Zeitnahmen

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Heute Morgen brauchte Helmut Rasande viel Zeit, um zu erkennen, wo er war. In seinem Schlafzimmer nicht und selbstverständlich auch nicht in seinem breiten Doppelbett, das er mit Karin teilte, bis sie am jenem Morgen vor jetzt gut zwei Jahren tot neben ihm lag. Die Sonne schien durch den Spalt im Fenstervorhang auf ihr bläulich blasses Gesicht. Sie lag da und atmete einfach nicht mehr.
Erst als er Erika neben sich erkannte, die sich bewegte und ihn anlächelte, wagte er sich vorsichtig zu strecken und zu recken. Behutsam nahm sie ihn in den Arm.

Lange hatte er im Halbschlaf vor sich hingedacht. Viele seiner mühsam ergrübelten Erkenntnisse, würde er gern schnell in die Tat umsetzen. Noch lieber wäre er von jener unerschütterlichen Gelassenheit, die manche in seinem Alter zu besitzen vorgeben. Andererseits, alles was ihn in echte Lebensgefahr bringt, insbesondere überhöhte Geschwindigkeiten, versetzen ihn in jene Rauschzustände, die sein ansonsten gemächliches Dasein mit Risiko und Abenteuer anreichern. Obwohl er keiner Kirche oder Sekte angehört, die ihn zum unerschütterlichen Gläubigen machen könnte, versucht er zu glauben, zum Beispiel an das eigentlich Göttliche des Allmächtigen, dass nichts Anderes sein könne, als ein ständiger Rausch, ein Geschwindigkeitsmachtrausch, in dem Gott in unglaublicher Geschwindigkeit macht, was er will. Ein bisschen dieser Göttlichkeit hätte er gern.
Aber Helmut Rasande verfällt besonders nach Karins Tod von Monat zu Monat mehr seinen schier unendlichen Grübeleien, leidet deswegen an Schlaflosigkeit und Übermüdung, und versucht eigentlich nur, irgendwo zwischen Gefühl und Vernunft seine Kompromisse zu finden, die für ihn Altersweisheit bedeuten und ihn gleichzeitig davor bewahren, vorzeitig zu altern.
Mit jedem neuen Lebensjahr bemüht er sich intensiver um Ausgleich zwischen kühlem Kopf und hitzig-kitzeligen Aufwallungen, die sich besonders unterhalb der sogenannten Gürtellinie abspielen. Obwohl beinahe siebenundsechzig, mag er es einfach noch nicht langsam und lauwarm. Dabei neigt er nicht grundsätzlich zu fahrlässiger Unvernunft. Seinen Fahrstil, zum Beispiel, hat er durchaus seinem Alter angepasst, ohne gleich Warnsignale, wie Wackeldackel und umhäkelte Toilettenpapierrolle auf der Ablage am Heckfenster seines Autos herumzufahren. Hut trägt er beim Fahren selbstverständlich auch nicht. Doch kaum entdecken jüngere Verkehrsteilnehmer mit schnellen Fahrzeugen seinen silbergrauen Haarschopf hinter dem Lenkrad, bedienen sie die Lichthupe, fahren nah auf und versuchen, selbst in heikelsten Situationen ihn möglichst noch rechts zu überholen.
Im Alter besteht offenbar nicht nur im Straßenverkehr die Gefahr, zu viel Zeit von Mitlebenden zu beanspruchen.
Nun könnte dies wie eine Mitleid heischende Klage darüber klingen, dass niemand und schon gar kein jüngerer Zeitgenosse sich für Helmut Rasande Zeit nimmt.
Aber Kinderkundige wissen, nicht nur Alten sondern auch den Jüngsten unter den Menschlichen werde zu wenig Zeit gewidmet. Und im Übrigen klagen eigentlich alle Leute, die Helmut Rasande kennt, über Zeitmangel. Wer Zeit übrig hat, macht sich bekanntlich verdächtig, bei seinen Zeitgenossinnen und –genossen nicht ausreichend gefragt zu sein.
Natürlich weiß Helmut, Säuglinge brüllen vor allem, damit man ihnen Zeit widme. Dennoch hasst er die kleinen Schreihälse.
Und er verabscheut enge Fahrstühle.
Besonders wenn junge hilflose Mütter einen Kinderwagen mit ihrem lauthals schreienden Kind hinein schieben, versucht Helmut Rasande noch schnell, bevor sich die Tür schließt, dem Lift zu entkommen.
Gestern misslang die Flucht. Zudem blieb der Fahrstuhl des wenig Vertrauen erweckenden, weil lange nicht mehr renovierten Wohnhochhauses genau zwischen dem 12. und 13. Stockwerk stecken. Der Telefonapparat im Lift, der dazu dienen soll, Hilfe herbeizurufen, war tot und weder durch Schütteln noch durch Klopfen zum Leben zu erwecken. Und ein roter Notknopf ließ sich zwar drücken, löste aber keinerlei Warnsignale aus.
