Zeitpunkte

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Vera-Lena

Mitglied
Zeitpunkte

Es ist spät,
aber in der Frühe
gürtet sich die Hoffnung
mit einem Seidenschal
auf der anderen Seite
des Globus,
immer zeitversetzt
sammelt sie ihre Kräfte.

Es ist nie zu spät
dröhnt es von deinem Kalenderblatt
und der Pirol
benennt sich stündlich
neu.

Es könnte spät werden,
wenn der Scheidesommer
in seine Stürme
strauchelt,
Überhastetes bei sich hat
in seinen Juli-Tränen.

Wie spät ist es,
fragst du hinein
in den früh verblühten Holunder.

Seine aufquellenden jungen Beeren
kennen nur eine Antwort:
Es ist jetzt.
 

MarenS

Mitglied
Das gefällt mir Vera-Lena.
Besonders die Schlusszeilen haben es mir angetan. ...aber eben nicht nur die.

Grüße von Maren
 

Joh

Mitglied
Hallo Vera-Lena

Einmal ein ganz anderes Gedicht über die Zeit/die Jahreszeiten,und wie man sie empfindet, schon mit dem raffinierten Einstieg in der ersten Strophe, hast du mich hineingezogen, und ich habe es genossen. Das werde ich mehrmals lesen.

LG Johanna
 
D

Drew

Gast
Hallo,

ein wunderbares Gedicht.
Der Begriff "gürtet" lässt einen Lederriemen ahnen, doch es ist ein Seidenschal. Wie schön.
"wenn der Scheidesommerin seine Stürme strauchelt"
Würde man schreiben in "seinen" Stürmen strauchelt, würde es einen anderen Sinn ergeben, nicht wahr? Ich überlegte nur.
"Überhastetes bei sich hat"
Könnte man nicht eher sagen "bei sich trägt". Klingt irgendwie schöner.(?)

Ein wunderschöner Schluss.

Drew
 

Vera-Lena

Mitglied
Hallo, ihr Lieben,

über Eure Antworten habe ich mich sehr gefreut. :)

@Drew,

ja, das sehe ich auch so: "er strauchelt in seinen Stürmen" würde eine andere Aussage machen, als wenn der Scheidesommer in seine Stürme (hinein)strauchelt.

"Überhastetes bei sich [blue]trägt[/blue]" Danke für Deinen Vorschlag! Leider kann ich ihn nicht übernehmen, weil unter dem "trägt" dann die "Tränen" zu stehen kommen, und diese zwei "ä" würden die Satzmelodie kaputt machen. Ich lese grundsätzlich alle Gedichte sämtlicher Autoren [red]laut[/red]. Erst dann entfalten sie ihren Reiz, ihre Schönheit und ihre Fülle für mich.

@Thys

Ja, natürlich, es ist jetzt, und je mehr "Jetzt", also je mehr Haltepunkte und Stille-werden wir in unser Leben die Kraft haben, einzufügen, umso erfüllter wird es.

@MarenS und Johanna

Es tut immer so gut, wenn ein Text bei Lesern etwas auslösen kann.

Euch Allen meinen herzlichen Dank!
Liebe Grüße von Vera-Lena
 

mitis

Mitglied
"scheidesommer" - naja...muss mal überlegen, welche assoziationen sich da in mir auftun...

und vielleicht "in seine stürme stolpert" statt "strauchelt"?
 

Inu

Mitglied
Liebe Vera Lena

Das Wort 'Scheidesommer' nimmt dem Gedicht etwas von seinem Zauber, weil man als Leser zu assozieren gezwungen wird ( unser 'Bauchgefühl' springt nun mal auf solche Reizworte an. Dabei ging - zumindest bei mir - ein Teil der aufgebauten Stimmung verloren. Mein inneres Empfinden wurde gestört.

Außerdem: auch als Bezeichnung für den hinscheidenden Sommer begeistert mich das Wort nicht wirklich.

Der letzte Vers ist sehr schön.

LG
Inu
 
P

penelope

Gast
liebe vera-lena,

du hast hier ein großes gedicht entworfen, indem du einen echten tonfall für erinnerungen und reminiszente stimmungen zu finden wagtest. ein zeitlicher ablauf, der sich mit ertastenden beschreibungen bewegt, der nur mühsam mit momenten einer verklärten erinnerung und versatzstücken einer romantisch durchsehnten, lastenden dingwelt gefüllt wird, um sich am ende von vergangenheit und zukunft befreien zu können...

einige kleinigkeiten, die den sonst ungeheuer innewohnenden rhythmus stören, will ich dir (natürlich nur als subjektiver vorschlag, da dein rhythmusgefühl ein ganz anderer sein kann) versuchen aufzuzeigen: dabei geht es einige füllwörter zu streichen, die erklärung mit der "anderen seite des globus" braucht der leser nicht so wirklich, da du in deinen anderen bildern ja auch vage bleibst (was ich wirklich hervorragend finde). und aus dem scheidesommer würde ich nur sommer machen, allein stehend hat es viel mehr wucht:

Zeitpunkte

Es ist spät,
aber in der Frühe
gürtet sich die Hoffnung
mit einem Seidenschal
(auf der anderen Seite
des Globus,)
immer zeitversetzt
sammelt sie ihre Kräfte.

