Zeit für Glück

4,00 Stern(e) 1 Stimme
Ja, reichlich gutgläubig bin ich schon. Auch Jan glaubte ich lange. Er war mein Letzter. Ein elender Schmarotzer, der sich meine Liebe und mein Geld nahm und auch sonst vorwiegend um sich selbst kreiste.
Irgendwann begann ich in seiner Nähe zu frieren. Dann wurde er arbeitslos und hatte außer mir mindestens zwei weitere Freundinnen. Vor einem halben Jahr packte ich ihm die Koffer und stellte sie vor die Wohnungstür. Tränenreich versicherte er mir im Treppenhaus, nur ich sei seine einzige wahre Liebe und eine Arbeitsstelle habe er auch längst in Aussicht.
Genau das versicherte er auch seinen anderen beiden Freundinnen. Wir drei hatten inzwischen eine Notgemeinschaft gegen Jan gegründet und telefonierten regelmäßig miteinander.
Er ging und ich hatte wieder Zeit für mich.
Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, las ich viel. Bücher, Zeitungen, Zeitschriften und E-Mails von Leuten, die ich nie leibhaftig sehen wollte. Dennoch antwortete ich ihnen umgehend, während sie mich oft lange auf Antworten warten ließen.
Über Heinrich las ich vor gut vier Wochen in der Zeitung. Die Polizei warnte vor einem älteren Mann, der sich Heinz im Glück nannte.
Der väterlich wirkende ältere Mann spreche vor allem jüngere Frauen an Bushaltestellen an, lasse sich von ihnen in Gaststätten aushalten und leihe sich Geld, weil er das angeblich für ein Taxi brauche, da zu seinem Wohnort um die Zeit kein Bus mehr fahre. Er ließ sich sogar die Kontonummer der Frauen geben, um das geliehene Geld überweisen zu können. Auf diese Überweisung warteten bisher alle von ihm angesprochenen Frauen vergeblich. Wenn er am Ende das Café verlassen wollte, entschuldigte er sich stets damit, noch zur Toilette zu müssen, und verschwand spurlos.

