Wolfszucht

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Wolfszucht

oder

Wen es trifft

Ich liege bäuchlings auf dem Bett und betrachte meine Hand. Gehört die mir? Wie kann so etwas Fremdes zu mir gehören?
Ich lege sie ein wenig weiter fort. Ein zu öffentlicher Ort mit zu vielen Erinnerungen an durcharbeitete Vormittage und allzu sanfte Nächte. Sie ist noch immer das Ende und der Beginn meiner von Vergangenheit durchwobenen Reise.
Und sie duftet noch nach dir.

Ich trenne meine Gedanken entschieden von diesem Bild, reiße sie ab wie getrockneten Klebstoff. Statt dessen überlasse ich ihnen den Raum über mir. Sie schweben im sonnendurchtränkten Orange meines Schlafzimmers, wo sie sich wohlig in träger Sonntagvormittagslaune hin und her wiegen sollen.

Doch ich weiß, sie täuschen den Rückzug nur vor, die Bequemlichkeit. In Wahrheit liegen sie auf der Lauer und wollen mich reiten. Wollen mich aus dem Alptraum der letzten Nacht in diesen blaßblauen Tag reiten, dessen Stille mich erwartet, wie der Tod den endlich Heimgesuchten.

Stille.
Sie tobt in meinen Ohren und macht mich taub.

Und da kommen sie.
Im Halbschatten der offenen Schranktür mutieren sie zu eigenständigen Lebewesen und brechen mit ungezähmter Gewalt über mich herein. Die Gnade der Sonntagsstille wandelt sich in die Offenbarung meiner Angst. Sie kriecht mit hämischem Grinsen kalt in meinen Körper und ich werde zu Stein.

Nicht bewegen!
Nicht bewegen!
Wenn du dich bewegst, bist du tot!


Die fremde Hand krallt sich in das Laken. Der Schmerz eines reißenden Nagels erinnert mich entfernt daran, wem das Körperteil gehört. Doch schon driftet diese kurze Erkenntnis in die bodenlose Schwärze zurück, aus der sie kam. Mein Herz gehört definitiv mir. In wilder Panik rennt es durch meine gelähmten Überreste. Es rennt, weil ich nicht kann.

Wie weit ist es bis zum Wahnsinn?

Das Angstwesen erreicht mein Herz und ich erhalte meine Initiation in den Orden der Verlorenen. Es gibt kein zurück in die Welt der Lebenden, des Vergessens, der Familienfeste und der Auenspaziergänge im Sommer. Durch ihren klammen Griff scheidet sie mich für immer, brennt mir das Mal der Übriggebliebenen auf die Stirn und macht mich zu einem Rest. Ich nehme Abschied von meinem geschützten Gestern, das Jahrhunderte zurück liegt.

Ich liege bäuchlings in einem Vakuum und betrachte die Hand. Sie leistet mir Gesellschaft und sie riecht nach dir. Klammert noch das Laken und zittert. Wie soll ich sie nur an meine Nase bewegen? Dich riechen könnte Überleben bedeuten. Dich riechen! Ja!

Beweg dich nicht. Wenn du dich bewegst bist du tot!

Der Druck auf den Ohren wächst. Stille drückt mir das Trommelfell ein. Mein Unterkiefer hängt erstarrt in einem grotesken O. Ein dünner Speichelfaden rinnt auf das Laken. Wo bin ich? Zu wem sage ich „ich“? Ein kehliger Laut flattert mir zu und nistet im Gewebe dieses ewigen Erstarrens. Noch einer entwindet sich gequält meinem Hals und wird verschluckt von der organischen Schweigsamkeit meines Zimmers. Es lebt und die Wände rücken näher.

Gott, lass mich nicht sterben! Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade.....

Fremd. Ich rieche fremd. Ich weiß es. Ich habe kein Gestern, kein Morgen. Höre auf, zu sein und bin in diesem Niemandsland gefangen.

Ist es Nacht? Menschliche Geräusche von der Straße. Hilfe! Helft mir! Bitte! Mein Flüstern erstirbt kurz vor den Lippen.

Du kannst nicht schreien. Wenn du schreist bist du tot!

Unter den Wänden bewegt sich etwas. Oh mein Gott! Hilf mir! Ich werde wahnsinnig. Sie können sich nicht bewegen. Sie können einfach nicht.

