Zeitgewinn

Gerade hat er in den Spiegel gesehen und hinter sich den Schatten einer Frau erkannt. „Noch nie“, sagt sie, „noch nie habe ich einen Säugling gesehen, der den Kopf eines so alten Greises hat.“ Aus dem Spiegel sieht ihn aus trüben Augen ein alter Mann an, der ihm mit kurzen Kinderarmen zuwinkt.
Helmut Rasande liegt weder in seinem Schlafzimmer noch in seinem Doppelbett, das er mit Karin teilte. An einem Montagmorgen im vergangenen Jahr lag sie tot neben ihm. Die Herbstsonne scheint wie damals. Durch den Spalt im Fenstervorhang auf ihr bläulich blasses Gesicht. Karin atmete einfach nicht mehr.
Erika – sie zogen vor ein paar Wochen zusammen - bewegt sich, lächelt ihn an. Vorsichtig wagt er sich zu strecken.
„Bleib ruhig liegen.“ Ihre Stimme klingt betont sanft.
Seit Monaten schläft er schlecht, grübelt, schläft ein/zwei Stunden, grübelt weiter. Wird er wach, ist er nie sicher, ob er nur vom Erwachen träumt.

Helmut verabscheut enge Fahrstühle.
Die Tür schließt sich unmittelbar, nachdem die junge Mutter den Kinderwagen mit ihrem lauthals schreienden kahlköpfigen Kind hinein schob. Helmut kann nicht entkommen.
Zudem bleibt der Fahrstuhl des wenig Vertrauen erweckenden, weil lange nicht mehr renovierten Wohnhochhauses genau zwischen dem 12. und 13. Stockwerk stecken. Der Telefonapparat im Lift, der dazu dienen soll, Hilfe herbeizurufen, ist tot und weder durch Schütteln noch durch Klopfen zum Leben zu erwecken. Ein roter Alarmknopf lässt sich drücken, löst aber keine Warnsignale aus.

Einer Kirche oder Sekte, die ihn zum unerschütterlichen Gläubigen machen könnten, hängt Helmut nicht an. Er versucht zu glauben. Zum Beispiel an das Göttliche des Allmächtigen, für ihn ein ständiger Geschwindigkeitsmachtrausch. Gott kann in unglaublicher Geschwindigkeit machen, was er will.
Helmut sucht zwischen Gefühl und Vernunft Kompromisse, Altersweisheit, die ihn davor bewahren soll zu altern.
Obwohl beinahe siebenundsechzig, mag er es weder langsam noch lauwarm. Seinen Fahrstil passte er seinem Alter an. Hut trägt er beim Fahren selbstverständlich nicht. Doch kaum entdecken jüngere Verkehrsteilnehmer seinen silbergrauen Haarschopf hinter dem Lenkrad, bedienen sie die Lichthupe, fahren nah auf und versuchen, selbst in heikelsten Situationen ihn möglichst noch rechts zu überholen.

Die Mutter, Kopftuchträgerin, klein, dunkeläugig, offenbar Türkin, sieht zu Boden und schaukelt schweigend Kinderwagen und schreiendes Kind.
Er versucht es mit tolerierendem Lächeln. Zu seinem Erstaunen erwidert es die Mutter.
Auf die brüllende Göre hat ihr gemeinsames Lächeln keinerlei beruhigenden Einfluss. Verzweifelt drückt Helmut Rasande auf alle Knöpfe, die er im Fahrstuhl findet. Der Lift bewegt sich nicht. Der kleine Dunkelhaarige mit dem kreisrunden Schallloch in mitten seines hochroten Kopfes strampelt, rudert mit beiden Armen, windet sich wild in seinem schaukelnden Wagen hin und her.
Noch einmal drückt Rasande auf den roten Knopf, sieht auf die Uhr und stellt fest, bereits mindestens fünf Minuten zu spät zu Erika zu kommen, mit der er im 15. Stock des wenig Vertrauen erweckenden Hochhauses wohnt. Wut sticht ihn in die Magengegend. Er hebt die rechte Faust, lässt sie sinken, tritt mit dem Fuß gegen den Kinderwagen. Der Schreihals hält inne, kreischt danach noch lauter. Seine Mutter lächelt vor sich hin.
Wütend sieht Helmut auf ihr rot geblümtes Kopftuch herab.
Sie überlässt dem Kleinen ihren Zeigefinger, an dem der gierig zu saugen beginnt.
Helmut Rasande ballt beide Fäuste, vergräbt sie in den Taschen seines Anoraks. Die Mutter sieht einen Moment lang lächelnd zu ihm auf.
In dem Augenblick lässt der Kleine von ihrem Zeigefinger ab und beginnt wieder zu brüllen.

Helmut weiß nicht mehr ganz genau, was er tat. Wahrscheinlich nahm er das Kind hoch und warf es in den Wagen zurück. Die Mutter wollte ihn daran hindern. Er stieß sie zurück, sie rutschte aus. Der Fahrstuhl setze sich in Bewegung.
Als die Fahrstuhltür sich öffnete, floh die Mutter schreiend in den langen Flur des 15. Stockwerks. Wohnungstüren öffneten sich spaltweit, dahinter erkannte er verschreckte Gesichter.
Eine Tür wurde aufgerissen.
Der breitschultrige dunkelhaarige Kerl schlug sofort zu. Ein paar Mal. In sein Gesicht.
Als Helmut aufwachte, lag er in ihrem schmalen Doppelbett. Erika neben ihm richtete sich auf. „Bleib ruhig liegen“. Sie lächelte. „Du hast alle Zeit der Welt.“ Vorsichtig streichelte sie seinen nackten Oberarm und er spürte die Zeit.
 



 
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