Sie wissen – ich bin bereit, den k.o.-Schlag zu empfangen. Die Bewunderer meiner Gegnerin springen fast synchron von ihren Plätzen auf, als sie die Zähne fletscht, und ein Siegessturm bricht los. Sie treiben auf den Wellen, sie ahnen das Ende. Sie kennen das Ende bereits, noch bevor sie es gesehen haben. Und dann werfe ich ihnen einen Stein in den Strom.
Ihr Trainer schüttelt energisch den Kopf und schreit etwas, doch sie ist von meinem müden Blick gefesselt, von den hängenden Schultern bestärkt. Gebündelte Kraft in einem letzten Sprung, mit dem Ziel, meinen Kopf zu treffen. Ich schmettere ihr mein Bein in den Bauch, wobei ich ihre nur noch obligatorisch aufrecht gehaltene Deckung durchbreche, und werde von ihrem Tritt in die Stränge geschleudert. Keuchend und lachend hänge ich in den Seilen und zähle sie zusammen mit dem Richter ins Aus, während das ohrenbetäubende Getöse der Menge zwischen Verachtung und Bewunderung hin und her schwappt. Sie ist aus. Sie ist aus!
Blut trieft aus der Platzwunde unter meinem Schlüsselbein und macht den Boden des Rings nass und klebrig. Meine Trainerin kniet in der roten Pfütze und verabreicht mir irgendeine Spritze, und ich lache hysterisch, lache, als hätte ich die Welt erobert und zerstört, lache irrsinnig.
„Deine Deckung, verdammt! Wo ist deine Deckung gewesen? Du hast dich treffen lassen, so etwas kann tödlich enden, hörst du? Dass du mir nie wieder …“

Ich öffne die Augen und lächele bitter. Das ist die Zeit, in die ich gehöre. Darin war ich der Mensch, zu dem ich mich gemacht hatte, der Mensch, der ich sein möchte. Ich hatte nie daran gezweifelt, dass dieses Leben ewig andauern würde. Ich war so frei gewesen … und dann passierte etwas und warf meine Welt aus der Bahn.
Ich knöpfe mein Hemd auf und werfe einen Blick auf die Stelle oberhalb der linken Brust. Alles, was ich entdecken kann, ist eine feine Rille quer über den Muskel – eine genähte, fast verheilte Narbe. Als ich jedoch damals diese Wunde erhielt, habe ich sie als Symbol für meinen ersten Sieg, für das Opfer gesehen, welches ich bringen musste, um einen Gegner vernichten zu können, und sie deshalb auch nicht nähen lassen. Sie zierte meinen Brustmuskel wie eine Medaille, auf die ich stolz war, und erinnerte mich stets daran, dass ich mich nicht schonen und keine Erwartungen stellen durfte. Ich war die Waffe in meinem Kampf, und so musste ich mich auch einsetzen, mich verschwenden.

„Lass den Gegner nicht so nah an dich ran, hörst du? Bist du wahnsinnig? Was, wenn du eines Tages nicht schnell genug bist? Was, wenn er dich kalt erwischt und du deckungslos zu Boden gehst, was willst du dann tun, na? Du kannst nicht unendlich viel einstecken, du bist ein Mensch, verdammt, aus Fleisch und Blut!“

Die Wunde ist nicht mehr da. Ich habe mir die Medaille abnehmen, habe die Narbe komplett vernähen lassen. Das kann nicht real sein. Ich bin in einem Albtraum gefangen und spuke hier ohne Identität, ohne Erinnerung, ohne Ausweg. Meine Hände zittern und sind gewillt, ein Messer zu holen und die Medaille wieder frei zu schneiden, bluten zu lassen, doch mein Verstand entscheidet vorerst dagegen. Ich muss wissen, warum ich das tat.

Während ich die Schubladen aus den Kommoden ziehe und die Papiere einer mir fremden und inzwischen verhassten Frau nach Hinweisen durchsuche, kombiniere ich im Geist meine Vermutungen und versuche, meinem Verschwinden auf die Spur zu kommen. Ich habe immer gewonnen, es mir aber nie zu Kopf steigen lassen. Keine meiner Gegnerinnen wagte es, meine Strategie anzuwenden, und keine hat sich zurückhalten können, zuzuschlagen, wenn sie eine Lücke in meiner Verteidigung entdeckte. Ich habe sie alle täuschen können. Ist es möglich, dass ich meinen letzten Kampf verloren habe? Dass ich eine Schande habe entgegen nehmen müssen, die mich dazu bewegte, mit dem Kämpfen aufzuhören und mein Leben vollkommen neu zu gestalten? Doch so etwas würde mich nie dazu veranlassen, meinen Körper an Männer zu verkaufen. Auch nicht an Männer wie Erik.
Vielleicht ist das Gegenteil passiert – ich habe jemanden umgebracht, eine Gegnerin im Kampf getötet. Damit könnte ich nicht leben, das weiß ich. Aber gleichzeitig weiß ich auch ganz genau, dass ich mich stets unter Kontrolle hatte. Ich wäre nie so weit gegangen, ich war nicht jähzornig.
Ich komme hier nicht weiter.
Mein Geliebter hat immer hinter mir gestanden. Er unterstützte mich beim Training, half mir, meine Wunden zu kurieren, lebte mit mir Sonnenstrahlen- und Sturmtage und verwandelte Durchschnittstage in eines von beiden. Unser Leben spielte sich zwischen Zelten, Hotelzimmern und fremden Gartenhäuschen ab, wir waren ‚auf freiem Fuß’, nachdem wir der Enge einer festen Wohnung entkommen waren und uns ein Streunerdasein gönnten. Vermutlich waren wir nichts weiter als Drogensüchtige in Erwartung des nächsten Adrenalinstoßes – in Form eines Kampfes oder eines zügellosen Spieles unserer Körper. Ist im Grunde nicht jeder Mensch süchtig – nach Glücksgefühlen, schönen Momenten, erreichten Zielen, erfüllten Wünschen? Unser Leben war voll davon.

Ich muss unwillkürlich grinsen, wenn ich daran denke, wie er mich nach jedem meiner Kämpfe in der Umkleidekabine überfiel. Blutig und schweißüberströmt wie ich war, drückte er mich gegen eine Wand und nahm sich seinen Anteil an unserer Droge, nahm ihn fordernd und ohne Rücksicht auf meine Müdigkeit. Wenn sein Rausch ausgeklungen war, trug er mich auf seinen Armen ins Bad und wusch behutsam meinen Körper sauber, während ich mich vor Lachen kaum halten konnte. Die Küsse, die er auf meine Wunden setzte, waren mir so viel mehr wert als jeder Pokal, jede Anerkennung.

Ich merke, wie ich schluchzend am Schrank lehne und mich der Erinnerung an ihn hingebe. Es reicht, ich darf mich nicht hängen lassen, ich muss ihn wieder finden. Mein Leben in Ordnung bringen, die Leiche dieser Frau beseitigen, selbst wenn ich mir dabei die Hände schmutzig mache. Der Gedanke an Erik lässt mich die Augen schmerzhaft zusammen kneifen, doch ich weiß, dass er nicht zu meiner Welt gehört. Es tut mir leid, Erik.

Mit knirschenden Zähnen reiße ich die Fotos von der Wand, Bilder des Mannes ohne Gesicht. Nur er ist drauf zu sehen, teilweise sind die Fotografien zerschnitten, um andere Personen zu entfernen. Auf jedem einzelnen Bild hat diese verfluchte Hexe ihre Zigarette ausgedrückt. Welch unglaubliche Mühe! Was für ein Aufwand! Warum hat sie ihm nicht gleich heißes Öl ins Gesicht gegossen, wenn sie ihn so hasste? Diese Rachsucht überwältigt mich. Ich kann das nicht getan haben. Das war ich nicht. Das bin ich nicht! Hört doch, ihr Lästermäuler, ihr Parzen, ihr habt eure Fäden vernachlässigt! Mit wem habt ihr mich verwechselt? Was habt ihr euch da zusammen gesponnen, ihr elenden Weiber?
Ich weiß nicht mehr, wie er aussah.
Am Liebsten möchte ich zusammenbrechen, doch das verbiete ich mir. Ich habe bereits genug Schwäche gezeigt. Die Rückseiten der Fotos sind bis auf einige Wenige leer oder durch den Brandfleck unkenntlich gemacht. „Shimonoseki, 23.05.“, steht auf einem der Bilder, „sie Kraniche wären“ auf einem anderen. Schließlich „wieder gewinnen, ich“ und „Lida“, darunter eine Telefonnummer. Ich erinnere mich – Lida war meine Trainerin. Ihr Bild habe ich noch vage im Kopf – eine starke, gefasste Frau, für die ein Kampf keineswegs einen Spielcharakter besaß. Sie lehrte mich Respekt vor der eigenen Kraft und stellte sich meiner Selbstaufgabe in den Weg. „Mit Feuer spielen nur Kinder“, zischte sie immer, während sie nach unseren Siegen meine Wunden nähte. „Nicht nur, dass du dich jedes Mal so unnötig zurichten lässt, nein, du schenkst dem Gegner auch noch unverdiente Punkte!“ Ich jedoch war nie der Meinung, es wäre unnötig. Ich entrichtete meinen Tribut an diesen brutalen Spaß, zahlte meinen Einsatz – zumal ich nur gegen stärkere, erfahrenere Kämpferinnen anzutreten bereit war. Um diese zu schlagen, musste ich opfern, also opferte ich. Das Leben hat das schon immer zu schätzen gewusst.
Ich werde sie anrufen. Ich durchsuche noch die restlichen Ordner, dann rufe ich sie an.

***


Ganz hinten auf dem Schrank hat er gelegen. Mit Jahrhundertestaub überzogen, eingewebt zwischen Spinnweben, ein stiller Kokon in einer Zeitmulde, der geschlafen und gehofft hatte, eines Tages entdeckt zu werden. Ich lege ihn behutsam vor mir auf den Boden und wische ihn mit der Hand sauber. Eine schwarze Schachtel mit rotem Rand kommt zum Vorschein; darin habe ich meine ersten Boxhandschuhe gekauft. Ich hatte mehrere Monate lang ohne Handschutz auf Boxbirnen und Säcke eingehämmert, was mir geschundene Hände und eine dicke Schicht Hornhaut auf den Knöcheln bescherte. Auch nach der Anschaffung trainierte ich meine Fäuste auf diese Weise, um sie abzuhärten. Jetzt ist die Haut auf meinen Händen dünn und schlaff, wie die einer verwöhnten, vierzigjährigen Frau. Ich habe alles verloren, was ich mir aufgebaut hatte. Ich habe mich verloren.
Der Schluchzer, der, aus Selbstmitleid geboren, seine Mächtigkeit in der Endgültigkeit meiner Lage gewinnt, wird mit einem innerlichen Fußtritt zurück in seine Mutter befördert, und ich nehme angespannt den Deckel von der Schachtel. Ein kleiner Stapel Papier kommt zum Vorschein, wie eine Handvoll nackter, schlafender Kinder liegen die Zettel da und rühren sich nicht. Sie scheinen peinlich berührt von meinem plötzlichen Eindringen in ihre bis heute homogene Atmosphäre, und meine Finger knacksen entschuldigend, als ich sie unter den Stapel schiebe und diesen heraushebe. Zwischen zwei Blättern kommt eine schwarze Spinne hervor gekrabbelt, läuft gleich einem wütenden Weltenwächter, über dessen Nutzlosigkeit sich meine Überlegenheit so dreist mokiert, meinen Ärmel entlang und seilt sich von meinem Ellbogen ab, um letztendlich unter dem Schrank zu verschwinden. Ich platziere die Zettel vor mir und drehe einen nach dem anderen um.

