Wunnibald Webs wunderbare Welt (1. Kapitel)

Mireochs

Mitglied
Eine mysteriöse Entdeckung

„Wenn ich etwas überhaupt nicht mag, dann sind es diese doofen Spaziergänge.“ Missmutig schlüpfte Lenz in seine gelben Gummistiefel. Dabei nuschelte er ein paar Schimpfwörter. Aber nur ganz leise, dass Mama und Papa sie nicht verstehen konnten. Die hätten sonst wieder gemeckert. Sie mögen es nicht, wenn Lenz „Gassenausdrücke“ benutzt, wie Papa das nennt.

Und auch Lea, seine Schwester, verzog das Gesicht. Gerade so, als ob ihr Mama eine ganze Schüssel voller Blattspinat vorgesetzt hätte. Lea hasst Blattspinat. „Warum müssen Kinder ständig Dinge tun, die ihnen gar keinen Spaß machen? Immer geht es nach dem Kopf der Erwachsenen. Ich habe keine Lust, bei dem Regen raus zu gehen“, motzte sie. Viel lieber hätten Lenz und Lea weiter Löwenzahn geguckt.

„Jetzt hört endlich auf, rumzunörgeln. Ihr verderbt einem mit eurer miesen Laune ja den ganzen Sonntag.“ Papas Stimme klang so, dass es zwecklos erschien, sich noch länger gegen den geplanten Familienspaziergang zu wehren.

„Okay, dann gehen wir halt mit“, gab Lea mit weinerlichem Tonfall klein bei.

„Na gut, wenn ihr unbedingt wollt, dass wir uns erkälten, kommen wir eben mit“, schickte Lenz wie immer seinen Senf hinterher.

Zum Glück für Lenz und Lea war es nicht so weit bis zum Main. Der Fluss lag quasi vor ihrer Haustüre. Die Bilettis wohnen nur einige hundert Meter entfernt im Bärental. Sie sind erst kürzlich dort hingezogen. Papa hat einen neuen Job an der Würzburger Uni bekommen. So richtige Arbeit scheint das allerdings nicht zu sein. Er liest den Studenten die meiste Zeit etwas vor. Zumindest erzählt er immer, er habe Vorlesungen. Lenz und Lea wollen deshalb später auch einmal studieren. Erstens finden sie Vorlesen „rattenscharf“, wie Lenz es ausdrückt. Zweitens brauchen sie nicht extra zur Universität zu gehen. Papa kann seine Vorlesungen ja zu Hause halten. Abends, bevor sie ins Bett müssen. Als eine Art Gute-Nacht-Geschichte für große Kinder.

Bevor die Bilettis nach Ochsenfurt kamen, lebten sie in Berlin. Obwohl die Stadt so riesig ist, haben Kinder dort kaum Platz zum Spielen. In Ochsenfurt ist das anders. Deshalb gefällt es Lenz und Lea dort viel besser. Hier muss man nicht immer so lange mit dem Bus oder der U-Bahn quer durch die Stadt fahren, um Freunde zu besuchen. Der einzige Nachteil ist, dass Mama und Papa in der neuen Heimat viel öfter spazieren gehen als in Berlin. Sie sagen, auf diese Weise kann man am besten die Gegend erkunden.

„Lenz, wo steckst du denn schon wieder?“ Papa schaute sich nach allen Seiten um. Kaum waren sie ein paar Schritte gegangen, war Lenz verschwunden.

„Lenz, hör‘ mit dem Blödsinn auf und komme bitte aus deinem Versteck. Wir möchten hier keine Wurzeln schlagen“, rief Mama in Richtung eines Gebüschs. Denn sie vermutete, dass Lenz sich darin versteckt hat.