„Manchmal ist alles nur lauwarm, mein Schrei heiser, die Zunge belegt. Manchmal klopft
mein Herz dumpf gegen die halbvollen Lungenflügel und meine Abenteuer finden ausschließlich im Fernsehen statt. Dann ist Leidenschaft Jugendsünde und Vernunft eine äußerst lästige Alterserscheinung. Manchmal ist alles irgendwie dazwischen. Und manchmal bin ich plötzlich unglaublich glücklich, denn wahres Glück kommt immer irgendwie überraschend.“
Eigentlich lass ich mich nicht von wildfremden Männern ansprechen. Doch der Alte stand plötzlich neben mir, während ich auf den Bus wartete, kam mir überhaupt nicht fremd vor, sprach, als würden wir uns schon sehr lange kennen, einfach darauf los, langsam, ohne Pause. Seine Stimme klang beruhigend und verständnisvoll, als würde er alle meine wichtigen Fragen beantworten, obwohl er mich gar nicht zum Fragen kommen ließ.
Als ich in den Bus einsteigen wollte, unterbrach er kurz seinen Redefluss, griff nach meiner Hand und bat mich, den nächsten Bus zu nehmen.
Der kam zwei Stunden später.
Nicht einmal richtig angesehen hatte ich ihn mir, als er mit seiner angenehm warmen Hand nach meiner eiskalten griff und mich mit sich zog.
Ich folgte ihm in eine nahe gelegene Bäckerei/Konditorei, in der ein paar Tische und Stühle auf Gäste warteten, in der Kaffee ausgeschenkt wurde und er sich ein ungewöhnlich großes Stück mit rosa Marzipan gedeckte Punschtorte bestellte. Ich nahm Apfelkuchen vom Blech, flach und säuerlich.
Schweigend und lächelnd saß er mir eine Weile gegenüber, sah auf sein Tortenstück, blickte mich kurz mit leicht getrübten blassblauen Augen an und sagte schließlich, er sitze immer überall dazwischen und sei so einer, der in der Menge untertauche, aber viel, viel lieber mutig wäre. Manchmal habe er auf einmal Mut und dann beginne eigentlich immer schon sein Glück. Heinrich heiße er. Alle haben ihn früher Heinz gerufen. Und seine wenigen Freunde nannten ihn Heinz im Glück. Dabei sei er nur ein Glückssucher. Der Besitz von Glück sei das Gegenteil von Glück.
Ich nahm einen Schluck des fade schmeckenden Kaffees. „Aber der Typ hieß doch Hans im Glück!“
„Ja, klar, der im Märchen.“
Ich lachte und wartete darauf, dass er weiter redete. Doch da er schwieg, sah ich mich genötigt, etwas zu sagen.
„Wir sind halt keine Märchentypen, wir Normmenschen, die wir nicht mehr an Märchen glauben können.“
Er nickte. „Manchmal habe ich da drinnen auf einmal das Herzklopfen eines Abenteurers. Aber äußerlich bewegt sich nichts. Gar nichts.“ Er öffnete den Reißverschluss seiner grauen ausgebeulten Strickjacke. Darunter trug er ein schwarzes Hemd, das ziemlich weit aufgeknöpft war. Fast andächtig steckte er die Hand in das Hemd und ließ sie auf der Brust ruhen.
Sein kurzes Auflachen klang zufrieden. „Es klopft noch ziemlich heftig. Aber immer wieder stehe ich starr in der Menge, selbst wenn überhaupt keine Menge da ist. Brauche jemanden, der mich da rausholt. Eine wie Sie zum Beispiel, die mein Herz klopfen lässt. Wissen Sie, ich habe hier in der Brust sonst so ein taubes Gefühl. Jetzt nicht.“
Ich lachte. „Abenteuertauglich bin ich eigentlich überhaupt nicht. Und Sie, Sie könnten mein Vater sein.“
„Bin gerade mal dreiundsechzig.“
„Ich ganze dreiunddreißig.“
„Immerhin sind sie solo!“
„Woher wollen Sie das wissen?“
Er kratzte sich am Hinterkopf, glättete anschließend seine grauen Haare und lächelte. „Hab ich so im Gespür. Die Liebe ist übrigens eine Macht. Doch wer nur auf Macht setzt, kann nicht wirklich lieben. Warum sie mich in der Schule schon Heinz im Glück genannt haben, weiß ich eigentlich nicht. Ich war eher Einzelgänger und dabei nicht einmal ein besonders guter Schüler. Eher Durchschnitt.“
Behutsam zog er seine Hand wieder aus dem Hemd, legte sie vorsichtig auf die meine und versuchte, mir in die Augen zu sehen. Ich wich dem Blick seiner ziemlich kleinen Augen aus und zog widerwillig meine Hand vom Tisch zurück. Er ließ die seine auf der Tischplatte liegen, lachte und meinte, als Eroberer sei er nie besonders erfolgreich. Als glücklicher Mensch könne er allerdings abwarten.
„Auf was warten Sie denn?“
Nach kurzem Schulterzucken lehnte er sich auf dem Stuhl zurück, atmete tief ein und langsam wieder aus.
Früher habe er einige Zeit als Versicherungsvertreter gearbeitet und selbst dabei immer abgewartet, bis seine potentiellen Kunden ihn freiwillig in die Wohnung ließen. Er sei nun mal nicht der aufdringliche Typ, der, wie ein unseriöser Staubsauger-Vertreter, seine Schuhspitze zwischen Tür und Rahmen stelle.