„Ich siege“
„Ich gewinne“
„Ich besiege sie!“
„Ich gewinne“
„Ich bin stärker“

Ich sitze da und ritze die Worte in das Papier, Worte, die meinen Geist aufputschen sollen. Ich war schon immer abhängig von Worten, ich muss sie niederschreiben, um an sie zu glauben.

„Ich gewinne heute! Ich mache sie fertig! Niemand wird mich aufhalten! Auf ihren Schlag kommt mein Gegenschlag, ich schlage sie k.o., ich fege sie aus dem Ring, ich bin stark!“

Ich sage sie vor und schreibe sie auf, ich bete sie herunter, präge sie in meinen Geist, schlage sie an meine Schädeldecke. Ich gewinne! Mein Geliebter steht hinter mir und streichelt meinen Nacken. „Du kannst gar nicht anders, als zu gewinnen, meine kleine Kämpferin“, sagt er und drückt mir einen Kuss auf den Hinterkopf. „Ja, ich kann nicht anders“, zische ich, „ich kann einfach nicht anders. Das ist so eine verdammte Sucht, und weißt du was? Es sind nicht nur meine Schläge, auf die ich aus bin. Ich will auch ihre Schläge. Ich will sie auf mir spüren, Tritte abfedern, den Schmerz absorbieren, und nach jedem Kampf das Blut von mir waschen – ihr Blut und mein Blut. Ich kann dir das nicht erklären, ich …“ – „Ich verstehe was du sagen willst. Ich verstehe dich.“ Er greift nach meiner Hand und ich kralle mich in seinen Unterarm, ziehe ihn zu mir herunter und küsse sein Kinn. „Macht über sich zu haben ist so …“ – „Ja – herrlich.“


Deine Augen, wenn sie Kraniche wären, welche Meere könnten sie bezwingen?
Meine Küsse, wenn sie Kraniche wären, sie würden dich über die Berge ziehen.
Tausend Kraniche für tausend Jahre, tausend Leben für dich und mich, nur dich und mich, ein Federkleid im Distelbett. Das Leben ist ein blutiges Spiel, die Haut aufgerissen, doch ihre Schnäbel bringen Wasser. Die Liebe ist ein blutiges Spiel, das Federkleid ganz zerrissen, doch ihre Flügel, ihre großartigen, weißen Flügel fächern uns Atem zu. Wir sind frei, du, und ich, und du, und wir, wir beide, tausend Jahre voller ziehender Kraniche.
Wir beide, für tausend Leben, nur wir.
Nur wir.
Du und ich.


Er hat es nicht gemocht, als ich dieses eine Mal über ihn schrieb. Tu' es nicht, bat er, wollten wir nicht frei sein? Du ziehst uns Grenzen, schöne Grenzen zwar, aber reicht dir nicht der Moment, den wir zusammen atmen? Bitte, tu' es nicht.
Wer bin ich, warf ich ihm entgegen, wenn ich mich nicht schaffe?
Glaube doch meinen Worten, flehte er, glaube mir. Ich werde dich aus dem Feuer tragen, du musst es dafür nicht aufschreiben, bitte schreib mich nicht auf. Bitte lass uns frei sein.
Aber ich kann das Leben nicht dem Schicksal überlassen, verstehst du? Ich habe Angst vor dem Schicksal. Schicksal ist immer ein Trauerspiel …
Dann glaube nicht an das Schicksal! Und versprich mir, uns nicht mehr zu schreiben. Tu' es für mich!

Ich tat es für ihn.
Ich glaube nicht an das Schicksal. Ich glaube an mich. Doch das „wir“ beherrscht meinen Geist, wie an jenem Tag, als ich es niederschrieb.



***


Es sind Worte, die mich beherrschen. Worte, die mir zu meinen Siegen verholfen haben. Zu allen Siegen. Habe ich jemals verloren?
Ich sitze inmitten zerstreuter Zettel wie auf einem abgeworfenen Federkleid und greife nach den Gedanken, die um mich herum tollen. Worte und Siege. Mein Geliebter, der Angst davor hatte, von mir aufgeschrieben und auf Papier fixiert zu werden. Es ist doch nur Papier, nicht wahr? Es ist doch nur eine Glaubensstütze? Kraniche, das Wir, das Schicksal. Ich habe aufgehört, an das Schicksal zu glauben, und die Parzen-Weiber haben meinen Faden zerschnitten. Er ist in meine Hände gefallen, ich habe ihn selbst weitergestrickt. Aber ich habe das ungute Gefühl, als hätten sie doch etwas von mir behalten. Einen kleinen Strang wollten sie nicht hergeben, diese Kontrollsüchtigen. Verdammt, ich denke zu abstrakt. Ihr Parzen könnt mich alle mal! Warum hatte mein Geliebter bloß solche Angst vor meinen Worten?

Mich hält nichts mehr – ich greife zum Telefonhörer und wähle Lidas Nummer. Wie wird sie reagieren? Kennt sie mich überhaupt noch? Will sie mit mir reden?
Lebt sie?
Ich lasse es lange klingeln, doch niemand hebt ab. Was kann ich ihr sagen, wenn ich sie erreiche? Dass ich mich an nichts erinnern kann? Dass ich die Zeit damals vermisse? Dass ich wieder kämpfen will, selbst wenn ich dabei zerbrochen und zertrampelt werde, selbst wenn sich meine Gegnerin kaum noch vor Lachen halten kann, wenn sie diesen Zombie vor sich stehen sieht, der sie mit irrem Blick herausfordert? Meine Augen wandern unwillkürlich zur Schranktür. Ich möchte sie zurückhalten, und gleichzeitig muss ich hinter das Glas sehen, muss dem Weib auf der anderen Seite begegnen. Ich lasse die Augen tanzen, vom Boden zur Decke, von der Decke zur Wand. Schließlich nehme ich mich zusammen und lasse das Bild aus dem Spiegel in meine Iris Einzug finden.

Hexe.

