Wunnibald Webs wunderbare Welt (2. Kapitel)

Mireochs

Mitglied
2. Kapitel
Das Geheimnis hinter der Holztür

Lenz und Lea hatten an diesem Abend große Mühe einzuschlafen. Ihre geheimnisvolle Entdeckung am Mainufer ging ihnen nicht aus dem Kopf. Was mag sich nur hinter dieser kleinen Holztür verbergen? Lenz stieg leise aus seinem Bett und schlich auf Zehenspitzen in Leas Zimmer. „Lea, schläfst du schon?“, flüsterte er.

„Nein, ich kann nicht schlafen. Ich muss immer an unser Geheimnis denken.“

„Ich auch. Darf ich zu dir kuscheln und bei dir einschlafen?“

„Okay.“

Lenz schlüpfte unter Leas Bettdecke und zog sie bis an seinen Hals. „Glaubst du, dass da unten jemand lebt?“, fragte er seine größere Schwester.

Lea dachte einen Moment nach. „Eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen. Warum sollte jemand unter der Erde leben? Morgen schauen wir uns jedenfalls die Tür noch einmal genauer an. Vielleicht lässt sie sich ja irgendwie öffnen.“

Lenz antworte nicht. Er war eingeschlummert.

Am nächsten Morgen klingelte um halb sieben der Wecker im Schlafzimmer von Mama und Papa. Es lag direkt neben Leas Kinderzimmer. Deshalb war das Gerassel so laut, dass die Kinder sofort wach waren.

„Schläfst du noch, Lenz“, fragte Lea leise.

„Nö, der doofe Wecker ist so schrecklich laut gewesen. Da kann man ja nicht mehr schlafen. Denkst du auch gerade an unser Geheimnis?“

„Klaro! Ich bin schon so aufgeregt. Heute Mittag, wenn die Schule aus ist, gehen wir sofort zur Luke und erkunden dort alles ganz genau“, antwortete Lea.

„Hey, was ist denn hier los“, staunte Mama, als sie kurz nach dem grässlichen Weckergebimmel ins Kinderzimmer kam, um Lenz und Lea zu wecken. „Ihr habt ja gemeinsam in einem Bett geschlafen. Hat das einen besonderen Grund?“

„Nö, nö“, antwortete Lea. „Wir hatten einfach Lust gehabt.“

„Na gut. Jetzt aber raus aus den Federn. Heute beginnt die Schule wieder. Jetzt ist es vorbei mit der Trödelei.“

Lenz und Lea freuten sich nicht besonders auf den ersten Schultag nach den Sommerferien. Viel zu sehr waren sie mit ihren Gedanken bei dem Geheimnis vom Mainufer. Lea konnte kaum das Läuten der Schulglocke nach der sechsten Stunde erwarten. Sofort schnappte sie ihren Ranzen und machte sich auf den Heimweg. Sie brauchte fast eine dreiviertel Stunde. Denn zu ihrem Gymnasium in Marktbreit musste sie mit dem Zug fahren. Lenzis Grundschule war dagegen nur ein paar hundert Meter vom Haus der Bilettis entfernt.

Lenz wartete schon vor der Haustüre. „Na endlich bist du da“, empfing er seine Schwester. „Ich kann es kaum noch aushalten und platze bald vor Neugierde.“

Lea hastete ins Haus, drückte Mama einen dicken Schmatz auf die Wange und eilte wortlos wieder hinaus zu Lenz.

„Heyheyhey, was ist denn mit dir los? Willst du mir nicht wenigstens erst mal erzählen, wie dein erster Schultag heute war?“

„Ach, ganz schön“, rief Lea und schloss die Tür hinter sich. Dann hörte Mama sie nur noch von weitem rufen: „Wir sind am Mainufer und zum Mittagessen wieder zu Hause.“

Lenz und Lea hasteten zur Luke hinter dem Brennnesselfeld. Gemeinsam hoben sie den schweren Deckel zur Seite und stiegen über die kleinen Eisentritte in den feuchten Schacht hinab. Es war ihnen zwar wieder mulmig zumute, aber sie hatten längst nicht mehr soviel Angst wie gestern.

„Schau, da vorne ist die Tür“, rief Lenz mit bebender Stimme. „Ein komisches Gefühl habe ich schon.“

Lea tastete sich vorsichtig zur Tür vor, nahm den Griff in die Hand und drückte ihn langsam nach unten. Plötzlich knarrte es ganz laut. Lenz und Lea blieb das Herz vor Schrecken fast stehen.