Du weißt, dass sie es können. Du siehst es doch, Schätzchen.

Atmen. Atmen. Wenn ich einfach weiter atme, sterbe ich nicht. Ich werde wahnsinnig, aber ich sterbe nicht. Hand? Wo bist du? Herz? Ich höre dich nicht mehr.

... gebenedeit bist du unter den Frauen und die Frucht deines Leibes Jesus.

Es wird so dunkel.

Heilige Maria Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes.

Amen
 
L

Lotte Werther

Gast
An freifrau

Aus der Löwin wurde eine Wölfin. Werwölfin? Alphawölfin? Am Rande als aussterbendes und somit als Rest lebendes Wesen?

Lesen und sich wiederfinden. Beides habe ich getan und deshalb kann dieser Text für mich nur stark sein.
Die Hand vor den Augen, die ein fremdes Wesen ist, stellvertretend für den ganzen Körper, in dem ein wildes Herz tobt und gefangen ist - wie gut ich das kenne und nachfühlen kann.

Und da es ein Tagebucheintrag ist, gewähre ich dir auch den ins Jammern abgleitenden Ton gegen Ende des Textes. Die Mischung aus Selbstmitleid (das verständlich und auch nötig ist) und Gebet ist mir ein wenig fremd. Selbstmitleid kenne ich zur Genüge, nur das Beten dabei nicht.

Du verblüffst immer wieder mit einer ausdrucksstarken und bilderreichen Sprache.

Lotte Werther
 
danke liebe lotte

nach wie vor schätze ich dich als kritische kommentatorin mit einem scharfen auge (und ebensolcher zunge ;-) deshalb freut mich dein lob.

der rest, von dem ich schrieb, das übriggebliebene, meint nur einen wolf. die wolfswerdung geschieht in dem augenblick zwischen wahn und realität, die mich als mensch für immer vom rest meiner artgenossen unterscheidet. die erfahrung dieser tiefgreifenden angst trägt mich sozusagen über die schwelle und auf die straße ohne wiederkehr. die unbelastetheit und unbefangenheit meiner mitmenschen kann ich nie mehr teilen.

beten oder nicht - es wird für jeden eine andere bedeutung haben. vielleicht arbeite ich noch heraus, dass ich nie ans beten gedacht hab vorher, dass mich die unsägliche verzweiflung und die hilflosigkeit dazu treibt, mich an einen allerletzten strohhalm zu klammern...

danke.
 

gareth

Mitglied
Liebe Freifrau,

sehr eindrucksvoll,

insbesondere zwei Bilder:

Die Hand, die fremd geworden ist, genommen und weiter weg gelegt wird und ihr Duft, der auf die intime Berührung einer zweiten Person verweist, die erst vor kurzem gegangen ist

Die Bedrohungssituation in der plötzlich empfundenen Einsamkeit ist sehr eindrucksvoll und eindringlich dargestellt: zurückzukehren in den Duft könnte Rettung sein, aber das erforderte Bewegung und Bewegung ist tödliche Bedrohung, wie dann auch das Rufenwollen, also alle Lebensäußerungen und Versuche einer Kontaktaufnahme mit der Umgebung lebensbedrohlich werden, während die Angstwesen sich mehr und mehr vervollständigen und verselbständigen und sich auf den Weg machen

Sehr glaubhaft ist die instinktive Flucht ins Gebet im Angesicht der tödlichen Furcht

Einzig nicht so treffend finde ich den Begriff
Vakuum. Vakuum bedeutet Luftleere und lässt mich vor allem an Unterdruck denken.

Respektvolle Grüße
 
respektvolle grüße?

lieber gareth,

hab dank für deine auseinandersetzung mit meinem text. ich weiß, er ist nicht einfach zu erfassen, aber es ist dir gelungen, die essenz zu erkennen und das macht mich zuversichtlich, daß es mir vielleicht doch gelingen sein könnte, diese situation glaubhaft darzustellen.

vakuum trifft es schon. unterdruck auch. wie in einer blase liegt man da, abgeschieden von äußeren. nicht in der lage, realitäten von wahn zu unterscheiden.

mein geschätzter kommentator, ich freue mich wirklich über deinen beitrag, besonders, weil ich weiß, dass dir das verstehen beim ersten mal lesen schwer gelang und mich vermuten lässt, dass du ihn mindestens noch einmal gelesen hast.

;-)
 



 
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