Das Klirren ist ohrenbetäubend, winzige Scherben rieseln wie Hagelkörner auf das Parkett. Ein Schrei hängt mir in den Ohren, vermutlich meiner. Und ein anderer Schrei durchdringt meine Paralyse und bringt mich wieder zu Bewusstsein.
„Hey! Was ist los?“
Sie hat abgehoben.
„Lida? Tut mir leid, ich habe gerade meinen Spiegel mit einem Parfumfläschchen zerlegt.“
„War es teuer?“
„Was? Keine Ahnung …“
Sie kennt mich noch.
„Spiegel zerfetzen, ja, das möchte ich auch manchmal. Aber wahrscheinlich nicht aus denselben Gründen wie du. Wo zum Teufel hast du gesteckt?“
Ich zögere kurz und genieße das Gefühl der Erleichterung, das sich in meinem Körper ausbreitet. Sie hat mich nicht vergessen! Sie ist real! Das heißt, mein Leben ist real. Ich bin ich.
„Wie lange haben wir uns nicht mehr gesprochen, Lida?“
„Wenn’s nach meiner Erinnerung geht, dann gut an die zwölf, dreizehn Jahre.“
„Und du weißt noch, wer ich bin…“
„Ich kenn' nicht viele, die mit Dingen um sich werfen, wenn sie wütend sind. Außerdem hab ich dieses Telefon nur noch wegen dir, Kleines. Du bist einfach verschwunden, und ich hab’s dir auch nicht übel genommen, aber ich habe trotzdem nie aufgehört zu hoffen, dass du eines Tages wieder diese Nummer wählst oder einfach vor dem Ring stehst.“
„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“
„Naja, du hattest sicher deine Gründe… Hast du dich von ihnen erholt?“
„Ich weiß es noch nicht. Aber ich hätte nicht einfach abhauen dürfen, das war echt dumm von mir.“
„War ja auch nicht so, als hättest du mich sitzen lassen. Nein, ich hatte bis zu jenem Tag schon so gut an dir verdient, traumhaft gut! Keiner meiner späteren Schüler hat diese Planke jemals übersprungen.“
Das ist typisch Lida, sie hat sich kein bisschen verändert. Die Fakten zuerst, das habe ich schon immer an ihr gemocht. Ein schiefes Lächeln schleicht sich in mein Gesicht und ich nehme einen tiefen Atemzug.
„Hey, du bist die größte Trainerin, die die Welt gesehen hat, was sind denn deine Schüler für Idioten?“
„Sie sind keine Idioten. Sie haben einfach einen gut ausgeprägten Selbsterhaltungsdrang, weißt du.“
Ihre Stimme ist leicht bitter, als sie das sagt. Sie hat mich nicht aufgegeben.
„Lida, ich weiß, ich habe oft über die Stränge geschlagen und dir unnötige Scherereien verschafft. Aber ich habe nie jemanden enttäuscht – weder die Fans, noch die Gegner, noch dich, noch mich selbst. Nicht wahr?“
„Ja, du verdammter Tornado bist durch die Meisterschaften gefegt und hast einen Pokal nach dem anderen eingesammelt. Und wolltest dir nicht einmal die Mühe machen, Interviews zu geben und an Pressekonferenzen teilzunehmen, hast das alles auf deine Trainerin geschoben und dich sonst wohin verdrückt.“
„Ich war in der Umkleidekabine und habe …“
„… gevögelt, schon gut, keine Details.“
Ich muss lachen. Es erklingt ungezwungen und leicht, mein Gott, ist das herrlich, wieder zu lachen. Ich fühle mich neugeboren und gleichzeitig zu Hause, als wäre ich von einer langen Reise zurückgekehrt, als wäre ich nach einem Albtraum schweißgebadet aufgewacht und hätte erleichtert festgestellt, dass alles nur ein Traum war und mein Leben aus Honig und Sonnenschein bestand.
„Lida, wir hatten so tolle Zeiten damals …“
„Deshalb war es mir so schwer gefallen, dein Verschwinden zu verstehen. Natürlich habe ich etwas geahnt, und vermutlich lag ich mit der Ahnung sogar richtig. Nur habe ich dich nicht darauf angesprochen, es war deine Sache. Verdammt, ich hab’s bereut. Ich dachte später, ich hätte handeln müssen, denn wenn sich meine Ahnung als richtig erwiesen hätte, dann wäre ich heute allen Göttern dankbar, wenn ich dich dummes Ding zurechtgewiesen hätte.“
Ich sauge jedes ihrer Worte ein, hänge an ihnen gierig wie ein Kind an der Milchbrust seiner Mutter. Ahnung, sagt sie? Reue? Meine Sache?
„Ach, du hast immer von Macht über sich selbst gesprochen, und in deinen Händen lag tatsächlich eine gigantische Macht, verdammt, Mädchen, die haben dich sogar auf Drogen prüfen lassen, diese Schwachköpfe. Du hast ihnen was von der aufputschenden Wirkung von Sperma erzählt und ich lachte mir meinen Arsch ab, als sie dich mit ihren Mündern sperrangelweit offen anstarrten …“
„Dass du das alles noch weißt … Lida, ich kann dir gar nicht sagen, wie -“
„Wie viele Jahre haben wir zusammen verbracht, na? Wie viele? Ich hatte keine Kontrolle über deine Kraft, aber ich vertraute dir. Du warst unglaublich. Du hast mich in diesen verschwitzten, verfluchten Hallen leben lassen.“
Mit Mühe unterdrücke ich ein Schniefen und wische mit dem Handrücken eine Träne aus dem Gesicht.
„Aber ich habe meinen Spiegel zerschlagen, Lida. Ich bin ein Monster.“
„Hey, immerhin hast du ihn zerschlagen. Du hast es also verarbeitet?“
„Eigentlich wollte ich von dir hören, was ich die letzten dreizehn Jahre lang verdauen musste. Ich habe es heute Morgen erbrochen und konnte den Inhalt nicht wirklich zuordnen.“
„Du weißt es nicht mehr? Du weißt nicht, was passiert ist?“
„Nein, ich habe nicht den leisesten Schimmer, zum Teufel noch mal! Ich wache auf und bin auf einmal eine Missgeburt mit fettem Arsch und hängender Brust, keine Muskeln, keine Narben, Farbe in der Fratze und einem Kerl namens Erik an der Leine, und ich weiß nicht wie ich mir das eingebrockt habe! Als ich diesen Erik kennen lernte, war ich eine Nutte, kannst du dir das vorstellen?“
„Nun mach mal halblang, Kleines. Bis auf den Kerl und die Narben hast du nämlich eine perfekte Beschreibung von mir geliefert, also tu mir den Gefallen und streich das Missgeburt da raus. Und eine Nutte warst du nie, das kann ich dir mit Sicherheit sagen. Wenn der Typ gut ist, schick ihn ruhig ´rüber.“
Ich liebe diese Frau. Ich liebe ihren Humor. Mein Adrenalin war immer für meinen Geliebten gewesen, doch die Seele meines Kampfes hatte allein ihr gehört.
„Lida, tut mir leid, aber ich bin heute völlig verzweifelt. Ich habe gerade dreizehn Jahre meines Lebens das Klo runter gehen sehen, und ich will wissen, wo genau sie hingegangen sind. Bitte sag mir, was du geahnt hast. Was ich bei meinem letzten Kampf angerichtet habe. Bitte!“
Sag mir, warum ich es tat. Warum ich den Ring verließ und mich in dieses Gefängnis aus weißem, weichem Fleisch sperrte.
„Wenn du dich nicht erinnerst, hast du es nicht umsonst vergessen. Dann werde ich es dir auch nicht auf die Nase binden. Du musst es selbst herausfinden. Was deinen letzten Kampf angeht, nun ja, was soll ich sagen – er war purer Irrsinn. Dein größter Sieg, und deine größte Selbstaufgabe. Das Publikum war durchgehend von einer Ekstase ergriffen, wie ich sie noch nie im Ring erlebt hatte. Und dann warst du von der Bildfläche verschwunden, sie dachten, du wärst müde geworden. Das war für alle plausibel genug, um dich nach einigen öffentlichen Diskussionen und Schreiorgien endgültig zu den Akten zu legen. Du warst zu unberechenbar und eigensinnig, sie hätten auch nach ewigem Graben nichts ans Tageslicht befördern können. Somit ließen sie dich sein, und ich … nun ja, das Leben geht weiter, nicht?“
„Ja, das Leben ging weiter, aber ohne mich. Ich habe damals aufgehört, zu existieren … und ich weiß noch immer nicht, weshalb.“
„Ach ja, weißt du wenigstens noch, dass er ihr Bruder ist? Erik, meine ich.“
„Wessen Bruder?“
„Also doch nicht. Der Bruder deiner damaligen Gegnerin. Dann will ich dir auch nicht mehr sagen, tut mir leid. Ich versteh’s ja selbst nicht ganz. Finde es heraus. Und wenn du willst, kannst du jederzeit in die Halle kommen – ich würde dich nur zu gern wieder sehen.“
„Lida -“
Sie hat aufgelegt. Der Hörer, der gerade noch gesprochen und gelebt hat, liegt nun kalt und tot in meiner zitternden Hand. Der Pfeifton aus dem Telefon deckt sich ganz genau mit dem hohen, unnachgiebigen Piepsen in meinem Ohr.


II.


Nachdem ich das Telefon vorhin aus der Hand gelegt hatte, habe ich mir eine Schere gekrallt und den blondierten Teppichfransen, die mein Gesicht säumten, den Garaus gemacht; schließlich die schwarze Schachtel zusammen mit meinen alten Klamotten in einen Rucksack gesteckt und neben der Eingangstür abgestellt. Nun sitze ich nackt auf einem Hocker im Bad und frage mich, warum diese Frau keine Wanne hat, während ein kleiner Zettel zwischen meinen Fingern hin und her wandert. Ich entdeckte ihn auf dem Boden, als ich den Deckel auf die Schachtel setzte – vermutlich war er bei meiner Inspektion entkommen und hatte versucht, sich unsichtbar zu machen. Jetzt liegt er entblößt vor mir und kann sich nicht mehr heraus winden, muss mir Rede und Antwort stehen.

Doch natürlich bleibt er stumm. Lediglich einige Worte, in meiner Schrift, prangen auf seiner Oberfläche und treiben mir kalten Schweiß aus allen Poren.

„Wer richtet den Henker hin?
Erst die Rache, dann das Verbrechen
Henker bestrafen sich selbst“

Ein Fliegenschwarm schwirrt in meinem Kopf, Aasfliegen über dem Kadaver meines Lebens. Ich frage mich, weshalb ich noch nicht gestorben bin, doch vermutlich gehört dies zu der Strafe, die ich über mich selbst verhängt habe. Eine Obduktion wartet auf ihre Durchführung, und der Arzt muss nüchtern sein – vollkommen nüchtern. Nach dreizehn Jahren Schlaf bin ich das durchaus, ich werde meine Pflicht erfüllen, einen anderen Zweck hat meine Existenz nicht. Ich verscheuche die lästigen Fliegen und beginne damit, das Stadium der Verwesung zu bestimmen.

Als Henker war ich grausam, das muss ich mir lassen. Nicht nur dass ich meine Narbe habe nähen lassen und das Kämpfen aufgab, nein, ich habe auch noch meinen Geliebten ausgelöscht und mich selbst verstümmelt, meine Lust beschnitten. Mein Körper ist ein halb verbrannter Holzscheit, die Lunge und der Unterleib durchsetzt mit Ruß und Rauch, die Glieder und Sehnen brüchig und ungelenkig. Ein Tunnel im Straßenverkehr hat mit Sicherheit mehr Spaß an einem Stau, als dieser Körper an Eriks leidenschaftlichen Stößen gehabt hat. Ich lache verächtlich auf, als ich mir vorstelle, wie das welke Fleisch hinter der gepuderten und geschminkten Maske der Prüderie bei einem Psychiater auf der Couch sitzt und seine verkümmerte Libido aus- und wegdiskutieren lässt. Der besagte Herr Doktor hat sein Zimmer natürlich mit Bildern geschmückt – allesamt anzügliche Motive, welche die Fantasie der Patientin anstacheln und hervor locken sollen, doch diese hält sich bloß ihr Taschentuch an den Mund und schüttelt den Kopf. Klimt mag sie nicht, Schiele versteht sie nicht, Royo berührt sie nicht. „Verzeihen Sie sich doch endlich“, sagt der Psychiater, und: „Was berührt Sie denn?“ „Henker verzeihen nicht“, antwortet diese, und: „Berühren Sie mich doch.“ Er berührt sie und erfüllt seine ärztliche Pflicht, und sie spürt nichts – wie erwartet.
Lida meinte, ich habe mich nie verkauft. Doch was für ein Spiel habe ich dann mit dem Bruder meiner ehemaligen Gegnerin getrieben? Wenn ich dieses rote Kleid mit der Funktion, zerrissen zu werden, in die Hände nehmen, seinen Geruch einatmen könnte, würde sich die Vergangenheit womöglich ködern lassen, doch warum sollte es jemand aufgehoben haben?
Es ist eine groteske Vorstellung – ich schlafe mit einem Mann, dessen Schwester ich zusammengeschlagen habe. Vermutlich tue ich es nur aus diesem einen Grund – nein, tat sie es, die Frau, die ihn gestern Abend anrief, die mir die Krumen streute, bevor sie sich aufschlitzte und ihre stinkenden Überreste der Nachwelt überließ.
Sie hat einen Grund gehabt, dessen bin ich mir sicher. Einen Grund, der die Ruchlosigkeit dieser Entscheidung rechtfertigte. Dass sie ihn geliebt hat, ist ausgeschlossen – sie hat nur mich geliebt, mich, ihr altes Ich. Sie hat mich gehegt und schlafen lassen, hat gehofft, mit ihrem Tod auch ihren Fehler aus meinem Leben zu tilgen – wie selbstlos. Nur den Mann, den ich liebte, hat sie mir nicht gelassen. Glaubte sie, er sei nicht gut für mich?
Was glaubte sie eigentlich, diese Hexe? Was glaubte sie, wer sie war?
Verdammt. Ich will ein heißes Bad, will meine Glieder ausstrecken und für ein paar Momente schwerelos sein, die Augen schließen und schweben, meine Gedanken im Schaum lösen, doch alles, was mir diese Wohnung bietet, ist eine enge, blau geflieste Duschkabine. Der Zettel in meinen Händen knittert unter der Last meiner an ihn gestellten, nicht ausgesprochenen Fragen, und ich beschließe, ihn vorerst weg zu stecken, bevor ich ihn endgültig zu Tode quäle. Über dem Waschbecken hängt ein Badschränkchen, dessen hauptsächlicher Inhalt sich für mich als unbrauchbar herausstellt, bis ich die kleine Box hinter einem Seifenbehälter entdecke – neue, nicht ausgepackte Rasierblättchen.
Kalt und glänzend liegen sie in meiner Hand, mein Kopf spielt die Szene ab, die unmittelbar bevorsteht. Ich schlitze die Narbe wieder auf, zwinge mich in meinen alten Zustand zurück, erinnere mich an den Tag, an dem ich zum letzten Mal blutete. Vielleicht kommt zusammen mit meinem Blut etwas Wichtiges, Essentielles zum Vorschein. Auf einmal muss ich an Erik denken – weiß er überhaupt, wer ich war? Hat er mich als Kickboxerin kennen gelernt oder als überschminkte, labile Puppe? Was wird passieren, wenn er diese Narbe entdeckt, pulsierend und blutend, von meinem früheren Leben schreiend?
Warum – und das scheint mir noch wichtiger zu sein als die Fragen davor – sollte es mich kümmern, was jener Mann darüber denkt? Wie er reagieren wird? Er ist niemand, er ist nicht mein Leben, unwichtig, nur eine Variable – während ich mich an diesen Gedanken klammere, setze ich eine der Klingen an die Narbe. Mein Atem beschleunigt sich, die Handflächen sind nass. Das wird wehtun, das wird gleich sehr, sehr wehtun. Ich schließe die Augen, beiße die Zähne aufeinander und ziehe durch.