Die Mutter, Kopftuchträgerin, klein, dunkeläugig und daher offenbar eine Türkin, schaukelte schweigend Kinderwagen und Kind und sah schuldbewusst zu Boden.
Er versuchte es mit tolerierendem Lächeln, das die Mutter zu seinem Erstaunen, ohne aufzusehen, höflich erwiderte.
Auf den schreienden Sohn hatte ihr gemeinsames Lächeln keinerlei beruhigenden Einfluss. Verzweifelt drückte Helmut Rasande auf alle Knöpfe, die er im Fahrstuhl fand. Der Lift bewegte sich nicht, nur der kleine Dunkelhaarige mit dem kreisrunden Schallloch in mitten seines hochroten Kopfes strampelte, ruderte mit beiden Armen, wand sich wild in seinem schaukelnden Wagen hin und her und schrie und schrie.
Die kleine Mutter sah weiter betreten auf den Fahrstuhlboden, piepste etwas in ihrer Sprache und zuckte mit den Schultern.
Noch einmal drückte Rasande nachhaltig auf den roten Knopf, sah auf die Uhr und stellte fest, bereits mindestens fünf Minuten zu spät zu Erika zu kommen, die er vor einigen Tagen bei einer 50plus-Party kennen lernte und die im 15. Stock dieses wenig Vertrauen erweckenden Hochhauses wohnte. Wut stach ihn heftigst in die Magengegend. Kurz hob er die rechte Faust, ließ sie sinken, trat mit dem linken Fuß gegen den Kinderwagen. Der Schreihals hielt inne, kreischte danach noch lauter und seine dunkeläugige Mutter lächelte noch verlegener vor sich hin.
Nun hatte er gewiss nichts gegen Ausländer. Aber manche wollen partout kein Deutsch reden und verstehen. Wer sich nicht einleben will, und dafür muss man wenigstens die Landessprache einigermaßen beherrschen, soll gefälligst wieder in sein Herkunftsland verschwinden.
Wütend sah er auf das rot geblümte Kopftuch herab, während sie in kurz flehend ansah.
Wenn Helmut Rasande etwas nicht ausstehen kann, dann unterwürfig flehende Blicke.
„Glotzen Sie mich nicht so an!“
Die Frau schob ihren Wagen ein Stück auf ihn zu, verbeugte sich leicht und versuchte ihrem Kind den Mund zuzuhalten.
Schließlich überließ sie dem Kleinen ihren Zeigefinger, an dem der gierig zu saugen begann.
Helmut Rasande ballte beide Fäuste, vergrub sie in den Taschen seines Anoraks, holte tief Luft und atmete hörbar aus. Wieder sah die Mutter kurz lächelnd zu ihm auf.
„Hörn Sie sofort auf so hilflos zu grinsen!“ knurrte er.
In dem Moment ließ der Kleine von ihrem Zeigefinger ab und begann wieder zu brüllen.
Heute weiß Helmut nicht mehr ganz genau, was er tat. Jedenfalls muss er das Kind hochgenommen und in den Wagen zurückgeworfen haben. Und da der immer noch nicht aufhörte zu schreien, wiederholte er es, obwohl die Mutter ihn daran hindern wollte. Er weiß noch, er stieß sie zurück, sie rutschte aus und der Fahrstuhl setze sich plötzlich in Bewegung.
Erinnern kann er sich noch daran, wie sich die Fahrstuhltür öffnete, die Mutter laut schreiend in den langen Flur des 15. Stockwerks floh und sich einige Wohnungstüren einen Spalt weit öffneten, hinter denen er verschreckte Gesichter erkannte.
Dann stand plötzlich der breitschultrige dunkelhaarige Kerl vor ihm und schlug zu. Ein paar Mal. Mitten ins Gesicht.
Als er zum ersten Mal wieder aufwachte, lag er auf dem Boden des Hochhausflurs. Erika beugte sich über ihn und streichelte seine schmerzende Wange.
Und als er ein zweites Mal zu sich kam, lag er in einem schmalen Doppelbett, während Erika neben ihm auf der Bettdecke hockte.
„Bleib ganz ruhig liegen“, bat sie und lächelte. „Du hast alle Zeit der Welt.“ Vorsichtig streichelte sie seinen nackten Oberarm und er spürte, wie gut ihm Zeit tat.
 
O

Orangekagebo

Gast
Zum lieben ist er nicht, der Helmut, aber wie Du ihn beschrieben hast, finde ich gut.
Auch die Schläge hat er wohl verdient, dieser Kinderhasser und was noch alles ...

Gruß, Karsten
 



 
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