Sehr langsam führte er ein Stück Torte von seinem Teller mit der Kuchengabel zum Mund, öffnete Lippen und Gebiss, schob die Torte hinein, kaute ausgiebig und schluckte. „Köstlich, diese Punschtorte.“ Noch langsamer griff er nach der Tasse, führte auch sie zum Mund, schlürfte leise die milchig braune Flüssigkeit in sich hinein und sah mir über die Tasse in die Augen.
„Man muss Zeit genießen können…, was sage ich, nein, ich muss nicht…, ich genieße die Zeit, und das vor allem in so angenehmer Gesellschaft.“
Ich räusperte mich. „Was soll die Schleimerei?“
Schweigend und widmete er sich dem nächsten Stück Torte und einem weiteren Schluck Kaffee.
Ich bemühte mich, unbemerkt auf meine Armbanduhr zu sehen. Wollte den Bus keinesfalls verpassen.
„Gerade Sie in Ihrem fast noch jugendlichen Alter sollten sich Zeit nehmen und die genießen, genießen, genießen. Glauben Sie mir, je älter Sie werden desto rascher verrinnen Stunden, Tage und Jahre. Bergab geht es immer schneller und schneller. In knapp 18 Jahre bin ich achtzig. So alt will ich eigentlich gar nicht werden.“
Mit beiden Händen fuhr er sich durch die grauen Haare, lachte und widmete sich danach noch langsamer dem nächsten Tortenstück.
„Außer Zeit habe ich sowieso nichts mehr zu verlieren. Na ja, nicht ganz. Ich brauche auch Kontakt zu liebenswerten Menschen, die mir von ihrer Zeit geben.“ Erneut schob er seine Hand über den Tisch auf mich zu, griff schnappend einige Male ins Leere und hielt mir beide Hände offen hin.
Ich setzte mich aufrecht, schob den Stuhl mit den Füßen wenige Zentimeter bis an die Wand zurück, zog umständlich den Ärmel meines Pullovers hoch und sah diesmal demonstrativ auf meine Armbanduhr.
In einer knappen halben Stunde würde der Bus kommen.
Plötzlich stand Heinz auf, legte seine rosige Gesichtshaut in ungewöhnlich viele Lachfalten und verneigte sich entschuldigend. Er müsse ganz, ganz dringend zur Toilette. Der Kaffee treibe so.
„Ah, ist es so weit?“ Ich sah ihn lauernd an.
Er schüttelte leicht den Kopf, blickte umher, entdeckte ein WC-Hinweisschild und ging um die Theke herum in den hinteren Bereich des Gastraumes.
Mein Warten würde vergeblich sein. Ich ging nach gut zehn Minuten an die Theke, um zu zahlen. Die Verkäuferin bediente gerade eine ältere Frau mit einer roten Baskenmütze, die sich nicht entscheiden konnte, welche Brotsorte sie kaufen sollte.
„Ach, dann geben Sie mir doch ein halbes von dem Oberländer. Oder, nein, warten Sie, lieber das Dreikorn. Nein, das mag mein Mann nicht. Lieber von dem Weizen. Oder soll ich doch lieber Bauerbrot nehmen…“
Die Verkäuferin verdrehte die Augen und sah Schulter zuckend zu mir herüber. „Komme sofort zu Ihnen.“
Dann spürte ich seinen warmen Atem im Nacken. „Warum willst du schon gehen? Komm.“ Er nahm mich bei der Hand und zog mich zurück zum Tisch. Ohne Gegenwehr folgte ich ihm. Er schob mir den Stuhl hin. Ich setzte mich. „Mein Bus kommt aber gleich.“
„Aber das ist doch längst nicht der letzte Bus. Übrigens, der und die nächsten Busse fahren heute Abend nur bis Bensberg. Ich muss bis Lindlar. Werde mir wohl ein Taxi nehmen müssen.“
„Und jetzt haben Sie nicht mehr genügend Geld dabei und wollen, dass ich Ihnen das Taxigeld auslege. Oder?“
Mit zusammengekniffenen Augen sah er mich an. „Ja, das wäre natürlich sehr nett. Ich überweise Ihnen das Geld selbstverständlich in den nächsten Tagen auf Ihr Konto, wenn Sie mir Ihre Bankverbindung anvertrauen. Spätestens morgen müsste ich meine Rente auf meinem Giro haben. Wahrscheinlich ist sie schon heute gekommen.“
Ich versuchte mich mit einem lauernden Blick. Er lachte. „Ihr Geld kriegen Sie ganz sicher wieder:“
„Als Realistin führe ich Menschen ungern in Versuchung. Wir kennen uns doch kaum. Deswegen werden Sie sich mir noch nicht verpflichtet fühlen.“
Heinz zuckte mit den Achseln. „Realisten leben von der Illusion, keine Illusionen zu haben.“
Ich nickte. „Gut, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie fahren mit dem nächsten Bus mit zu mir, übernachten auf meiner Wohnzimmercouch und wir gehen morgen gemeinsam zum Geldautomaten. Den gibt es bei mir um die Ecke an der Sparkasse.“
„Auch gut!“ murmelte Heinz und lächelte verschmitzt. „Aber wenn Sie mich schon bei sich aufnehmen wollen, sollten wir uns duzen.“
„Ich heiße Christine, aber allen nennen mich Chris.“
„Also, Chris, worauf warten wir. In zehn Minuten geht unser Bus.“
Ich zahlte an der Theke für ihn mit.
Vor der Tür des Cafés nahm er mich bei der Hand. Sie war warm und beruhigte mich.