Es ist nie zu spät
dröhnt es [strike]von deinem[/strike] vom Kalenderblatt
und der Pirol
benennt sich stündlich
neu.

Es könnte spät werden,
wenn der [strike]Scheidesommer[/strike] Sommer
in seine Stürme
strauchelt,
Überhastetes bei sich hat
in seinen [strike]Juli-Tränen[/strike] Julitränen.

Wie spät ist es,
fragst du hinein
in den [strike]früh[/strike] verblühten Holunder.

Seine [strike]aufquellenden[/strike] jungen Beeren
kennen nur eine Antwort:
Es ist jetzt.


alles natürlich ohne anspruch auf irgendetwas. für mich jedenfalls einer der wenigen gedichte in diesem forum, die mich echt umgehauen hat...

lg penelope
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe mitis, liebe Inu, liebe Moni,

danke für Eure freundlichen Rückmeldungen! :)

Den Scheidesommer" werde ich herausnehmen. Liebe Inu, er war nicht gedacht als "scheidender Sommer", sondern eher als ein schmerzhaftes Erleben, das nahelegte, dass es sich hier um den letzten Sommer eines Menschen handeln könnte. Aber das kann man natürlich nicht in ein Wort hineinpacken, obgleich ich mir dachte, dass die Juli-Tränen dazu in Beziehung gesetzt, vielleicht doch ein Ahnen davon heraufbeschwören könnten.

Euch ein schönes Wochenende!
Liebe Grüße von Vera-Lena
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe penelope,

danke für Deine Interpretation und für Deine deutlichen Kritikpunkte!

Es freut mich, dass der Text in Dir eine Leserin gefunden hat, die ein literarisches Vergnügen daran haben kann.

Besonders dankbar bin ich für Deine konkreten Vorschläge, denn dabei handelt es sich, zumindest in den oberen Strophen um die Dinge, zu denen ich selbst noch keinen Abstand habe.

Ich werde einiges übernehmen.

Den"früh verblühten Holunder" und die"aufquellenden jungen Beeren" brauche ich aber um der Musikalität willen. Der Text gewinnt an Melodik je näher er dem knappen aber inhaltsschweren "jetzt" entgegengeht. Das ist mir wichtig.

Dir ein schönes Wochenende! :)
Liebe Grüße von Vera-Lena
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe mitis,

danke für deinen abermaligen Vorschlag!

"Der letzte Sommer" würde sich in der Gesamtheit des Texts zu kokret ausnehmen. So empfinde ich das.

Nomals Danke!

LG
Vera-Lena
 

Vera-Lena

Mitglied
Zeitpunkte

Es ist spät,
aber in der Frühe
gürtet sich die Hoffnung
mit einem Seidenschal,
immer zeitversetzt
sammelt sie ihre Kräfte.

Es ist nie zu spät
dröhnt es vom Kalenderblatt
und der Pirol
benennt sich stündlich
neu.

Es könnte spät werden,
wenn der Sommer
in seine Stürme
strauchelt,
Überhastetes bei sich hat
in seinen Julitränen.

Wie spät ist es,
fragst du hinein
in den früh verblühten Holunder.

Seine aufquellenden jungen Beeren
kennen nur eine Antwort:
Es ist jetzt.
 

Inu

Mitglied
Hallo Vera Lena

Liebe Inu, er war nicht gedacht als "scheidender Sommer", sondern eher als ein schmerzhaftes Erleben, das nahelegte, dass es sich hier um den letzten Sommer eines Menschen handeln könnte. Aber das kann man natürlich nicht in ein Wort hineinpacken, obgleich ich mir dachte, dass die Juli-Tränen dazu in Beziehung gesetzt, vielleicht doch ein Ahnen davon heraufbeschwören könnten.
Das hatte ich schon begriffen.
Scheidesommer:
1. dahinscheidender Sommer
2. Sommer, der zwei Wirklichkeiten/ Lebensabschnitte/ Menschen von einander trennt
3. auch 'letzter Sommer'

Man könnte noch mehr Assoziationen dazu finden ... nur werden die Gedanken des Lesers zuerst einmal in eine Richtung gelenkt, in der Du sie nicht haben willst - und die mich im Gedicht störte - und dann erst zu den anderen Möglichkeiten. Das habe ich damit gemeint. Aber Du hast es ja schon verändert.

Liebe Grüße
Inu
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Inu,

danke für Deine erneuten ausführlichen Erläuterungen. Ja, manchmal kann man nicht sofort erkennen, was da störend im Wege ist. Leselupe sei Dank, bekommt man ja oft eine Unterstützung.

Liebe penelope,

danke für Dein "wunderbar", ich höre es direkt
aus einem Musical. C'est magnifique *lach*


Liebe Grüße Euch Beiden!
Vera-Lena
 



 
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