„Was war das für ein seltsames Geräusch, Lea? Ich habe solche Angst“. Lenz zitterte am ganzen Körper.

„Das war die Tür. Sie ist nicht mehr verschlossen“, sagte Lea. Ganz langsam stieß sie die ächzende Holztür immer ein Stückchen weiter auf. Dahinter war es stockfinster.

„Lass uns schnell abhauen, Lea. Mir ist das hier zu unheimlich.“

Doch noch ehe Lea antworten konnte, hörten sie eine piepsige Stimme.

„Was geht hier vor sich?“, krächzte es aus dem Dunkel. „Wer seid ihr? Was sucht ihr hier?“

Lenz und Lea waren zu Tode erschrocken. Ihre Knien zitterten. „Nichts wie weg hier“, stammelte Lea.

„Halt Kinder, ihr braucht keine Angst zu haben. Nicht weglaufen. Ich tue euch nichts“, sagte die Stimme. „Kommt zurück“.

Lenz und Lea näherten sich langsam wieder der geöffneten Tür. Lenz nahm allen Mut zusammen und fragte: „Wer bist du, und wo bist du?“

„Kommt durch die Tür, dann werdet ihr es sehen“, antwortete die Stimme.

Lenz und Lea krochen auf Händen und Füßen durch den schmalen Eingang. Sie konnten nicht sehen, wo sie hinkrabbelten. Es war stockfinster.

„Hallo, ihr süßen kleinen Menschenkinder, schaut mal zur Decke“, meldete sich die Stimme erneut.

Und als Lenz und Lea gespannt nach oben blickten, sahen sie dort etwas an einem Seil hängen, das nicht größer war als Leas alte Lieblingspuppe Anna. Das unbekannte Etwas knipste eine Taschenlampe an und leuchtete den beiden genau ins Gesicht. Geblendet von dem Strahl verdeckten Lenz und Lea mit ihrem Armen die Augen.

„Guten Tag und herzlich willkommen. Mein Name ist Wunnibald. Wunnibald Web. Ihr könnt mich aber auch einfach nur Wunni nennen“, stellte sich das Wesen vor. „Ihr braucht euch nicht zu fürchten. Ich tue euch nichts. Ich bin ein Freund aller Kinder.“ Dann wurde es plötzlich taghell. Lenz und Lea standen vor einem riesigen Holztor. Es war größer als die Garagentür daheim. Über dem Tor saß Wunnibald auf einem kleinen Brett und ließ vergnügt seine Füßchen baumeln. Er war höchstens so groß wie ein Rad an Lenzis Fahrrad. Auf seiner lustigen Knubbelnase trug er eine silberne Nickelbrille. Sein Kopf war mit einer schwarzen Schiffermütze bedeckt. Er hatte eine rote Latzhose an, die mit bunten Flicken übersät war. Sein grüngelb gestreiftes T-Shirt schien schon länger keine Waschmaschine mehr gesehen zu haben. Am Hals, der unter seinem langen Zottelbart nur zu erahnen war, baumelte eine schwere Silberkette mit schwarzem Anhänger. Dieser sah aus wie ein Mini-Bleistift.

„Wie heißt ihr denn, und wie kommt ihr überhaupt hier her“, wollte Wunnibald wissen.

„Das ist Lenz und ich bin Lea. Wir wohnen hier ganz in der Nähe im Bärental. Lenz hat durch Zufall den Schacht entdeckt, der nach hier unten führt. Aus Neugierde sind wir den Leuchtpfeilen gefolgt und hier gelandet.“

„Ihr seid die ersten Menschen, die den Weg hierher zu mir gefunden haben. Ich freue mich, endlich einmal Besuch bekommen zu haben. Das Leben unter der Erde kann nämlich manchmal ganz schön einsam sein“, sagte Wunnibald mit einem sanften Lächeln im Gesicht.

Lea konnte zwar nicht gut schätzen. Aber Wunnibald musste bestimmt schon so alt sein wie ihr Opa. Und der ist fast 70. Aber wieso war er dann so klein wie ein Baby? Vielleicht war er behindert. Oder er war gar kein Mensch, sondern ein unterirdisches Fabelwesen, von dem niemand etwas weiß. Ob sie ihn einfach fragen sollte? Noch ehe sie darüber nachdenken konnte, war es aus Lenz schon herausgeplatzt: „Du siehst aber merkwürdig aus. Im Gesicht wie ein Opa, aber dein Körper ist so klein wie der eines Babys. Bis du kein Mensch?“