Waschbecken, Boden, Wände sind blutbesprenkelt, der Geruch von Desinfektionsmittel beherrscht den kleinen Raum, in meiner linken Handfläche bildet sich ein dunkelroter See und rinnt über den Rand. Ich hatte die Rasierklingen in der linken Hand vergessen, als ich sie vor Schmerzen zu einer Faust ballte. Gegen die Ohnmacht kämpfend heiße ich den Schmerz willkommen und versuche, mit der Körperreaktion einen psychischen Zustand zu verbinden, Erinnerungen hervor zu zerren und einen Blick hinter den Vorhang zu erhaschen. Doch alles, was ich fühle, ist flacher, schneidender Schmerz der Gegenwart. Ich liege halb bewusstlos auf dem kalten Fliesenboden im Bad und warte darauf, dass das Blut aufhört zu strömen.

Als ich wieder die Augen öffne, stelle ich fest, dass völlige Kälte sich in mir ausgebreitet, von mir Besitz ergriffen hat. Meine Fingerspitzen sind taub, der Hals schmerzt und in meinem Schädel ist ein Stein platziert worden, um mich schneller auf den Grund des Styx sinken zu lassen. Alles glaubt, ich sei tot, nur mein Geist will das noch nicht wahrhaben. Er lässt mich meinen Körper aufrichten und einen Blick auf die Wanduhr werfen. Die Zeiger schwimmen irgendwo zwischen vier und fünf, ich bin anscheinend lange weg gewesen. Während ich den Stein vorsichtig von einer Seite auf die andere rolle und mich auf rappele, entdecke ich Bilder aus meinem Traum an mein Bewusstsein projiziert – eine Welt aus Blut, ein blutiger Himmel, blutige Straßen, blutiger, dunkelroter Regen. Taumelnd schließe ich die Glastür der Duschkabine hinter mir und drehe heißes Wasser auf, doch der Strahl spült lediglich das trockene Blut von meinem Körper – nicht aber den tiefroten Ton aus meinem Geist. Die Dusche verwandelt sich in einen Plastikbeutel, luftlos geschnürt und mit Blut angefüllt, und ich hänge darin strampelnd und nackt, ein junges Mädchen, ein kleines Kind, die eigenen Hände um den Hals gelegt und bereit, zuzudrücken. Der Mund lässt sich nicht öffnen, ohne Luft lassen sich keine Schreie ausstoßen, ich bin ein Häufchen Knochen und Muskeln und Haut, gemäß einem DNA-Code gewachsen, doch stümperhaft aneinander genäht, nicht lebensfähig, kein Mensch, niemals bin ich ein Mensch. Weshalb klammere ich mich dann so sehr an das Leben? Warum überlasse ich es nicht denen, die ein Recht darauf haben? Was suche ich noch hier?
Ich verlasse die Dusche, überschreite die Pfützen und reibe mich mit einem Handtuch wach und trocken. Mein Bad gibt dank den auf dem Boden verstreuten Alkoholfläschchen, Rasierklingen und durchtränkten Wattebäuschen ein skurriles Bild ab, und ich überlasse es vorerst sich selbst. In ein paar Stunden kommt Erik, um mich abzuholen, und bis dahin will ich mir ein paar Tassen Tee gönnen, wenn ich hier irgendwo einen auftreiben kann.


***


Als ich in Eriks Cabrio sitze und den Wind meinen von Müdigkeit und Stress erhitzten Körper abkühlen lasse, fasse ich neuen Lebensmut. Ist es nicht völlig egal, was passiert ist? Wer ich vorher war, was ich getan habe? Ich bin neugeboren, ich bin jetzt auf der Welt, habe ich da nicht auch das Recht, zu leben? Glücklich zu sein? Den Verband um meine Hand habe ich Erik mit einem zerbrochenen Glas erklärt, und seine von Fürsorge durchtränkte Reaktion lässt mich vermuten, dass er nicht weiß, wer oder was ich vor dreizehn Jahren gewesen bin. Mal sehen, wie lange ich dieses Spiel durchhalten kann. Wir werden sehen.

Bei ihm zu Hause fühle ich mich wie eine Königin – er legt Musik auf, kocht für mich, zaubert Geschichten und bringt mich zum Lachen. Fast bin ich gewillt, mich zu vergessen und ein neues Leben ein zu läuten. Es wäre erholsam, so erholsam. Vielleicht ist ja gar nichts passiert, vielleicht habe ich damals einen schönen Abgang geplant und den Bogen etwas überspannt, habe mir mehr Schmerzen zufügen lassen, als ich habe weg stecken können. Und dann wollte ich eine Pause, wollte meine Ruhe, etwas Neues womöglich. Warum denn auch nicht?
Ich lächele, wenn Erik mir ein Kompliment macht, und ich lobe in überschwänglichen Worten sein köstliches Essen. Ich tanze mit ihm zu Santana, sitze unter leuchtendem Milchstraßenhimmel auf seinem Schoß auf der Veranda und trinke Kaffee. Ich schlafe auf dem Teppich ein, seinen Arm als Kopfkissen, und vergesse den Mann, der sich nie in die Nähe eines Herdes gewagt hat, der lieber vögelte, als zu tanzen, für den ich nicht Königin, sondern Eigentum war, und dessen schwerer Arm auf meiner Brust mir in so vielen Nächten das Atmen unmöglich gemacht hat. Als meine Lider müde werden und zufallen, bin ich bereits überzeugt davon, jenen Mann zu Recht ausgebrannt zu haben. Mit einer tiefen Wut auf ihn schlafe ich ein – und beginne zu träumen.

Ich träume von einer lächerlichen, jämmerlichen Frau, die auf einer Salami herum kaut und von Meditationskassetten zugeschüttet wird. Ich träume von ihrer hängenden Gesichtshaut und ihren schwarzen, leeren Augenhöhlen, aus denen rußiger Qualm strömt. Sie streckt ihren Arm aus und packt mich am Kragen, ihre Nägel splittern und das Gelenk des Ellbogens springt entzwei. Als sie ihren Mund öffnet, um mich anzuklagen oder um etwas zu bitten, fließt ein Gemisch von Kaffee und Blut heraus, beschmutzt ihre Bluse und lässt sie beschämt an sich herab blicken. Sie verschränkt ihre trockenen, kaputten Arme vor der Brust, öffnet abermals ihren dünnen Mund und eine weitere Woge Flüssigkeit schwappt hinter ihren Zähnen hervor. Schmutzig-graues Wasser tritt aus den Augenhöhlen, Tränen womöglich, sie sinkt auf die Knie, versucht, den blutigen Kaffee mit einem Tuch vom Boden zu wischen, doch es wird immer mehr, strömt unter meine Schuhe und lässt mich einen Schritt zurückgehen. Wenn ich dieses abscheuliche Geschöpf anblicke, möchte ich mich übergeben, doch als ich meinerseits den Mund öffne, merke ich, dass um mich herum keine Luft ist, sondern nur das Vakuum eines Plastikbeutels. Die Frau zeigt mit dem Finger auf mich und schüttelt den Kopf, und ich werde von dem Vakuum zerdrückt, meine Knochen splittern, die Organe platzen eines nach dem anderen. Bevor meine Augäpfel zerquetscht werden, blicke ich auf meine Finger, sie sind winzig und weiß, wie kleine Maden.

Dann sehe ich die Frau am Tisch sitzen und Zigaretten auf Fotos drücken, wie Stempel. Dieses Mal sieht sie mir sogar ähnlich. Ihre gesamte Wut scheint in die Brandflecke zu fließen, so konzentriert geht sie dabei vor, und ich möchte ihr dafür die Nase brechen.
Sie steht auf und schlägt mit geballter Faust gegen die Wand, schlägt noch einmal und noch einmal, bis blutverschmierter Putz zu bröckeln beginnt. Ich sehe, wie sie mit einem langen Messer ihren Boxsack zerfetzt, wie sie stundenlang in der Dusche sitzt und kaltes Wasser auf sich herab rieseln lässt. Ich sehe, wie sie sich mit Alkohol zu betäuben versucht, aber ein Blick in ihre halb geschlossenen, zitternden Augen verrät mir, dass ihre Gedanken, dass ihre Dämonen nicht mit Kälte und nicht mit Alkohol betäubt werden können.
Ihre Augen erzählen mir, dass sie seinen schweren Arm auf ihrer Brust geliebt hat. Ihre Augen erzählen mir, dass sie sich gern als sein Eigentum sah, weil er ihr Eigentum war. Ihre Augen malen eine Frage an die Wand: „Wer richtet den Henker hin?“, und blicken klagend in meine Richtung. Du, sagen sie, bist keine Königin. Hast du nicht gesehen, in was wir uns verwandelt haben? Willst du dich wieder verwandeln?
Mag sein, dass du willst. Aber du darfst nicht. Du bist hier, um bestraft zu werden. Als wir dich verurteilten, haben wir dich für unzurechnungsfähig befunden. Wir haben dich in die Ausnüchterungszelle gesteckt. Wir haben dich schlafen lassen. Jetzt bist du wieder hier, jetzt muss das Urteil vollstreckt werden.
Hörst du?
Hörst du das?

Der Henker bestraft sich selbst!

Der Mann mit verbranntem Gesicht reißt mir das rote Kleid vom Körper, stößt mich gegen einen Tisch, sein Gewicht erdrückt mich, er ist stärker als ich, er ist stärker als mein Wille, mich zu wehren, und als ich die Hände gegen seine Brust stemme, schlägt er sie weg und vergewaltigt mich.




***


Schweißgebadet schrecke ich hoch, mein Herz pocht in den Ohren, ich zittere am ganzen Körper. Die Welt liegt in Trümmern, die Nacht keucht mir tausend Tode entgegen, der Teppich unter meinen Handflächen kriecht und zischt, und ich kann die hervorbrechenden Tränen nicht zurückhalten. „Erik, hat er … Erik! Hat er mich …“
Er ist wach, seine Augen schimmern noch schlaftrunken im Kerzenlicht. Er legt beruhigend seinen Arm um meine Schultern und drückt mich an sich. „Was hast du geträumt, Liebes? Es ist alles gut, es war nur ein Traum …“ „Du musst es mir sagen, sonst sterbe ich, hörst du? Du musst es mir sagen, verdammt! Hat er mich vergewaltigt? Der Mann, den ich liebte, was hat er getan?“
Eriks Griff wird fester, er atmet hörbar Luft ein und hält seine Hand an meine Wange. Auf einmal fügt sich alles zusammen, alles macht Sinn. Er hat es zu weit getrieben, hat meinen Stolz verletzt, woraufhin ich ihn verließ und bei Erik Trost fand. So muss es gewesen sein, selbst wenn es mir noch etwas zu einfach erscheint. Hätte er mich tatsächlich dermaßen verletzen können? Hätte solch ein Ereignis mich so verwandeln können?
Und warum bestraft sich ein Henker selbst?

