Witwenball

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Witwenball

Unsere Blicke treffen sich im vom Duschen beschlagenen Spiegel. Fichtennadel- und Lavendelschaum kriecht dem Abfluss entgegen.
Es riecht nach früher.

"Verdammt groß bist du geworden, mein Kind," zwinkert sie mir aus den vom vielen Weinen geröteten und jetzt von pechschwarz getuschten Fliegenbeinwimpern umrahmten Augen zu.
Immerhin habe ich körperlich fast ihre Größe errreicht, denke ich und lächele zurück.
Ihr sonst schmaler, verhärmter Mund ist himbeerrot übermalt. Das bleiche Gesicht wirkt auf mich wie die um Beifall heischende Fratze eines traurigen Zirkusclowns.

Heute fällt es mir besonders schwer, ihr Aussehen zu loben.
So will sie doch nicht etwa aus dem Haus gehen?
Ich lüge: "Mama, du siehst wie immer wunderschön aus."
Und schreie in mich hinein: Hauptsache, sie heult nicht mehr!

Sich das kleine schwarze, längst aus der Mode gekommene Kleid zurechtzupfend, tänzelt sie ungelenk aus der Wohnungstür.

"Papa, bitte hilf mir! Bitte, lass nicht zu, dass sie wieder eine Enttäuschung erleben muss," bete ich flennend in mein Kissen.
 

petrasmiles

Mitglied
Liegt es an mir, wenn ich diese 'Tragödie' nicht verstehe?
Ein ins Kissen flennender Sohn, der den Geist des Vaters anruft, weil seine Mutter, die ihn wie eine Fremde begrüßt, während er ihr als Fremder antwortet, sich für seine Begriffe ungeschickt 'aufbrezelt'?
Was ist hier das Thema? Man könnte an Alzheimer denken, aber dann passt der letzte Satz mit der Enttäuschung nicht.

Liebe Grüße
Petra, ratlos
 
Hallo petrasmiles,

das Thema ist Witwenball, die Antwort liegt also in der Überschrift.

Der Vater des Jungen ist tot und die Mutter geht in schöner Regelmäßigkeit zum Witwenball (Tanz der einsamen Herzen), um einen neuen Partner zu finden, wird jedoch immer wieder von den dortigen Männern, die meist nur auf ein kurzes Abenteuer aus sind, enttäuscht. Wenn sie dann nach Hause zurückkehrt, ist der Katzenjammer vorprogrammiert und der Sohn leidet mit ihr.
Er möchte, dass seine Mutter wieder glücklich ist, so wie damals, als der Vater noch unter den Lebenden weilte und die drei eine heile Familie bildeten. Deshalb fleht das Kind seinen Vater, den er im Himmel wähnt, um Hilfe an.

LG
GFÜ
 

Inu

Mitglied
Geisterfahrer

ich habe die Lebensumstände der Frau auf Anhieb so verstanden, wie Du sie im Komment angibst, nur hatte ich an eine spontan auf Besuch gekommene, [blue]erwachsene Tochter[/blue] gedacht, denn so reden eigentlich eher Töchter von und mit ihren 'alten' Müttern. Ich glaube, eine erwachsene Tochter würde auch eher verstehen, dass die Mutter sich nach einem neuen Partner sehnt. Ein kleiner Sohn ( der die Mutter normalerweise doch lieber für sich hat) würde auch ihre Mängel, z.B., die Fliegenbeinwimpern, das unmoderne Kleid, gar nicht so in Einzelheiten wahrnehmen. Solche Dinge merken meistens nur die Töchter.
... bete ich flennend in mein Kissen passt meines Erachtens wirklich nicht, das würde ja bedeuten , dass das 'Kind' [blue]immer[/blue] bei ihr wohnt und schläft - in dem Fall würde der Dialog zwischen Mutter/Kind irgendwie nicht richtig stimmen.

Trotz dieser Fragwürdigkeiten ( die leicht klarzustellen wären )gefällt mir die Geschichte.

LG
Inu
 

Zaunkönig

Mitglied
Hallo Geisterfahrer

Ein schöner, nachdenkenswerter Text von atmosphärischer Dichte und gehaltvoller Aussage ist Dir da gelungen. Jeder Satz trifft ins Schwarze, nichts ist überflüssig, selbst die so banal erscheinende Aussage: "Verdammt groß bist du geworden, mein Kind" paßt hier und macht deutlich, wie der Mutter in ihrer Torschlußpanik die Zeit verrinnt. Auch der Stil gefällt mir sehr gut.

Liebe Grüße
Zaunkönig
 
Doch, liebe Inu, auch ein heranwachsender Junge nimmt zuweilen die grausame Wirklichkeit wahr.
Es stimmt, dass Söhne ihre Mütter am liebsten ganz für sich allein hätten. Aber alles Bemühen nützt nichts!
Glaube mir, auch männliche Pubertierende verschließen die Augen keineswegs vor der Wahrheit.
Im Falle meines Protagonisten handelt es sich nun einmal um solch fast erwachsenes Exemplar. Und er würde alles darum geben, seine Mama noch einmal glücklich zu sehen. Und, liebe Inu, er wohnt bei ihr!
Oder sollte ich besser sagen, wohnte?
In meiner Geschichte ist es so, dass die Mutter zu sehr dem Egoismus frönt und für alles um sie herum Geschehene blind ist, selbst blind für das Leid des eigenen Sohnes. Sie hat nicht einmal bemerkt, dass er in der langen Zeit ihrer Trauer selbst zum Mann geworden ist, sieht in ihm immer noch das Kind.
Schlimm?
Die Story ist leider wahr. Der Junge in der Geschichte bin ich.