Als wir wenige Minuten von meiner Wohnung entfernt aus dem Bus stiegen, hakte er sich, ohne mich zu fragen, bei mir unter.
Die Wohnung betrat er zögerlich, als erwarte er eine Gefahr.
„Keine Angst, ich lebe allein!“ ermunterte ich ihn. Er hängte seinen grauen Mantel an die Garderobe im Flur und folgte mir in die Küche.
„Sollen wir zusammen ein Glas Rotwein trinken?“
Ich drückte ihm eine Flasche australischen Shiraz Cabernet und einen Korkenzieher in die Hand und bat ihn, ins Wohnzimmer zu gehen.

Als ich nachkam, saß er auf der Couch, rückte zur Seite und wies mit beiden Händen auf den Platz neben sich. Ich setzte mich und er schob mir ein volles Glas Rotwein hin, hob seines und murmelte: „Auf uns?“
Ich versuchte meine Stimme eindeutig klingen zu lassen. „Auf dich und mich, Heinz im Glück!“
Er lachte, trank hastig, verschluckte sich und musste husten.
Vorsichtig klopfte ich ihm auf den Rücken. Er räusperte sich mehrere Male. „Ich beklaue nur Frauen, die nicht geben wollen. Nur solche.“
Ich sah ihn fragend an.
„Nun ja, ich erkenne die geizigen und gierigen unter ihnen sofort. Sie haben kalte Augen und Stimmen, die nichts mitschwingen lassen. Du, aber… dich könnte ich ausnutzen.“
„Na, Heinz im Glück, und da soll ich dir jetzt wohl besonders dankbar sein?“
„Musst du nicht.“
Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, seinen Blicken nicht ausweichen zu müssen.
Heinz verbrachte die Nacht nicht auf der Wohnzimmercouch.
Er schlief schnell in meinen Armen ein.
Als ich am Morgen gegen acht Uhr wach wurde, war der Platz im Bett neben mir leer. Ich stand auf und ging ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch lagen ein Zwanzig-Euro-Schein und ein Zettel.
Wenn du mich besuchen möchtest, nimm das Taxi. Heinz im Glück. Stand da, alles in etwas krakeligen großen Druckbuchstaben.
 

Retep

Mitglied
Hallo Karl,

deine Geschichte fiel mir wegen des Titels auf, machte mich neugierig.



Irgendwann begann ich in seiner Nähe zu frieren.
- Sehr schöne Formulierung, die viel über eine Beziehung aussagt.

Er ging und ich hatte wieder Zeit für mich.
- Mit wenigen Worten wird viel angedeutet.

die ich nie leibhaftig sehen wollte.
- warum nicht? warum antwortet sie umgehend?

Manchmal ist alles nur lauwarm, mein Schrei heiser, die Zunge belegt. Manchmal klopft
mein Herz dumpf gegen die halbvollen Lungenflügel und meine Abenteuer finden ausschließlich im Fernsehen statt.
- Diese Sätze gefallen mir sehr.

in der ein paar Tische und Stühle auf Gäste warteten,
- streichen ?

er sitze immer überall dazwischen und sei so einer, der in der Menge untertauche, aber viel, viel lieber mutig wäre.
- sehr gelungene Charakterisierung

Schweigend [red]und[/red] widmete er sich dem nächsten Stück Torte
je älter Sie werden [blue],[/blue] desto rascher verrinnen Stunden
griff schnappend einige Male ins Leere
- schnappend ?