Eriks Hand liegt auf meinem Gesicht, seine Umarmung fühlt sich verzweifelt an, fast schon um Verzeihung flehend. „Es tut mir leid … es tut mir so leid! Ich hätte es wissen müssen, ich hätte es nie zulassen dürfen, es tut mir so leid …“
Ich löse mich von Erik und blicke ihm in die Augen. „Was tut dir Leid? Was hättest du …“
Er schüttelt den Kopf, erhebt sich und legt die Hand an die Stirn. Wo sind deine schwarzen Locken von damals, junger Mann, wo ist dein Feuer? Womit hast du mich trösten können?
„Warum willst du es von mir hören? Was ist denn auf einmal mit dir los? Ich habe dir schon vor langer Zeit verziehen, warum kannst du es nicht auch tun?“
All meine Versuche, zu verstehen, die Teile in das Gesamtbild zu fügen, scheitern.
„Was hast du mir verziehen, Erik? Was habe ich dir angetan?“
„Ich war es doch, verflucht, ich habe dich vergewaltigt.“

Meine Seele befindet sich kurz vor ihrem Zusammenbruch. Absurder hätte ich mir dieses Erwachen nicht vorstellen können, aber anscheinend hat die Hexe Leichen hinterlassen, die selbst der nüchternste Arzt nicht zu sezieren bereit ist. Es war also Erik. Seine schwarzen Locken, seine Hand, seine glatte Oberlippe. Seine Vergewaltigung.
„Warum?“
Eriks Mund ist verzerrt, seine geröteten Augen füllen sich mit Tränen. „Weil du es wolltest“, stößt er zwischen seinen Zähnen hervor, „weil du mich darum gebeten hast.“

Allmählich beginnt mein Geist, von den Ufern des gesunden Verstandes abzudriften. Wie kann ich um so etwas gebeten haben? Wie konnte er dem zustimmen? Was ist mit mir geschehen, wofür habe ich mich bestraft? Was habe ich über die Jahre so sorgfältig vergraben und vergessen? Ich sehe Erik an, ohne ein Wort zu sagen. Ich möchte, dass er es mir erzählt. Es muss erzählt werden. Etwas, das ich glauben kann. Woran ich mich halten kann. Ich muss mich verstehen, meine Handlung nachvollziehen können, mir meine Identität zurückkaufen – dafür zahle ich mit meinem neugeborenen Verstand.

„Sie hat sich nach eurem Kampf das Leben genommen, so einfach ist das. Sie ist mit ihrem Auto gegen einen Zug gefahren, und ich dachte, sie hätte die Niederlage nicht verkraftet. Dann kamst du und sagtest, du würdest den wirklichen Grund für diese Tat kennen … und du würdest nicht leben können, wenn ich dich nicht für das bestrafte, was du ihr angetan hast. Henker bestrafen sich selbst, hast du gesagt und deinen Mantel abgelegt. Und mich gebeten, dich zu vergewaltigen.“

Ich beginne zu lachen. Hysterisch und ungehalten, mein Bauch schmerzt, meinen Hals zerreißt es von innen, mein Brustkorb ist zu eng für die vibrierende Lunge, keuchend falle ich in mich zusammen und schluchze los. Erik streicht über mein Haar und schluckt seine Tränen herunter. „Ich dachte, ich könnte dich nur so vor der gleichen Tat bewahren. Ich hätte nie zustimmen dürfen, aber ich war völlig neben mir, ich habe die Welt durch einen Nebel gesehen, als du mir die Wahrheit erzähltest, und tat einfach, was du von mir wolltest… Du hast meine Wut ausgenutzt. Ich hätte niemals …“

Hexe. Ein Weib mit der Fähigkeit, alle Menschen zu Henkern zu machen, zu Werkzeug in ihren Händen, zu Selbstmordwerkzeug. Ich weiß, was ich ihm erzählt habe. Der Kampf war eine ausgemachte Sache, habe ich zu ihm gesagt. Sie musste kämpfen, und sie wusste, dass sie schwanger war. Also versprach sie mir, den Kampf zu verlieren, und wollte von mir den Schwur, dass ich sie nicht in den Bauch schlagen würde. Die Vereinbarung stand, als sie im Ring plötzlich merkte, dass sie stärker war als ich, und dass es sicherer wäre, mich fertig zu machen und zu gewinnen. Ich merkte, dass sie ihr Versprechen brach, und brach somit auch meinen Schwur. Ich tötete ihr Baby, und sie tötete sich selbst.

Ich weiß, dass ich ihm das erzählt habe.
Ich weiß auch, dass ich gelogen habe.


III.


Eine sonderbare Freude stellt sich in mir ein, ich spiele Detektiv, mal sehen, was sich ans Tageslicht hervor zerren lässt. Die Frau, die ich gerade bin, ist ein Wrack, und ich habe keinerlei persönlichen Bezug mehr zu ihr. Ich bin lediglich der Detektiv. Ich bin der Gerichtsmediziner. Torkelnd stehe ich auf, drücke Erik einen Kuss auf die Stirn und wische mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. „Tut mir leid, Erik. Ich hätte es dabei belassen müssen, aber die fehlende Erinnerung schmerzte in den letzten Tagen, und … Verdrängung ist einfach nicht der richtige Weg. Danke, dass du mir verzeihen konntest. Danke, dass du mir geholfen hast, mein Monster im Schrank einzusperren. Danke, Erik …“
Hilflos versucht er ein schiefes Lächeln, und ich küsse ihn auf den Mund. „Hast du etwas dagegen, wenn ich ein Bad nehme?“

Das Badewasser schlägt Bläschen, als es auf den weißen Grund der Keramikwanne trifft. Ich sperre die Tür zu, lege meine Kleidung ab und kippe einige von den Ölen ins Wasser, die ich in Eriks Badeschränkchen finde. Der Mann mit dem verbrannten Gesicht war nicht umsonst in meinem Traum, denke ich mir, während ich beobachte, wie der Pegel in der Wanne steigt und die Wasseroberfläche Schaumkronen aufwirft. In Wirklichkeit hat mich nicht Erik vergewaltigt – er hat lediglich materialisiert, was mein ehemaliger Geliebter mir angetan hat. Woraufhin ich mich an ihm gerächt habe. Wofür ich mich wiederum habe bestrafen müssen – mit Erik als der rechten Hand des Henkers. Wenigstens hatte diese Frau ansatzweise einen Sinn für Gerechtigkeit, spotte ich innerlich, während ich mit der Zehenspitze das Wasser teste und mich hinein begebe. Oder war es doch nur ihr Gewissen, welches es zu beruhigen galt?

Als ich bis zum Hals im heißen Wasser versunken bin, begreife ich auf einen Schlag, warum es in meiner Wohnung keine Badewanne gibt.

Ich liege in dunklem, kochendem Blut, und etwas zieht mich unter die Oberfläche, zieht mich herab, um mich zu ertränken, zu verbrennen, mich zu verschlingen. Heftig strampelnd kämpfe ich gegen den Sog an, halte meinen Kopf oben, kralle mich an die Wandhalterung und versuche, mich aufzurichten. Je stärker ich kämpfe, desto schneller versinke ich, und bald schon liege ich samt Kopf in einem Meer aus Blut und wage es nicht, die Augen zu öffnen. Es strömt aus allen meinen Poren, aus der Nase, aus meinen Narben, es strömt aus meinem Unterleib. Ich spüre, wie Leben entweicht, öffne unwillkürlich meinen Mund und schlucke die zähe, bittere Flüssigkeit, die ich umspült, doch das Leben kommt nicht in mich zurück. Ich bin wieder dort, in meinem alten Leben.

Ihre Schläge sind gezielt, meine Deckung nehme ich nur sporadisch auf, um sie gleich wieder sinken zu lassen. Ich weiß, dass sie nicht gewinnen kann, und sie weiß das auch. Deshalb gibt sie alles. Sie spielt mir den Ball zu, so wie ich das möchte, sie schlägt brutal und rücksichtslos. Sie hat Angst. Ich lasse sie schlagen. Nehme jeden Ihrer Stöße in Empfang, schmücke mich damit. Das Publikum liebt mich, ich bin in seinen tausenden Augenpaaren eine Märtyrerin des brutalsten Spieles, das es gibt. Ich opfere mich für sie, lasse sie mitleiden, heile sie mit meinem Aderlass, spüle ihre Tränenkanäle frei. Sie fühlen sich jedes Mal neugeboren, wenn sie diese Halle verlassen, denn ich habe für sie gelitten und für sie gewonnen, ich habe sie aus der Stumpfheit errettet.
Ich habe jedoch nicht für sie gekämpft.
Sie hat Angst vor mir und schlägt zu. Ich lasse sie schlagen. Nehme ihren Hass in Empfang und schicke ihr eine winzige Nachricht zurück. Eine winzige, weiße Madennachricht, die sie kurz vor meinem Siegesstoß empfängt und welche sie nicht nur ins Aus, sondern auch in den Tod befördert.
Mein Körper ist geschunden, nichts Lebendes ist an ihm zu entdecken. Ich kann kaum meine Hände erkennen, als sie von denen des Ringrichters umklammert und in die Höhe gezogen werden, und das wahnsinnige Getöse der Menge rattert mit Unterbrechungen und Aussetzern in meinen Ohren. Den Pokal an die Brust gedrückt stolpere ich hinaus, gestützt von meiner Trainerin, überlasse ihn vor dem Bad in ihre Hände und hebe meinen Körper in die Badewanne. Ich will sie nicht sehen, ich will niemanden sehen, keiner soll hier hereinkommen, während ich mit zitternden, gebrochenen Fingern meine Kleidung abstreife und mich dem Wasser hingebe. Prellungen, Schürfwunden, geplatzte Venen, Beulen, ein gebrochener Zahn, das alles soll vom Wasser davongetragen werden. Ich schließe die Augen und spüre, wie das Blut fließt. Aus meiner Nase, aus der Ohren, aus den Mundwinkeln, aus den Narben, aus Platzwunden, aus dem Unterleib. Ich habe gewonnen.
Er steht vor der Wanne und sieht auf mich herab. Seine Augen schimmern, ich will, dass er sich mit mir freut, sich über meinen Sieg freut, den Sieg über das Publikum und über mich selbst, doch seine Augen schimmern nicht vor Freude. Sie schimmern vor Mitleid.


Ich japse nach Luft, hänge mich über den Wannenrand und huste das Wasser aus dem Hals. Das Blut ist nicht mehr da, es ist nur noch Schaum, kalter, öliger Schaum. Vor Kälte und Erinnerung schlotternd steige ich aus dem Wasser, hülle mich in ein Badetuch und setze mich auf den Toilettendeckel. Ich habe für das Wir gelebt und gekämpft. Er hat dieses Wir zerstört. Er hat mich vergewaltigt, hat seine Macht über mich missbraucht und meine Macht über mich übertroffen. Das konnte ich ihm nicht verzeihen. Das kann man nicht verzeihen!
Ich habe mich gerächt.