Nachdem Mutter, des langen Suchens müde, mir eines Tages einen neuen "Vater" präsentierte, ging´s mir verdammt schlecht.
Ich habe ihn gehasst, wehrte mich dennoch niemals gegen seine Schläge und die verbalen Prügel.
Hauptsache war für mich stets, dass Mutter glücklich war.

Keine Bange, liebe Inu, aus dem "kleinen Mann" von einst ist, trotz des sich zum Tyrannen entpuppenden Stiefvaters, noch ein ganz "Ordentlicher" geworden.

Ich glaube, ich komme ganz nach meinem "richtigen Papa" und weiß: Mama ist schrecklich stolz auf mich.

LG
GFÜ

Ach, fast hätte ich glatt vergessen, mich für deinen Kommentar, liebe Inu, zu bedanken. Siehst du, so sind wir Jungs nun mal :)) Danke!
 
L

Law

Gast
@ GFÜ,

Also ich lese die Kommentare andere vorher nicht las nur weils direkt als erster Kommentar drunter stand das Petra die Tragödie nicht versteht.

Mir geht es anders. ich verstehe die Tragödie sehr gut, weil sie eine ist! deutlich, Toll beschrieben auch diese Fichtennadelbad - Wiedererkennung(an vergangene Zeiten), den verfall des lebens-oder Familienglückes, der Schönheit und dem Erkennen das die eigene Mutter zwar respekt verdient aber es dem Sohn peinlich ist/scheint.

Klasse in meinen Augen.
Übrigens:
Heute fällt es mir besonders schwer, ihr Aussehen zu loben.
So will sie doch nicht etwa aus dem Haus gehen?
Ich lüge: "Mama, du siehst wie immer wunderschön aus."
Und schreie in mich hinein: Hauptsache, sie heult nicht mehr
!

Genau so, lügt das sich die Balken biegen auch bei euren frauen und ich bitte Frauen auch mich zu belügen in solchen Situationen. Das ist Charakter, einfühlungsvermögen, menschlichkeit. Jedem den Götz zu zitieren, pöbelnd runterzumachen ist das Kennzeichen der idioten.

ich hab trotzdem 7 Punkte gewertet, weil ich gern mehr Bezug zum Text wollte und traurig war das es so kurz war.

herzliche Grüße
LAW
 
Hallo Zaunkönig,

über deinen Kommentar habe ich mich sehr gefreut.
Dass du den Satz "Verdammt groß bist du geworden, mein Kind" sofort richtig interpretiert hast, zeigt mir, dass man den Sinn der Aussage durchaus verstehen kann.

Danke für dein Lob.

LG
GFÜ
 
Hallo Law,

ein herzliches Dankeschön für Kommentar und Bewertung.

Du hast Recht, manchmal ist die Wahrheit wie ein Stich ins Herz! Will man einem geliebten Menschen den verbal vernichtenden Dolchstoß ersparen, muss man manchmal lügen. Ich nenne dies nicht Fehler, sondern Lebenshilfe. In einigen Situationen ist die "Lüge" einfach barmherziger als die schonungslose Wirklichkeit.

Du hast den Kern der Geschichte exakt herausgefiltert.
Deinem Plädoyer für mehr Menschlichkeit und Einfühlungsvermögen kann ich nur uneingeschränkt zustimmen. Ich ziehe den Hut vor deiner edlen Gesinnung. Würden alle Menschen so denken (und vor allen Dingen auch handeln), gäbe es keine Kriege auf der Welt.


LG
GFÜ

P.S. In der Kürze liegt die Würze :))
 
B

Beba

Gast
Eine tragische Situation, die du sehr eindringlich schilderst. Wie schon gesagt wurde, ist eigentlich jeder Satz wichtig und nicht überflüssig oder übertrieben. Es passt einfach alles.
Besonders gelungen finde ich den folgenden Abschnitt:
Unsere Blicke treffen sich im vom Duschen beschlagenen Spiegel. Fichtennadel- und Lavendelschaum kriecht dem Abfluss entgegen.
Es riecht nach früher.
Es riecht nach früher! Heißt so viel aus dem Munde einer Tochter eines Sohnes!!!
Und dann sofort „Verdammt groß bist du geworden ...“. Wunderbar.

Nur eines: wie andere auch habe ich bei dem Erzähler an die Tochter gedacht und nicht an den Sohn. Passt IMHO auch besser zu einer Tochter.

Berni
 
Hallo Berni,

auch dir danke ich für deine Rückmeldung. Ich freue mich, dass dir meine kleine Geschichte gefällt.
Nachdem mir mehrere User geschrieben haben, dass sie in dem Erzähler eher eine Tochter sehen würden als einen Sohn, komme ich langsam auch zu der Auffassung, dass es sich besser um eine weibliche Protagonistin handeln sollte und daher überlasse ich es dem Leser, das von ihm favorisierte Geschlecht zu bestimmen. Hauptsache, man kann sich gut in die beschriebene Situation hineinversetzen.

LG
GFÜ
 



 
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