Wunnibald musste schallend lachen. „Das ist eine gute Frage. Natürlich bin ich ein Mensch. Ich wachse nur nicht wie ihr Menschenkinder.“

„Das ist aber komisch“, wunderte sich Lenz. „Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der nicht wächst, und der unter der Erde lebt. Bist du krank?“

„Nein, nein“, antwortete Wunnibald. „Ich bin kerngesund. Aber es ist eine lange Geschichte, weshalb ich so klein bin und nicht oben auf der Erde lebe. Wenn ihr Lust habt, lade ich euch zu einer Limo ein, und dann erzähle ich euch alles.“

Wunnibald sprang vom dem kleinen Brett über dem Tor herunter und landete mit seinen nackten Füßchen genau vor Lea. Wunnibald ging ihr gerade einmal bis zu den Knien. „Hier, hinter diesem Tor, wohne ich schon seit 60 Jahren zusammen mit meinem treuen Hund Sabber. Es ist das Wunnibald-Web-Land. Kommt mit rein, dann zeige ich euch mein Zuhause.“

Als Wunnibald die Tür öffnete, trauten Lenz und Lea ihren Augen nicht. Das war keine Wohnung, sondern eine eigene Traumwelt für kleine Leute. Häuser, Straßen – alles war recht winzig. Erwachsene könnten hier nicht wohnen. Aber für Kinder war die Größe des unterirdischen Landes gerade richtig. An den Bäumen wuchsen nicht nur die köstlichsten Früchte, sondern auch lauter Süßigkeiten: Gummibärchen, Salzstangen, Schokolade – einfach alles, was nicht nur Kindern das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Es gab außerdem mehrere kleine Seen. Sie waren gefüllt mit unterschiedlichen Säften. Und der kleine Fluss, der sich direkt vor ihnen entlang schlängelte, führte kein Wasser mit sich, sondern Kakao.

„Ich glaub’s nicht“, stammelte Lenz. „Das ist ja wie im Schlaraffenland.“

Lea war sofort in den Orangensaftsee gesprungen - mit Shirt und Hose. Übermütig planschte sie darin herum und trank soviel sie nur konnte. „Lenz, das musst du versuchen. Das ist richtiger Orangensaft. So was phantastisches habe ich noch nie erlebt“, rief sie voller Entzücken.

Lenz hörte nicht, was seine Schwester sagte. Er war auf einen Hügel geklettert und hatte dort ein richtiges Paradies entdeckt. In einer großen Hütte fand er alles, womit Kinder gerne spielen. Am besten gefiel ihm ein Mini-Motorrad, mit dem man richtig umher kurven konnte. Sofort schwang er sich darauf, startete den Motor und brauste den kleinen Berg hinunter zu Wunnibald.

„Ist ja echt super hier bei dir, Wunni. So was Schönes gibt’s sonst nur in Märchen“, sagte Lenz strahlend.

„Prima, dass es euch bei mir gefällt. Aber sei vorsichtig, Lenz. Nicht, dass du dir noch die Knochen brichst.“

In diesem Moment stieg Lea pitschnass aus dem Orangensaftsee. Erschrocken schaute sie auf ihre Armbanduhr. „Auweia, Lenz, es ist schon ziemlich spät. Wir müssen nach Hause. Sonst macht sich Mama Sorgen.

„Und wann erzählst du uns, Wunni, warum du so klein bist und wie das Wunnibald-Web-Land hier unter der Erde entstanden ist?“, fragte Lenz.

„Passt auf, Kinder. Kommt morgen nach der Schule einfach wieder zu mir. Dann werde ich euch alles erklären“, antwortete Wunnibald. „Eines müsst ihr mir jedoch versprechen: Ihr dürft niemanden von mir und dem Wunnibald-Web-Land erzählen. Sonst werden wir uns nie wieder sehen.“

„Aber warum denn?“, wunderte sich Lea.

„Das erkläre ich euch morgen.“

„Und wie kommen wir ins Wunnibald-Web-Land rein? Wir haben doch gar keinen Schlüssel“, fragte Lenz.

„Macht euch keine Sorgen. Ich warte hier wieder auf euch. Also dann: Bis morgen. Und versprecht mir: Kein Sterbenswörtchen zu niemand, okay?“

„Abgemacht, Wunnibald“, versprachen Lenz und Lea wie aus einem Mund. „Wir freuen uns schon auf morgen. Tschüß denn.“

„Macht’s gut, Kinder. Ich freue mich auch.“

Fortsetzung: 3. Kapitel
 



 
Oben Unten