Der Detektiv hat nicht über seinen Auftraggeber zu urteilen. Seine Aufgabe besteht darin, relevante Informationen zusammenzutragen und Rätsel zu lösen. Wenn er dabei Umstände zu Tage befördert, die ihm persönlich moralisch verwerflich erscheinen, hat er darüber hinwegzusehen. Es ist nicht seine Sache, er ist nicht Richter, nicht Vollzugsbeamter, nicht Polizist. Er ist die linke Hand des Henkers, der das Beil am eigenen Hals angesetzt hat und zum Schlag ausholt.



***


Am nächsten Morgen lasse ich Erik schlafen und schleiche aus der Wohnung. Ich weiß, wohin ich gehen muss, um die letzten Puzzlestückchen zu sammeln. Ich weiß, dass ich allein gehen muss.
Die Halle hat sich von außen kaum verändert, lediglich einen neuen Anstrich sieht man ihr an, und das eingeschlagene Fenster des Abstellraumes an der Rückseite ist ausgewechselt worden. Sonst ist alles wie früher – die abgegriffene Türklinke des Hintereingangs, das Graffiti von zwei kämpfenden Hähnen vor dem grellen Bild einer untergehenden Sonne, und der schwarze Jeep meiner Trainerin auf dem Parkplatz, mit dessen Kauf vor fünfzehn Jahren sie sich einen Jugendtraum erfüllt hat. Hier hat alles begonnen, hier habe ich gelebt, hier bin ich gestorben. Nun bin ich wieder da.
Mit bebender Hand drücke ich die Klinke herunter und betrete den hinteren Korridor. Aus den Räumen an den Seiten dringen Faustschläge an mein Ohr, Schläge gegen Sandsäcke und gegen menschliches Fleisch. Ich vergesse, wie ich aussehe und schreite selbstbewusst den Gang entlang – mein Geist hat sich durch die dreizehn Jahre nicht schwächen lassen, er lebt unabhängig von meinem Körper, er braucht ihn nicht, um stark zu sein. Kämpfern, die mir auf dem Korridor begegnen, nicke ich freundlich zu, aber nicht ohne einen Funken Überlegenheit im Augenwinkel. Ich brauche es euch nicht zu beweisen, ich weiß, dass ich stärker bin. Dass ich mächtig bin. Mächtiger als ihr alle, denn ich beherrsche mich selbst.

Lida kniet vor dem leeren Ring und geht irgendwelche Listen durch. Das Alter steht ihr ins Gesicht geschrieben, aber ihre Haltung ist nach wie vor makellos. Ich lache über das ganze Gesicht, als ich näher komme.

„Verdammt noch mal, ich wusste es, du Miststück!“
Lida grinst breit und boxt gegen meine Schulter, bevor sie mich mit festem Griff in ihre Arme nimmt. „Ich wusste, dass du kommst.“
„Ich hatte keine Wahl.“ Mein Lächeln erfährt eine Phasenverschiebung und rastet in Sarkasmus ein – für immer, das weiß ich. „Ich muss mich einsammeln, Lida. Ich glaube, ich weiß, was passiert ist. Sie ist tot, richtig? Sie hat sich umgebracht.“
Lida nickt, steigt in den Ring und winkt mich ebenfalls hinein. Als ich meinen Körper zwischen den Strängen hindurch auf die Matte befördere, habe ich das Gefühl, ein Tor zu passieren, hinter welchem mich gefrorene Zeit und gefrorene Welt erwarten. Ein Raum zwischen den Dimensionen, der sich nie verändert, eine konservierte Atmosphäre, die meine Fußspuren bereithält und auf neue wartet. Der Raum hat alles aufgesogen, was sich inmitten der Stränge abgespielt hat, er hat jeden Tropfen Blut gespeichert und die Sphäre mit Leben getränkt – bis ich ihn mit einer neuen Art Blut bekannt machte.

Projektoren ergießen gleißendes Licht über die Halle, die Luft vibriert vom Brüllen der Zuschauer. Ich manövriere das Boot in diesem Wellengang, ich gebe das Ruder nicht aus der Hand.
„Erzähl es mir noch einmal, Lida. Ich möchte es von dir hören. Mein letzter Kampf – wie war er?“
Sie lacht auf, hält ihre Arme schützend vor und ballt die Fäuste.
„Wie wohl - er war purer Irrsinn.“
Mein größter Sieg, und meine größte Selbstaufgabe.
„Das Publikum war in einer Ekstase, wie ich sie noch nie im Ring erlebt habe. Nicht davor, und nicht danach.“
Jeder Schlag, der mich traf,
„Jeder Schlag, der dich traf, traf auch das Publikum, ganz zu schweigen von mir und deinem Geliebten. Wir...“
„...stöhnten und spuckten mit, sie hielten sich die Bäuche und schluckten Tränen und hassten und liebten mich für dieses verfluchte...“
„Schinden. Wir wollten alle, dass du dich ihr auslieferst, dass du sie zuschlagen lässt, unsere Euphorie war nichts weiter als eine Marionette in deinen Fingern. Dieses Theater war...“
„...faszinierend und beklemmend zugleich. Oh ja, sie ahnten, dass dies...“
„...das letzte Mal sein würde. Deshalb genossen wir jeden Funken, jeden Tropfen Blut zwischen euren Körpern… Und nachdem...“
„...sie mich blutig geschlagen und meinen Körper mit Wunden übersät hatte, habe ich sie ein letztes Mal kommen lassen, genau so wie bei meinem ersten Kampf, habe sie mit einer kleinen, madenweißen Nachricht empfangen, ihre Deckung gebrochen und sie...“
„...mit einem einzigen Schlag ins Land der Träume geschickt. Das Publikum tobte vor Begeisterung und Verzweiflung, sie hatten mehr sehen wollen, vielleicht...“
„...wären sie mit meinem Tod zufriedener gewesen.“
„Aber so hast du den Ring verlassen, blutüberströmt, in dich zusammen gekrümmt und als Siegerin und bist aus ihren Leben verschwunden. Aus unser aller Leben.“
„Und die ganze Zeit über…
„Und die ganze Zeit über wusste ich …“
„...wussten sie, dass ich einen...“
„...,dass du einen...“
„...Mord beging.“
„Fehler begingst. Einen großen Fehler … Du hast sie zur Mörderin gemacht.“
Zur Mörderin seines Gewaltaktes an mir. Und er wusste es auch, er hat mich flehend angesehen, bevor er mich in den Kampf entließ, er hat kein Wort gesagt, doch seine Augen schrien Welten. Er hat es mir nicht zugetraut, und dennoch hätte er es wissen müssen. Das Wir war bereits geschrieben, eingeprägt, die Kraniche flogen von mir zu ihm und ließen sich auf seinem Kopf nieder. Siehst du, klapperten sie mit ihren mutigen, selbstsicheren Schnäbeln, du hast das Uns vernichtet. Du hast das Wir auseinander gebrochen. Sieh hin, dort ist die Rache.

„Ich bin eine gute Beobachterin, das muss ich sein, sonst kann ich niemanden trainieren. Ich habe deinen Tanz im Ring genau verfolgt. Ich kannte dein Muster, und ich bemerkte, dass es dieses Mal anders war. Etwas war aus dem Gleichgewicht, die Schläge, die du eingesteckt hast, konzentrierten sich größtenteils auf deinen …“
„...Bauch. Ich leitete sie mit meinen Drehungen, Schritten, mit Provokation. Ich spielte mit meiner Gegnerin, ich ließ sie mich überall treffen, aber die heftigsten Tritte und Stöße fing ich alle mit dem Bauch ab. Das Dümmste, was eine Kickboxerin machen kann – das Einzige, das ich tun konnte, um mich zu retten. Um mein verfluchtes Ich zu retten, meine Identität, meine Freiheit, meine Macht über mich. Ich zwang meine Gegnerin dazu, die winzigen Madenfinger zu zerquetschen, und irgendeine böse Laune zwang mich dazu, ihr diese Tatsache vor Augen zu führen. Sie hat begriffen.“

„Meine Vermutung war also tatsächlich richtig? Verflucht noch mal. Du hast ein Schauspiel daraus gemacht, du hast uns alle in Trance versetzt und handlungsunfähig gemacht! Und mitschuldig. Alle Augen waren auf die große Märtyrerin gerichtet, niemand hält einen Märtyrer von seinem Weg ab. Ich kann dich bei Gott nicht verurteilen, aber ich würde so gern wissen …“

„…Warum? Weil er mich überwältigt hat. Mich nicht gefragt, meinen Körper infiltriert. Die Zügel sind mir aus der Hand gerutscht, warum hätte ich das zulassen sollen? Warum hätte ich mich einem Schicksal fügen sollen, an das ich nicht glaube? Es gab nur ihn und mich, da war kein Platz für weiteres Leben … Ich bin eine Kämpferin und keine Mutter, verstehst du das denn nicht? Versteht es denn niemand? Verdammt!“

Lida lässt die Arme sinken, schüttelt langsam den Kopf und zieht einen Mundwinkel nach oben.
„Überleg' doch selbst. Kämpferin, sagst du? Du hattest einen Mann in deinem Leben, und du weißt doch, dass es keine fruchtlose Liebe gibt. Du hättest nicht lieben dürfen. Schicksal und Liebe, heißt es, gehen Schulter an Schulter – du kannst dich nicht einfach für eines entscheiden und das andere verleugnen.“
„Lida, du weiß auch, dass ich ihn brauchte. Ich habe für ihn gekämpft und für ihn gelebt, warum reicht es denn nicht? Warum musste er mich verraten …“
„Warum ist dir Verständnis so wichtig? Es war deine Entscheidung. Nicht dein Schicksal. Du wolltest lieben? Du hast geliebt. Du wolltest töten – du hast getötet.“

Ich wollte leben. Ich habe gelebt.
Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Ich weiß nur, dass ich einst beschloss, mich zu bestrafen, ohne jemals bereut zu haben. Als ich in der Badewanne saß und halb bewusstlos vor Schmerzen die Reste eines Kindes aus mir heraus quetschte, hatte mein Geliebter Mitleid in den Augen, und ich bat ihn darum, mich zu schlagen. Ich bot ihm eine Revanche an, ich wollte, dass wir abrechnen. Er sollte begreifen, dass mein Ich nur so lange Bestand hatte, wie ich Macht über mich selbst halten konnte. Ohne diese Macht wäre ich, seine Geliebte, tot, ausgelöscht, nicht lebensfähig. Ich beherrschte mich selbst, und ich bewahrte ein Wir in meiner Liebe. Doch als er vor der Wanne stand und auf mich herab sah, erkannte ich, dass seine Liebe nun nicht mehr mir galt, sondern dem toten Kind. Auf meine Bitte hin, mich zu schlagen, reagierte er mit einem Schniefen, sank vor mir auf die Knie und drückte meinen nassen und blutigen Kopf an sich. „Es tut mir leid“, flüsterte er heiser und etwas tropfte auf meinen Hinterkopf. „Es tut mir leid, dass ich nicht auf dich aufgepasst habe. Es tut mir leid, dass ich euch beide habe sterben lassen … es tut mir leid, dass ich keine Zeit hatte, dir zu beweisen, dass ich euch beide liebe, dass ich nicht ohne euch leben kann, dass ich euch brauche. Es tut mir so leid …“
Euch, sagt er. Ich bin kein selbstständiges, autonomes menschliches Wesen mehr. Ich bin nur noch ein Wir. Ein Euch. Wie kann er mir das antun? Er umarmt mich und weint sich die Seele aus dem Leib, und ich starre fassungslos auf das Blut um mich herum, auf das Leben, das aus mir geflossen ist, auf mein vernichtetes Leben. Dieser Klumpen Materie, stümperhaft vernäht, nicht lebensfähig, war kein Mensch, niemals war es ein Mensch, es hat das Leben nicht verdient, und seine Liebe ebenso wenig. Auch ich bin kein Mensch mehr, ich bin gestorben – im Kampf für die Freiheit, möchte ich glauben, doch vermutlich war es nur ein Kampf in Angst, ein Kampf um das eigene Überleben.