Ich versuchte mich mit einem lauernden Blick.
- anders formulieren ?

Du, aber… dich könnte ich [blue]nicht[/blue] ausnutzen
Deine Geschichte habe ich sehr gerne gelesen, konnte mich in die Beziehung einfühlen. Mit wenigen Worten in einer einfachen Sprache wird oft sehr viel ausgedrückt.Die Dialoge finde ich sehr gut.

Ich staune, dass zu diesem Text noch kein Kommentar geschrieben wurde.

Gruß

Retep
 
Hallo Retep,
danke dafür, dass du meinen langen Text gelesen hast. (Lange Text halten offenbar viele vom Lesen ab.) Über dein Lob und deine Verbesserungsvorschläge habe ich mich gefreut.
Letztere werde ich gern berücksichtigen.
Die Stühle und Tische habe ich erwähnt, da nicht in jeder Bäckerei/Konditorei auch bewirtet wird.
Herzliche Grüße
Karl
 
Ja, reichlich gutgläubig bin ich schon. Auch Jan glaubte ich lange. Er war mein Letzter. Ein elender Schmarotzer, der sich meine Liebe und mein Geld nahm und auch sonst vorwiegend um sich selbst kreiste.
Irgendwann begann ich in seiner Nähe zu frieren. Dann wurde er arbeitslos und hatte außer mir mindestens zwei weitere Freundinnen. Vor einem halben Jahr packte ich ihm die Koffer und stellte sie vor die Wohnungstür. Tränenreich versicherte er mir im Treppenhaus, nur ich sei seine einzige wahre Liebe und eine Arbeitsstelle habe er auch längst in Aussicht.
Genau das versicherte er auch seinen anderen beiden Freundinnen. Wir drei hatten inzwischen eine Notgemeinschaft gegen Jan gegründet und telefonierten regelmäßig miteinander.
Er ging und ich hatte wieder Zeit für mich.
Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, las ich viel. Bücher, Zeitungen, Zeitschriften und E-Mails von Leuten, die ich nie leibhaftig sehen wollte. Schon beim ersten Kennenlernen musste ich die Leute anfassen können. Doch weil ich Warterei nicht aushalten kann, antwortete ich ihnen umgehend, während sie sich mit ihren Antworten oft sehr lange warten ließen.
Über Heinrich las ich vor gut vier Wochen in der Zeitung. Die Polizei warnte vor einem älteren Mann, der sich Heinz im Glück nannte.
Der väterlich wirkende ältere Mann spreche vor allem jüngere Frauen an Bushaltestellen an, lasse sich von ihnen in Gaststätten aushalten und leihe sich Geld, weil er das angeblich für ein Taxi brauche, da zu seinem Wohnort um die Zeit kein Bus mehr fahre. Er ließ sich sogar die Kontonummer der Frauen geben, um das geliehene Geld überweisen zu können. Auf diese Überweisung warteten bisher alle von ihm angesprochenen Frauen vergeblich. Wenn er am Ende das Café verlassen wollte, entschuldigte er sich stets damit, noch zur Toilette zu müssen, und verschwand spurlos.

