Zeitreise

ThomasStefan

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Zeitreise



Wie lange ist es eigentlich her, dass ich mit dieser Buslinie, der A4, fuhr? Vierzig Jahre, oder doch eher fünfzig? Jedenfalls war ich ein Schulkind in Berlin und musste quer durch die Stadt von Neukölln bis in den Tiergarten fahren, um diese verdammte Elitenschule besuchen zu können. Zum Glück nicht lange, wir haben die Stadt alsbald verlassen, wegen der vielen politischen Krisen, damals, in den Sechzigern.

Seinerzeit hatte ich eine Monatskarte, mit Wertmarken freigemacht, sie baumelte um den Hals. Heute stürzen mit mir viele in den Bus, durch alle Türen. Müssen die nicht zahlen? Nur ich Blödmann bleche vorn beim Fahrer. Haben die anderen alle schon Karten, oder fahren sie schwarz?

Diese Doppeldecker gibt es immer noch, und auch der Geruch ist der gleiche geblieben, ich habe ihn wieder in der Nase. Doch alles andere hat sich verändert: Die meisten Menschen, die ein- und aussteigen, haben, wie man heute sagt, einen Migrationshintergrund, deutlich mehr als bei uns in der Provinz. Vielleicht täusche ich mich diesbezüglich. Einige der Frauen tragen Kopftuch, aber die meisten auf eine recht flotte Weise, nur wenige sind sittsam-streng gekleidet. Man spürt, diese Gruppen sind einander völlig gleichgültig, auch schwingt ein klein bißchen Verachtung mit. Und dann diese blutjungen, grell geschminkten Mädchen, 12 oder 13 sind sie höchstens. Alle bewacht von flotten Jungs, dunkle Typen, Basecap, Goldkettchen. Sind es die Brüder oder schon die Freunde? Gab es das damals schon, zu unserer Zeit? Tja, wer so fragt, ist alt, ich muß es mir eingestehen.

Einige steigen mit dem Handy am Ohr ein und später wieder aus, quatschen unaufhörlich. Das Leben - eine einzige Flatrate. Mir gegenüber knutscht ein Pärchen ganz heftig, beide ziemlich jung. Alle sollen es sehen. Das erinnert mich an meinen ersten Kuß, hier in solch einem Bus.
Sieben oder acht Jahre alt war ich, und er kam urplötzlich zustande, natürlich nur auf die Wange. Ein richtiger Schmatz, von einer Schulkameradin. Die strahlte danach wie nach einem gelungenen Streich. Ich dagegen bin ganz schnell ausgestiegen. Natürlich habe ich keinem davon erzählt. Und ich bin nie wieder mit ihr Bus gefahren.

Ich schaue nach draußen, wir fahren den Columbiadamm entlang. Links das Schwimmbad, in dem ist oft mit meinem großen Bruder gewesen bin. In den Schwimmpausen lagen wir auf breiten Betonstufen in der prallen Sonne, und manchmal genehmigte er sich eine große Konservendose mit Pfirsichen - Peaches, original aus Amerika. Erst wurde sie mit dem Taschenmesser aufgestoßen, der Zuckersaft ausgetrunken, dann die Dose ganz geöffnet und die Pfirsiche verspeist/verschlungen. Das muß er sich dort von anderen abgeguckt haben. Heute wird mir schlecht bei dem Gedanken.

Auf der rechten Seite gab es damals einen Tennisclub, in dem ich Bälle gesammelt habe, entweder nur zum Spaß, oder für eine kleine Tafel Schokolade oder einen Fünfziger - gemeint ist natürlich die geriffelte Münze, die mit er knieenden Frau. Ein Stück weiter kommt der Flughafen Tempelhof. Das Luftbrückendenkmal streckt immer noch seinen Krallen in den Himmel. Und etwas weiter, Mehringdamm. Hier habe ich den kleinen, batteriebetriebenen Roboter bekommen, mein Abschiedsgeschenk aus Berlin. Ich, zehn Jahre alt, war so unendlich traurig, diese Stadt verlassen zu müssen.

Die Strecke dahinter sagt mir nichts mehr, die Erinnerung ist inzwischen weg. Endlich erreichen wir den Tiergarten, ich steige aus. Es ist nicht mehr meine Stadt. Ich fühle mich wie ein entfernter Verwandter aus Amerika, der „Hello“ sagt - doch niemand guckt.
 

Haremsdame

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Hallo ThomasStefan,

ich bin sehr gerne mit Dir durch Berlin gefahren! Da wir altersmäßig nicht weit auseinander sind, gehen mir in Bezug auf die jungen Küken manchmal ähnliche Gedanken durch den Kopf :).

Mir gefällt, wie Du die Erinnerung an der Realität misst. Es ist erstaunlich, was sich in einem so kurzen Leben alles verändert...
 

ThomasStefan

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Hallo Haremsdame!
Vielen Dank für deinen Kommentar.
Es sind tatsächlich alles originäre Erinnerungen an meine frühe Jugendzeit in Berlin. Die Realität ist besser als jede Erfindung, wenn man etwas schreiben will.
Beste Grüße, Thomas
 



 
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