Es gibt keine fruchtlose Liebe, sagst du. Dann habe ich ihn wohl nie geliebt. Dann habe ich nie geliebt.
Aber gelebt, gelebt habe ich. Und ich habe so viele leben lassen.


Mein Blick schweift zur Decke, und ich sehe Kraniche. Gigantische Kraniche auf den einst schmutzig-weißen Flächen zwischen den Balken des Metallgerippes der Hallenbeleuchtung über meinem Kopf. Bilder von ruhigen, selbstbewussten Kranichen, ihre Schnäbel graziös ausgerichtet nach der Ferne.
„Er hat sie gezeichnet“, sagt Lida emotionslos. „Er ist blind, aber beim Zeichnen scheint er mit den Händen zu sehen. Ich weiß nicht, warum es Kraniche sind, habe ihn nie gefragt. Er malt nur Kraniche …“
Tausend Kraniche, tausend Leben. Fremde Leben, die an mir vorbeiziehen, ohne von meiner Existenz Notiz zu nehmen. Fremde Leben, ausgefüllt mit Sehnsüchten, unerfüllten Träumen, Hoffnungen, unendlicher Freude, Tränen und Kinderlachen. All ihre Leben entspringen der gleichen Quelle, und meines ist der Regen, der darauf herab fällt und sich mit ihnen vermischt, ohne jemals Teil von ihnen sein zu können.
Ich bin gern der Regen. Er kann überall sein, er ist alles, seine Tropfen sickern in den Boden und kommen in neuen Quellen zum Vorschein. Das ist Macht, und das ist Freiheit.

„Er ist blind?“
Lida sieht mich schweigend an, und ich verstumme, alles verstummt, ich stelle keine Fragen mehr.
Nichts möchte ich mehr hören, ich sinke auf den Boden des Rings und beginne zu zittern. Der Henker hat die schwarze Kapuze über sein Haupt gezogen und wiegt das schwere Beil in den Händen. Ich habe meine Macht missbraucht. Meine Wut hat so viel mehr Leben ausgelöscht als sie geschaffen hat. Gnade mir, Gott, ich habe wild gelebt, doch nichts vollbracht…

Meine Trainerin kniet vor mir und blickt mir in die Augen. Kein Urteil glänzt darin, keine Verurteilung, kein Spott. „Er hat mich gebeten, dich zu fragen, wenn ich dich wieder sehen würde.“
„Zu fragen? Ob ich …“
„Ob du es wieder tun würdest.“
Ich gebiete dem Henker Einhalt und blicke auf meine bleichen, dünnen Hände.
„Wie soll ich dir diese Frage beantworten? Ich kann doch nur so handeln, wie mein damaliges Ich gehandelt hat. Das jetzige Ich ist nicht befugt, etwas zu ändern, nicht einmal zu bereuen. Es ist hier, um das alte Ich zu strafen, es ist …“
„Das heißt also ja? Du würdest nicht anders handeln, richtig?“

„Ja. Ja, verdammt! Ich würde nicht anders handeln.“


***


Mein Leben ist zu Ende. Das Gespenst von Freiheit hat einst auf meinem Dachboden gepoltert, und mein Geliebter hat es ausgetrieben. Ich weiß, es gibt keine Freiheit. Und am Ende steht immer ein Fehler.

Kaum bemerkbar senke ich meinen Kopf und heiße den Henker zuschlagen.

Ich kann nicht mehr glücklich werden. Aber Erik wird es. Ich bin es ihm schuldig.
Ich werde meinen Tribut entrichten an das brutalste Spiel, das es gibt – das Spiel Leben. Ich werde meine Deckung aufgeben, meine Arme ein bisschen sinken lassen, werde ihn ganz nah heran kommen lassen. Aber nicht zuschlagen. Nein, zuschlagen werde ich nie mehr.
 
D

Dominik Klama

Gast
Kickboxerin, Ich-Verlust, Sex, Vergewaltigung, Mutterschaft, weibliche Selbstbehauptung und Bestrafung... Der Mix hat es wahrlich in sich! Allerdings dürfte die Autorin (der Autor? - das wäre sein größter Coup, wenn es hier einem Mann gelungen wäre, sich als AutorIN auszugeben, aber das glaube ich nicht, also: die Autorin...) wohl eher von Glück sagen können, dass ihre Geschichte so in die Länge gezogen ist, dass die meisten ihrer (bei Leselupe registrierten) schreibenden Kolleginnen sie einfach nie zu Ende gelesen haben. Sonst müsste der Aufschrei eigentlich groß sein, schätze ich. Es wird herumgetrampelt auf edlen Gefühlen.

Eine Kickboxerin hält Gericht über sich und das, was vor 13 Jahren mit ihr passiert ist. Etwas, das sie so sehr verdrängt hat, dass viele Seiten über gar nicht klar wird, ob das jetzige Ich tatsächlich existiert, ob das jetzige oder das damalige Opfer brutaler Vorgänge ist bzw. war.

Gewiss nicht uninteressant zu lesen. Raffiniert ausgedacht und eingefädelt mit seinem lang gezogenen Spannungsaufbau und seinen schockierenden Handlungsumschwüngen. Dem Leser wird mehrfach der Teppich unter den Füßen weg gezogen. Hier schreibt jemand, der ins Schreiben überaus verliebt sein muss. (Aber ob das überhaupt so gut ist?)

Bei einer Erzählung, die mit ihren Metaphern derart wuchert (und oft zu viel des Guten tut), hatte ich über die längste Zeit das Gefühl, dass sich letztlich herausstellen werde, dass alles nur „bildlich“ zu verstehen wäre. So, als würde sich irgendwann zeigen, dass es keine „zwei Ichs“ gegeben hat, keine zwei Männer, keine zwei (?) Schwangerschaften. Und etwas davon stellt sich ja tatsächlich heraus. Von daher hatte ich lange Zeit über das Gefühl, es gehe nicht wirklich um eine (Kick-)Boxerin, es gehe nicht um „echte“ Schläge oder Siege, sondern um metaphorische.

Ich fühlte mich dann viel, viel zu lange auf die Folter gespannt, was für eine Geschichte da draus eigentlich noch werden sollte. Und als das endlich kam und aufgeklärt wurde, war ich enttäuscht, dass alles nun so plan-realistisch herauskam. Es war wie einer dieser Mystery-Horror-Thriller, die einen die ganze Zeit ans Zurückkommen von Toten aus vergangenen Zeiten glauben lassen, um am Ende sämtliche Schocks über gut ausbaldowerte Manipulationen eines Erbschleicherpärchens rational zu „erklären“. Das kommt bei mir immer so an: „Die innere Logik ist den Machern völlig schnuppe, solange sie einen starken Tobak an ihre Konsumenten verteilen können.“ Genre-Literatur funktioniert oft so. Aber dann soll sie bitte nicht von mir erwarten, dass ich ihre „Vergewaltigungen“ oder „Hinrichtungen“ für irgendetwas anderes nehme als Versatzstücke einer raffinierten Stimmungsmache.

Hier einige bissige Anmerkungen, wie sie mir während der fortlaufenden Lektüre in den Sinn kamen.

„Was ich so sorgfältig mit Sex und Kickboxen aufgebaut hatte, schwabbelt nun unter meinen trockenen Handflächen.“
Finde ich etwas kurios. Vor Jahren füllte ich mal die Trimmspirale aus. Es gab so und so viele Punkte für eine Stunde Tanzen und so und so viele für zehn Klimmzüge. Aber für Sex gab es nichts, obwohl man dabei ganz schön ins Schwitzen und Japsen kommen kann. Und obwohl immer wieder mal in Filmen und Büchern Leute vom Herzschlag getroffen werden, wenn sie Sex haben. Was in der Kunst bestimmt öfter vorkommt als im Leben. Dennoch, glaube ich, reicht die körperliche Ertüchtigung beim Sex nicht aus, deswegen stramme Oberschenkel zu entwickeln.

„Eine kalte Dusche quetscht mühsam die Reste meines Geistes aus meiner fast aufgebrauchten Gehirnpastatube.“
Nun, gewagte Metaphern sind Geschmackssache, besonders wenn sie nicht ganz ernst genommen werden möchten... Aber mir ist das „too much“. Das Gehirn als Zahnpastatube. Das evoziert das Bild von zäh fließender Gehirnmasse, die aus einer Öffnung tritt. Dies aber steht im Widerspruch zu „besser funktionierendes Hirn“. Und eine Dusche, die etwas quetscht, ist mir auch noch nicht begegnet.

„...ein gewöhnlicher, gut angezogener Mann.“
Gewöhnliche Männer sind nicht gut angezogen. Jedenfalls nicht in Deutschland.

„Ohne mich umzudrehen bitte ich Erik, hinter mich zu treten, und in dieser Falte zwischen ihm und dem Bett spüre ich, wie mir unausgegorener Tod entgegen schlägt.“
Gut, machen darf man mit Sprache allerlei. Ich will nicht kleinlich sein. Aber könnte mir mal wer erklären, was denn wohl ein gut durchgegorener Tod ist? Und was ist eine Falte zwischen einem Menschen und einem Bett? Eine Falte im Raum-Zeit-Kontinuum, eine Art Hopser im Zusammenhang des Seienden?

„All das, was dich an deinen damaligen Zustand erinnern würde.“ Zustand, sagt er. Nutte, meint er. Der Zombie-Körper hat meinem jetzigen Ich bisher als Rettungskapsel gedient, als Stasisbox für den jämmerlichen Klumpen Ich, der sich vor der Vergangenheit verstecken und auf diese Weise retten wollte.“
„Stasisbox“ ist ein Wort das ich nicht kenne. Duden Rechtschreibung (2007) erklärt „Stase“ als medizinischen Begriff mit Bedeutung „Stauung“, würde hier einigermaßen passen. Aber ist es denn nötig, dass man den Leser mit so einer Vokabel überfällt, ohne sie unmissverständlich zu erklären?