„Manchmal ist alles nur lauwarm, mein Schrei heiser, die Zunge belegt. Manchmal klopft
mein Herz dumpf gegen die halbvollen Lungenflügel und meine Abenteuer finden ausschließlich im Fernsehen statt. Dann ist Leidenschaft Jugendsünde und Vernunft eine äußerst lästige Alterserscheinung. Manchmal ist alles irgendwie dazwischen. Und manchmal bin ich plötzlich unglaublich glücklich, denn wahres Glück kommt immer irgendwie überraschend.“
Eigentlich lass ich mich nicht von wildfremden Männern ansprechen. Doch der Alte stand plötzlich neben mir, während ich auf den Bus wartete, kam mir überhaupt nicht fremd vor, sprach, als würden wir uns schon sehr lange kennen, einfach darauf los, langsam, ohne Pause. Seine Stimme klang beruhigend und verständnisvoll, als würde er alle meine wichtigen Fragen beantworten, obwohl er mich gar nicht zum Fragen kommen ließ.
Als ich in den Bus einsteigen wollte, unterbrach er kurz seinen Redefluss, griff nach meiner Hand und bat mich, den nächsten Bus zu nehmen.
Der kam zwei Stunden später.
Nicht einmal richtig angesehen hatte ich ihn mir, als er mit seiner angenehm warmen Hand nach meiner eiskalten griff und mich mit sich zog.
Ich folgte ihm in eine nahe gelegene Bäckerei/Konditorei, in der ein paar Tische und Stühle für Gäste standen, in der Kaffee ausgeschenkt wurde und er sich ein ungewöhnlich großes Stück mit rosa Marzipan gedeckte Punschtorte bestellte. Ich nahm Apfelkuchen vom Blech, flach und säuerlich.
Wortlos und lächelnd saß er mir eine Weile gegenüber, sah auf sein Tortenstück, blickte mich kurz mit leicht getrübten blassblauen Augen an und sagte schließlich, er sitze immer überall dazwischen und sei so einer, der in der Menge untertauche, aber viel, viel lieber mutig wäre. Manchmal habe er auf einmal Mut und dann beginne eigentlich immer schon sein Glück. Heinrich heiße er. Alle haben ihn früher Heinz gerufen. Und seine wenigen Freunde nannten ihn Heinz im Glück. Dabei sei er nur ein Glückssucher. Der Besitz von Glück sei das Gegenteil von Glück.
Ich nahm einen Schluck des fade schmeckenden Kaffees. „Aber der Typ hieß doch Hans im Glück!“
„Ja, klar, der im Märchen.“
Ich lachte und wartete darauf, dass er weiter redete. Doch da er schwieg, sah ich mich genötigt, etwas zu sagen.
„Wir sind halt keine Märchentypen, wir Normmenschen, die wir nicht mehr an Märchen glauben können.“
Er nickte. „Manchmal habe ich da drinnen auf einmal das Herzklopfen eines Abenteurers. Aber äußerlich bewegt sich nichts. Gar nichts.“ Er öffnete den Reißverschluss seiner grauen ausgebeulten Strickjacke. Darunter trug er ein schwarzes Hemd, das ziemlich weit aufgeknöpft war. Fast andächtig steckte er die Hand in das Hemd und ließ sie auf der Brust ruhen.
Sein kurzes Auflachen klang zufrieden. „Es klopft noch ziemlich heftig. Aber immer wieder stehe ich starr in der Menge, selbst wenn überhaupt keine Menge da ist. Brauche jemanden, der mich da rausholt. Eine wie Sie zum Beispiel, die mein Herz klopfen lässt. Wissen Sie, ich habe hier in der Brust sonst so ein taubes Gefühl. Jetzt nicht.“
Ich lachte. „Abenteuertauglich bin ich eigentlich überhaupt nicht. Und Sie, Sie könnten mein Vater sein.“
„Bin gerade mal dreiundsechzig.“
„Ich ganze dreiunddreißig.“
„Immerhin sind sie solo!“
„Woher wollen Sie das wissen?“
Er kratzte sich am Hinterkopf, glättete anschließend seine grauen Haare und lächelte. „Hab ich so im Gespür. Die Liebe ist übrigens eine Macht. Doch wer nur auf Macht setzt, kann nicht wirklich lieben. Warum sie mich in der Schule schon Heinz im Glück genannt haben, weiß ich eigentlich nicht. Ich war eher Einzelgänger und dabei nicht einmal ein besonders guter Schüler. Eher Durchschnitt.“
Behutsam zog er seine Hand wieder aus dem Hemd, legte sie vorsichtig auf die meine und versuchte, mir in die Augen zu sehen. Ich wich dem Blick seiner ziemlich kleinen Augen aus und zog widerwillig meine Hand vom Tisch zurück. Er ließ die seine auf der Tischplatte liegen, lachte und meinte, als Eroberer sei er nie besonders erfolgreich. Als glücklicher Mensch könne er allerdings abwarten.
„Auf was warten Sie denn?“
Nach kurzem Schulterzucken lehnte er sich auf dem Stuhl zurück, atmete tief ein und langsam wieder aus.
Früher habe er einige Zeit als Versicherungsvertreter gearbeitet und selbst dabei immer abgewartet, bis seine potentiellen Kunden ihn freiwillig in die Wohnung ließen. Er sei nun mal nicht der aufdringliche Typ, der, wie ein unseriöser Staubsauger-Vertreter, seine Schuhspitze zwischen Tür und Rahmen stelle.