„Moment, ich komme gleich, mir ist etwas in den Main gefallen. Das hole ich nur schnell heraus“, antwortete eine Stimme. Lenz versuchte, vom flachen Ufer aus seine Lieblingsmurmel aus dem gemächlich dahin fließenden Gewässer zu fischen. Die Kugel war ihm eben beim Spielen hineingekullert. Aber das kleine Ding war in der trüben Brühe nicht zu sehen. Pech gehabt.

Als er mühsam und mit Wut im Bauch zurück den kleinen Hang hinaufstapfte, fiel ihm hinter einem Brennnesselfeld eine runde Eisenscheibe auf. Sie sah aus wie ein Kanaldeckel und war fast vollständig von Moos überwuchert. Von Neugierde gepackt, stapfte Lenz vorsichtig durch die Brennnesseln zu seiner Entdeckung. Nicht ohne sich mehrfach an Armen und Beinen zu verbrennen. Was das wohl ist?

Leas Bruder schaute sich das merkwürdige runde Ding genauer an. Da erblickte er einen rostigen Griff. Lenz umfasste ihn mit beiden Händen und zog daran so fest er nur konnte. Zum Vorschein kam ein tiefes Loch. Es sah aus, wie der Einstieg in einen Abwasser-Kanal. Innen an der roten Backsteinwand waren Eisentritte angebracht. Auf ihnen konnte man hoch und runter steigen. Lenz beugte sich nach vorn und steckte den Kopf so weit es ging in das Loch hinein. Es schien ziemlich tief zu sein. Unten auf dem Boden sah er etwas blass Leuchtendes. Pfeile? Ja, das müssen Pfeile sein. Wie mit einem gelben Markierungsstift aufgemalt.

„Lenz, unsere Geduld ist gleich am Ende, wenn du nicht sofort kommst.“ Papa schien es ernst zu meinen. Lenz schloss die Luke vorsichtig und rannte zu Lea und den Eltern zurück.

„Es wurde ja auch Zeit“, empfing ihn Mama sichtlich genervt.

Lenz und Lea liefen ein paar Schritte voraus. „Du Lea, ich muss dir ein Geheimnis anvertrauen“, flüsterte Lenz. Er war aufgeregt.

„Ach du mit deinen Geheimnissen. Die kenne ich schon. Du willst mich bloß wieder veräppeln.“

„Nein Lea, ehrlich nicht. Ich habe so einen komischen Schacht entdeckt mit Leuchtpfeilen auf dem Boden. Vorne an der Brücke. Das musst du dir unbedingt ansehen.“ Lenz war ziemlich außer Atem.

Lea drehte sich zu Mama und Papa um. „Wenn wir jetzt ganz brav sind und schön mit euch laufen, dürfen wir dann nach dem Spaziergang noch eine Weile draußen spielen?“ fragte sie einschmeichelnd.

„Ihr seid mir vielleicht lustige Gesellen“, wunderte sich Mama. „Erst motzt ihr rum, weil ihr nicht vor die Tür wolltet, und jetzt möchtet ihr sogar noch ein bisschen im Nieselregen spielen. Aber bitte, wenn ihr wollt. Meinetwegen - wenn ihr euch für den Rest des Spaziergangs ordentlich benehmt.“

„Yes, Mams“, sagte Lenz grinsend. „Yes Mams“ sagt er immer, wenn er sich über etwas besonders freut. Mama und Papa kennen das schon. Sie fragten sich, warum Lenz plötzlich so gut gelaunt war.

Als sie nach einer halben Stunde schließlich zu Hause ankamen, konnten es die Geschwister kaum erwarten, die mysteriöse Luke genauer unter die Lupe zu nehmen.

„In einer halben Stunde kommt ihr aber rein“, rief ihnen Mama hinterher. „Dann essen wir.“

Lenz und Lea rannten zu der Stelle, wo Lenz die Entdeckung gemacht hatte. Gemeinsam hoben sie hastig den Deckel zur Seite. Sie schauten in ein schwarzes Loch hinab. Tief unten waren die Leuchtpfeile deutlich zu sehen.