Ähnlich „überfallartig“ erlebe ich das Wort „Nutte“. Offenbar handelt es sich um eine der langsam zurückkehrenden Erinnerungen aus der Vergangenheit der Protagonistin. An dieser Stelle hier hat sie uns diese Erinnerungssequenz aber eindeutig voraus. Wir haben bisher nur erfahren, dass sie ein Verhältnis mit einem gewissen Erik hatte, der sie gern „brutal“ zu „nehmen“ pflegte, was ihr offenbar nicht unrecht gewesen war. Deshalb Nutte?
Oder, wie die Heldin nun schon auch zu sinnen beginnt: „Warum bloß Nutte?“ Ja, kann man echt fragen... Ist das fair, so ein „magisches“ Wort aus der Ärmel zu schütteln, zusammenhanglos, nur um uns auf die Folter zu spannen?

„Ich spüre, dass meine Lungenflügel von den splitternden Rippen zerfetzt werden, wenn ich einen tiefen Atemzug nehme...“
Nun aber mal sachte!

„Die Konservierungshülle, in die er sich verliebt hatte, die er vor ihrem eigenen Inhalt beschützt hatte, hat Selbstmord begangen. Sie hat ihre Aufgabe erfüllt und ist gemäß ihrer Programmierung aufgeplatzt. Wie ein nasser, blinder Welpe liege ich unter ihrer Leiche und wühle mich durch die Nachgeburt an die frische Luft.“
Also, geschätzte Kollegin!, mein freundschaftlicher Rat: Hüten Sie sich vor einem Overkill an Metaphorik! Hier bekommen wir eine Konservierungshülle mit interner Programmierung, werden an Aliens, Cyborgs oder dergleichen erinnert. Diese Gerätschaft zerstört sich selbst, wird zu einer „Leiche“, was aber als „Geburt“ aufgefasst werden soll, denn dabei bleibt eine „Nachgeburt“ übrig. Und, obwohl wir nun schon die nicht so ideal passenden Bildvorstellungen von Cyborg und totem Menschen und neu geborenem Baby haben, müssen wir uns schließlich noch einen putzigen Jungwelpenhund dazu denken. Das ist ein wenig viel.

„Meine Haut umspannt zusammengeklebte Scherben – wie kann ich mich noch auf den Beinen halten, wenn die Stücke nicht zusammenhängen? Ich erwarte, dass ich gleich einem Hampelmann zusammenklappe, zu Staub zerfalle.“
Less is more! Das hier kann man schon alles machen. Aber besser nicht so kurz hintereinander: Scherben, Holz & Draht (die Organe eines Hampelmanns), Staub. Drei ganz verschiedene Sachen!

„Du hast meinen Geist liegen lassen in dieser Leiche, warum hast du mich nicht geholt, warum hast du mich so elendlich verlieren lassen?“
Ja, warum Gott einen ständig so hängen lässt, hat schon Jesus nicht ganz verstanden. Das müssen dir die Gläubigen unter uns erklären, die verstehen das. Aber es heißt „elendig“.

„Ich habe immer gewonnen, es mir aber nie zu Kopf steigen lassen. Keine meiner Gegnerinnen wagte es, meine Strategie anzuwenden, und keine hat sich zurückhalten können, zuzuschlagen, wenn sie eine Lücke in meiner Verteidigung entdeckte. Ich habe sie alle täuschen können. Ist es möglich, dass ich meinen letzten Kampf verloren habe? Dass ich eine Schande habe entgegen nehmen müssen, die mich dazu bewegte, mit dem Kämpfen aufzuhören und mein Leben vollkommen neu zu gestalten? Doch so etwas würde mich nie dazu veranlassen, meinen Körper an Männer zu verkaufen.“
Die ganze Geschichte ist insofern etwas zu lang, - könnte also gut gekürzt werden -, als auch Dramatik und Pathos nicht unbedingt wachsen, wenn man die entsprechenden Wörter wieder und wieder artikuliert, statt einfach weiter zu machen im Text. Besonders rhetorische Fragen sind ein Mittel, dessen Einsatz man kleiner dosieren könnte. Sonst kommt unweigerlich eine Anmutung von heißer Luft auf.

„Das Leben hat das schon immer zu schätzen gewusst.“
Oh nein! Bitte diesen Satz löschen! „Das Leben“ weiß ungefähr so viel wie „der Wind“, „die Nacht“, „die Kälte“, „der Winter“ oder „die Sterne“. Nämlich nichts. Und darum auch nichts zu schätzen.

„Wie eine Handvoll nackter, schlafender Kinder liegen die Zettel da und rühren sich nicht.“
Es muss etwas damit auf sich haben, dass diese Kinder nackt sind, wenn sie schlafen. Die meisten Kinder sonst im Schlaf sind es nicht. Aber was hat es auf sich?

„Tausend Kraniche für tausend Jahre, tausend Leben für dich und mich.“
Über Yasunari Kawabata, den japanischen Literaturnobelpreisträger, weiß Wikipedia zu vermelden: „Seine Novelle „Yukiguni“ (Schneeland) erschien 1937; sie erzählt die Geschichte einer Liebesbeziehung zwischen einem Tokioter Geschäftsmann und einer provinziellen Geisha in einer entlegenen Ortschaft. „Yukiguni“ wurde schon kurz nach Veröffentlichung zum Klassiker und etablierte Kawabata als einen der führenden japanischen Schriftsteller. In „Senbazuru“ (Tausend Kraniche) führte er einige Themen aus diesem Werk fort.“
Da ich das Buch nicht gelesen habe, kann ich nicht sagen, ob es für das Verständnis dieser Geschichte relevant ist. Wie immerhin die Erwähnung des japanischen Shimonoseki im Text nahe legen könnte...

„Aber ich kann das Leben nicht dem Schicksal überlassen, verstehst du?“
Klingt etwas tautologisch. Wäre „nicht dem Zufall überlassen“ nicht besser?

„Die Fakten zuerst, das habe ich schon immer an ihr gemocht.“
Und ich würde an dieser Trainerin Lida DAS wohl auch sehr mögen. Zumindest liebe ich es nicht so sehr, dass unsere vom Schmerz geschüttelte Erzählerin nach mittlerweile ungefähr dreizehn Buchseiten immer noch nicht mit der Sprache herausgerückt ist, welche Fakten in ihrem Fall eigentlich vorliegen! Siehe auch: „Du weißt nicht, was passiert ist?“ Vierzehn bis fünfzehn Buchseiten nach Beginn der Story.

„Klimt mag sie nicht, Schiele versteht sie nicht, Royo berührt sie nicht.“
Falls mit „Royo“ Luis Royo gemeint ist, kann ich anderen ahnungslosen Lesern die über Wikipedia gewonnene Information weiterreichen, dass es sich hierbei um einen spanischen Fantasymaler handelt, dessen aseptisch erotische Gemälde von schönen, barbusigen Frauen wimmeln. Ihn in eine Reihe mit Klimt und Schiele zu stellen, beleidigt die beiden Österreich-Dekadenten.

„Ich liege halb bewusstlos auf dem kalten Fliesenboden im Bad und warte darauf, dass das Blut aufhört zu strömen.“
Na, ich würde sagen, „ICH“ kriegt sich gar nicht mehr ein vor Pathos und vor selbstverliebter Masochismus-Fantasiererei. Aber ich will jetzt ernsthaft, dass der Text mal zu Potte kommt und mich nicht nur immer mit namenlosem Leiden bei der Stange zu halten versucht!

„Die Nacht keucht mir tausend Tode entgegen.“
Darf ich sagen, dass ich das ganz einfach für Kitsch halte. Darf ich nicht? Hab ich mir das nicht damit verdient, dass ich bis zu dieser Stelle herunter alles gelesen habe? Viele können das nicht von sich sagen.

„Ich war es doch, ich habe dich vergewaltigt.“ „Warum?“ Eriks Augen füllen sich mit Tränen. „Weil du es wolltest, weil du mich darum gebeten hast.“
Mit gutem Grund kennt das Strafrecht den Tatbestand Vergewaltigung in der Ehe. Aber das hier dürfte wohl kein Jurist der Welt als „Vergewaltigung“ ansehen. „Einschränkung der Willensfreiheit“ dürfte ein notwendiger Bestandteil der Definition von „Vergewaltigung“ bilden.

„Ich tötete ihr Baby, und sie tötete sich selbst.“
Und dann verurteilte ich mich als Mörderin, nein, Henkerin, zu der Strafe, vergewaltigt zu werden. Es ist eine fremde und tödliche Welt, in die wir lesen.

„Erik hat lediglich materialisiert, was mein ehemaliger Geliebter mir angetan hat.“
„Materialisiert“. Interessantes Wort. Muss aus der Sphäre des „Beamens“ stammen.

„Das Blut ist nicht mehr da, es ist nur noch Schaum, kalter, öliger Schaum.“
In so einem relativ schlichten und keineswegs „verbotenen“ Satz findet sich leider auch schon Etliches von dem aufgedonnerten, bombastischen Schreibgestus der gesamten Geschichte: Nein, in der Badewanne unserer Heldin ist nicht einfach Schaum, oh nein, es ist „kalter“ Schaum. Und er ist dazu „ölig“. Huh, welche Atmosphäre! Es läuft einem über den Rücken, kalt und ölig.

Allerdings, ein Autor, der keinen Badeschaum einfach Schaum sein lassen kann, ohne ihn mit Epitheta zu versehen, dessen Zettel gleich wie nackte schlafende Kinder aussehen müssen, könnte der uns über eine Vergewaltigung nicht mehr sagen als dies: „Er hat dieses Wir zerstört. Er hat mich vergewaltigt, hat seine Macht über mich missbraucht und meine Macht über mich übertroffen.“ Schaum und Zettel sollen uns Leser überwältigen, die Vergewaltigung offenbar nicht.

„Du hast sie zur Mörderin gemacht. - Zur Mörderin seines Gewaltaktes an mir. Und er wusste es auch.“
Der Gewaltakt ist die erwähnte Vergewaltigung (die gewollte). Diese Vergewaltigung wurde ermordet. Von ihr. Der Gegnerin aus dem letzten Kampf. Aber auch dieser Mord an der gewollten Vergewaltigung war gewollt von der Protagonistin, also dem Opfer. Klar. Oder?

„Die Kraniche flogen von mir zu ihm und ließen sich auf seinem Kopf nieder. Siehst du, klapperten sie mit ihren mutigen, selbstsicheren Schnäbeln.“
Dann doch wohl eher die Kraniche des Ibykus als die des Yasunari.

„Schicksal und Liebe, heißt es, gehen Schulter an Schulter.“
Klingt ein wenig nach Blabla. Würden wir diesen Satz auch so schlucken: „Berufung und Obsession gehen Hüfte an Hüfte, heißt es“?

„Ich bin gern der Regen. Er kann überall sein, er ist alles, seine Tropfen sickern in den Boden und kommen in neuen Quellen zum Vorschein.“
Das kaufe ich dem Text nicht ab. Jetzt, nachdem die wilde Mär ihre Auflösung gefunden hat, gibt die Autorin noch eine Weile vor, als würde hier Kunst produziert, denke ich. Sachen, die sich nett lesen und nichts groß sagen.
 



 
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