Sehr langsam führte er ein Stück Torte von seinem Teller mit der Kuchengabel zum Mund, öffnete Lippen und Gebiss, schob die Torte hinein, kaute ausgiebig und schluckte. „Köstlich, diese Punschtorte.“ Noch langsamer griff er nach der Tasse, führte auch sie zum Mund, schlürfte leise die milchig braune Flüssigkeit in sich hinein und sah mir über die Tasse in die Augen.
„Man muss Zeit genießen können…, was sage ich, nein, ich muss nicht…, ich genieße die Zeit, und das vor allem in so angenehmer Gesellschaft.“
Ich räusperte mich. „Was soll die Schleimerei?“
Schweigend widmete er sich dem nächsten Stück Torte und einem weiteren Schluck Kaffee.
Ich bemühte mich, unbemerkt auf meine Armbanduhr zu sehen. Wollte den Bus keinesfalls verpassen.
„Gerade Sie in Ihrem fast noch jugendlichen Alter sollten sich Zeit nehmen und die genießen, genießen, genießen. Glauben Sie mir, je älter Sie werden desto rascher verrinnen Stunden, Tage und Jahre. Bergab geht es immer schneller und schneller. In knapp 18 Jahre bin ich achtzig. So alt will ich eigentlich gar nicht werden.“
Mit beiden Händen fuhr er sich durch die grauen Haare, lachte und wandte sich danach noch langsamer dem nächsten Tortenstück zu.
„Außer Zeit habe ich sowieso nichts mehr zu verlieren. Na ja, nicht ganz. Ich brauche auch Kontakt zu liebenswerten Menschen, die mir von ihrer Zeit geben.“ Erneut schob er seine Hand über den Tisch auf mich zu, griff demonstrativ einige Male ins Leere und hielt mir beide Hände offen hin.
Ich setzte mich aufrecht, schob den Stuhl mit den Füßen wenige Zentimeter bis an die Wand zurück, zog umständlich den Ärmel meines Pullovers hoch und sah diesmal demonstrativ auf meine Armbanduhr.
In einer knappen halben Stunde würde der Bus kommen.
Plötzlich stand Heinz auf, legte seine rosige Gesichtshaut in ungewöhnlich viele Lachfalten und verneigte sich entschuldigend. Er müsse ganz, ganz dringend zur Toilette. Der Kaffee treibe so.
„Ah, ist es so weit?“ Ich sah ihn lauernd an.
Er schüttelte leicht den Kopf, blickte umher, entdeckte ein WC-Hinweisschild und ging um die Theke herum in den hinteren Bereich des Gastraumes.
Mein Warten würde vergeblich sein. Ich ging nach gut zehn Minuten an die Theke, um zu zahlen. Die Verkäuferin bediente gerade eine ältere Frau mit einer roten Baskenmütze, die sich nicht entscheiden konnte, welche Brotsorte sie kaufen sollte.
„Ach, dann geben Sie mir doch ein halbes von dem Oberländer. Oder, nein, warten Sie, lieber das Dreikorn. Nein, das mag mein Mann nicht. Lieber von dem Weizen. Oder soll ich doch lieber Bauerbrot nehmen…“
Die Verkäuferin verdrehte die Augen und sah Schulter zuckend zu mir herüber. „Komme sofort zu Ihnen.“
Dann spürte ich seinen warmen Atem im Nacken. „Warum willst du schon gehen? Komm.“ Er nahm mich bei der Hand und zog mich zurück zum Tisch. Ohne Gegenwehr folgte ich ihm. Er schob mir den Stuhl hin. Ich setzte mich. „Mein Bus kommt aber gleich.“
„Aber das ist doch längst nicht der letzte Bus. Übrigens, der und die nächsten Busse fahren heute Abend nur bis Bensberg. Ich muss bis Lindlar. Werde mir wohl ein Taxi nehmen müssen.“
„Und jetzt haben Sie nicht mehr genügend Geld dabei und wollen, dass ich Ihnen das Taxigeld auslege. Oder?“
Mit zusammengekniffenen Augen sah er mich an. „Ja, das wäre natürlich sehr nett. Ich überweise Ihnen das Geld selbstverständlich in den nächsten Tagen auf Ihr Konto, wenn Sie mir Ihre Bankverbindung anvertrauen. Spätestens morgen müsste ich meine Rente auf meinem Giro haben. Wahrscheinlich ist sie schon heute gekommen.“
Ich sah ihn lauernd an. Er lachte. „Ihr Geld kriegen Sie ganz sicher wieder:“
„Als Realistin führe ich Menschen ungern in Versuchung. Wir kennen uns doch kaum. Deswegen werden Sie sich mir noch nicht verpflichtet fühlen.“
Heinz zuckte mit den Achseln. „Realisten leben von der Illusion, keine Illusionen zu haben.“
Ich nickte. „Gut, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie fahren mit dem nächsten Bus mit zu mir, übernachten auf meiner Wohnzimmercouch und wir gehen morgen gemeinsam zum Geldautomaten. Den gibt es bei mir um die Ecke an der Sparkasse.“
„Auch gut!“ murmelte Heinz und lächelte verschmitzt. „Aber wenn Sie mich schon bei sich aufnehmen wollen, sollten wir uns duzen.“
„Ich heiße Christine, aber allen nennen mich Chris.“
„Also, Chris, worauf warten wir. In zehn Minuten geht unser Bus.“
Ich zahlte an der Theke für ihn mit.
Vor der Tür des Cafés nahm er mich bei der Hand. Sie war warm und beruhigte mich.