„Was kann das nur sein?“ fragte Lenz. „Los wir gehen einfach mal runter, und schauen nach“, schlug Lea vor. Lenz zögerte. Ihm war das Ganze ein wenig unheimlich.

„Meinst du wirklich, dass wir da runter klettern sollen? Ich habe echt ein bisschen Schiss.“

„Ach stell‘ dich nicht so an. Ich bin doch bei Dir“, machte Lea ihrem Bruder Mut. Lea war immerhin schon zwölf Jahre alt und ging in die sechste Klasse. Da ist man nicht so ängstlich wie ein Drittklässler. Lenz ist gerade acht geworden.

„Also los, ich klettere voraus“, sagte Lea und machte sich vorsichtig auf den Weg nach unten.

„Kannst du irgendetwas sehen, Lea?“ Lenz war es immer noch mulmig. Sein Bauch fühlte sich an, als ob viele Ameisen darin herumkrabbelten. Ganz vorsichtig stapfte er hinter seiner Schwester her.

„Lenz, komm und beeile dich. Hier unten ist ein Gang. Los, wir gucken, wo der hinführt.“ Nun war es Lea ebenfalls ein wenig flau im Magen. Gemeinsam folgten sie den gelben Pfeilen. Es war ganz schön unheimlich. Und ziemlich feucht. Von den Wänden tropfte Wasser. Überall waren Pfützen. Keine Geräusche drangen von draußen nach hier unten. Nur gut, dass die Pfeile leuchteten. So konnten sie einigermaßen etwas sehen. Nach etwa 50 Metern kamen Lenz und Lea an eine kleine Tür. Sie war nicht größer als das Janosch-Poster in Lenzis Zimmer.

„Hier geht’s nicht mehr weiter Lenz, da ist eine Tür“, flüsterte Lea.

„Und was machen wir jetzt?“

„Wir klopfen einfach an.“ Kaum hatte Lea den Vorschlag gemacht, wunderte sie sich selbst über ihren Mut. Wer weiß, was dahinter zum Vorschein kommt? Vielleicht gibt es da Gespenster, obwohl Papa immer behauptet, die gebe es nur in der Phantasie der Kinder. Doch noch ehe sie weiter über irgendwelche gespenstischen Wesen nachdachte, klopfte sie kurzentschlossen mit der geballten rechten Faust dreimal gegen die massive Holztür. Nichts rührte sich. Lea drückte die Klinke vorsichtig nach unten. Die Tür war verschlossen.

„Mist, was machen wir jetzt“, wollte Lenz wissen. „Ich bin dafür, dass wir sofort nach Hause gehen. Ich habe Angst. Außerdem ist die halbe Stunde gleich um. Los, lass uns gehen!“

Lea schaute auf ihre orangefarbene Armbanduhr mit Digitalanzeige. Ein Geschenk, das ihr Papa von einem Forschungssemester in Amerika mitgebracht hat.

„Okay, wir müssen los. Aber morgen gehen wir wieder hierher. Dann versuchen wir herauszufinden, ob hinter der Tür ein Geheimnis ist, okay?“

Lenz war richtig erleichtert, als sie wieder oben auf der Erde angekommen waren.

„Wir dürfen Mama und Papa aber nichts verraten. Das mit der Tür ist unser Geheimnis, ja? Sonst lassen sie und nicht mehr zum Spielen hier runter“, sagte Lea. „Versprichst du mir das?“ Sie streckte Lenz ihre Hand entgegen. Mit der Innenseite nach oben. „Schlag ein, wenn du einverstanden bist, dass niemand von unserem Geheimnis erfahren soll.“ Lenz klatschte mit seiner flachen Hand in Leas Hand. Das machen sie immer so, wenn einer dem anderen sein Ehrenwort gibt. Damit war klar: Mama und Papa würden kein Wörtchen von ihrer unterirdischen Entdeckung erfahren.

Fortsetzung: 2. Kapitel
 



 
Oben Unten