Wirrer Traum

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knychen

Mitglied
Wirrer Traum


1
Sie steht am Fenster und schaut hinaus.
Seit Stunden steht sie da und schaut
aus dem Fenster
einfach so
aus dem zweiten Stock heraus.

Und sie schaut durchs dunkle Laub
einer Linde, die vom Hofe
reicht bis hoch, bis vor das Fenster,
wo sie steht und schaut.
Die Blätter rascheln ganz gelinde,
doch die Frau hört keinen Laut.

Und sie sieht auch nicht die andern
Bäume.
Nein, es wandern
ihre Blicke durch den Raum
und mitten durch das nächste Haus.

Sie durchqueren viele Räume.
Zeitlos sieht sie, was da wäre
wenn für immer -
wenn statt Raum, statt Haus, statt Zimmer -
einfach überhaupt nichts wäre.

Denn sie schaut nur so ins Leere.

Weil sie nachdenkt: übers Leben
und über sich und grade eben
denkt sie nach über den Traum,
wo sie ´ne Kneipe aufgemacht.
Und dieser Traum war letzte Nacht

2
Es war warm, als sie da stand -
unterm Licht, Tablett im Arm
Und es kamen nur sie selbst
mit ihrem Manne Arm in Arm
aus dem Dunkeln in die Bar.

Sie setzten sich, sie fragte sich,
was sie wünschte, wäre sie,
die, die aussah, so wie sie,
an dem Arm von diesem Mann,
der so aussah wie der Mann
auf dem Foto Arm in Arm
mit ihr selbst vor dem Altar.

Wein wär’ fein, so sagte sie.
Und rot und trocken sollt er sein.
Und zu ´nem südlichen Franzosen
sage sie bestimmt nicht Nein.
Ach ja, bei der Gelegenheit -
wir sind natürlich hier zu zweit.
Ein Glas für mich und eins für ihn,
den Mann, der aussieht wie der Mann
der da hinter ihr grad steht.

Und hinter ihr, da stand ihr Mann
und schaute sie nur fragend an,
als aus dem Dunkel abermals
sie heraustrat zu den Tischen.
Wie, um kurz mal abzuwischen.

Das Tablett fiel und es krachte.
Und ihr Mann, ach wie der lachte.
Hörte nicht mal auf zu lachen,
als sie, schon nach dem Erwachen,
an ihm zupfte und ihn fragte,
was es Lust´ges gäb zu Lachen.

3
Da warf für einen Augenblick
sein Blick den ihren ihr zurück.
Ganz wach und ohne Spur von Schlaf
sprach er zu ihr, es tät ihm leid,
der Scherz ging eben wohl zu weit.
Dann schlief er ruhig atmend ein.
Ließ sie mit alledem allein.

Er wußt auch nichts mehr, früh beim Essen,
hatte alles gleich vergessen.
Er küsste sie und fuhr dann los,
sein Weg war weit, ihr Blick war groß.
So blieb sie stehen mit Kuss und Zeit
und starrt nun in die Ewigkeit.

SIE kann den Traum nicht mehr vergessen
und fragt sich: Wessen Traum war’s?
Wessen?
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Besonders interessant in diesem Gedicht sind die Wiederholungen, die ihm einen eigentümlichen und leicht melancholischen Ton geben.
 
N

nachtlichter

Gast
Verwirrend, aber gut - der Nachhall dieses Traumes sowie die einsame Ratlosigkeit der Träumenden kommen gut rüber - aus dem Reich der

nacht(lichter)
 

knychen

Mitglied
danke, ihr beiden.
genau so war es gedacht: ein melancholischer nachhall.
und dass die frage ohne antwort bleibt.
gruß aus berlin. knychen
 



 
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