Als wir wenige Minuten von meiner Wohnung entfernt aus dem Bus stiegen, hakte er sich, ohne mich zu fragen, bei mir unter.
Die Wohnung betrat er zögerlich, als erwarte er eine Gefahr.
„Keine Angst, ich lebe allein!“ ermunterte ich ihn. Er hängte seinen grauen Mantel an die Garderobe im Flur und folgte mir in die Küche.
„Sollen wir zusammen ein Glas Rotwein trinken?“
Ich drückte ihm eine Flasche australischen Shiraz Cabernet und einen Korkenzieher in die Hand und bat ihn, ins Wohnzimmer zu gehen.

Als ich nachkam, saß er auf der Couch, rückte zur Seite und wies mit beiden Händen auf den Platz neben sich. Ich setzte mich und er schob mir ein volles Glas Rotwein hin, hob seines und murmelte: „Auf uns?“
Ich versuchte meine Stimme eindeutig klingen zu lassen. „Auf dich und mich, Heinz im Glück!“
Er lachte, trank hastig, verschluckte sich und musste husten.
Vorsichtig klopfte ich ihm auf den Rücken. Er räusperte sich mehrere Male. „Ich beklaue nur Frauen, die nicht geben wollen. Nur solche.“
Ich sah ihn fragend an.
„Nun ja, ich erkenne die geizigen und gierigen unter ihnen sofort. Sie haben kalte Augen und Stimmen, die nichts mitschwingen lassen. Du, aber… dich könnte ich nicht ausnutzen.“
„Na, Heinz im Glück, und da soll ich dir jetzt wohl besonders dankbar sein?“
„Musst du nicht.“
Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, seinen Blicken nicht ausweichen zu müssen.
Heinz verbrachte die Nacht nicht auf der Wohnzimmercouch.
Er schlief schnell in meinen Armen ein.
Als ich am Morgen gegen acht Uhr wach wurde, war der Platz im Bett neben mir leer. Ich stand auf und ging ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch lagen ein Zwanzig-Euro-Schein und ein Zettel.
Wenn du mich besuchen möchtest, nimm das Taxi. Heinz im Glück. Stand da, alles in etwas krakeligen großen Druckbuchstaben.
 



 
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