Zeitzeichen

4,00 Stern(e) 2 Bewertungen

Pinky

Mitglied
Das Blau wirkte irgendwie gelblich, das Rot schwarz und das Grün war mehr orange und roch außerdem ziemlich streng. Bilder zogen in rascher Abfolge vorüber, waren nicht mehr als ein kurzes Aufblitzen, ein Flackern, sie gingen ineinander über, verschmolzen zu einem Film wie bei einem alten Cinematograph, nur dass die Bilder nicht zusammenpassten. Und alles wurde begleitete von einem schrillen Pfeifen und einem dumpfen, scheppernden Dröhnen. Doch von all dem war hier drinnen nichts zu hören. Die Saturn Z3 war schalldicht entworfen, und dass man die wenigen, kleinen Sichtlöcher während der Fahrt nicht öffnen konnte, hatte auch seinen guten Grund. Einer der Pioniere hatte es einmal ohne verschlossene Sichtlöcher versucht, um alle Eindrücke der Reise aufnehmen zu können - seither wurde er in allen Geschichtsbücher und fachspezifischen wissenschaftlichen Werken erwähnt, allerdings ist es nie jemandem gelungen, ihm das klarzumachen. Bis zu seinem frühen Tod hatte man ihm eine Sonderbehandlung in einer dafür geeigneten Anstalt zukommen lassen.
So konnte man die Verschlüsse der Sichtlöcher erst öffnen, wenn man angekommen war, und so erfuhren weder Karl noch Moses von den kaleidoskopartigen Bildern rund um ihr Vehikel. Doch sie waren daran ohnehin nur gelinde interessiert: Karl hörte Walkman und Moses döste vor sich in, die Füße auf das Steuerpult hochgelagert.
"Meine Damen und Herren, wir erreichen in Kürze unsere Zielzeitzone. Ich darf Sie bitte, das Rauchen einzustellen und die Gurte anzulegen." verkündete die unpersönliche Lautsprecherstimme einer arbeitslosen Schauspielerin, die schon seit gut fünfzig Jahren tot war.
Moses räkelte sich in seinem Sitz empor und stieß Karl neben ihn an. Dieser schreckte hoch und starrte seinen Beifahrer etwas entgeistert an. Dann pflückte er sich den Walkman aus den Ohren.
"Sind gleich da", stellte Moses knapp fest und deutete dabei zur Decke, dorthin, wo sich vielleicht der Lautsprecher mit der Frauenstimme befand. Die Aufnahme wurde heutzutage nur noch von Billigzeitreiseveranstaltern verwendet, da sie immerhin ihren Zweck erfüllte, und von einem solchen hatten Karl und Moses die Saturn Z3 erworben. Zwar ging ihnen das Gekrächze der verblichenen Dame vehement auf die Nerven, trotzdem montierten sie den Lautsprecher nicht einfach ab, da er als eine Art Wecker immer noch gute Dienste leistet, wie er es eben getan hatte.
"Noch alles in Ordnung?" wollte Karl wissen. Vor ihnen auf dem Steuerpult blinkten und leuchteten etliche Lichter und flackerten diverse Anzeigen, unterstützt von einer Unzahl von Knöpfen, die wuchtig prunkten, und von einem Großteil derer Karl und Moses nicht einmal die Funktion kannten. Sie waren fähig, die Zeitmaschine zu starten und wieder zurück zu bringen, und das genügte ihnen.
Moses warf einen Blick auf mehrere der Anzeigen. Sie waren mit dem zum Frachtraum umkonstruierten Passagierraum verbunden und im Nachhinein zusätzlich angebracht worden. Wassertemperatur und Sauerstoffgehalt waren normal. Der Salzanteil hätte etwas höher sein können, befand sich aber immer noch innerhalb der tolerierbaren Grenzen. Aus irgendeinem Grund war die Lufttemperatur gestiegen und auch die Luftfeuchtigkeit. Da unten musste es das Klima eines Gewächshauses haben, aber das würde dem Vieh wohl kaum viel ausmachen, immerhin war es ja doch unter Wasser. Außerdem war es ja nicht mehr lange.
"Wir verlassen nun unsere vorgeschriebene Reisedimension", verkündete die Lautsprecherstimme. Nun wurde es für die beiden Piloten langsam Zeit, auf manuelle Steuerung umzuschalten. Das Surfen durch den Zeitstrom ging zwar schon größtenteils automatisch, doch Start und Landung mussten immer noch von Hand erfolgen. Wenigstens in dieser alten Saturn.
"Nimm du den Knüppel", beorderte Moses seinen Beifahrer.
"Was'n? Wieso ich?" wollte dieser wissen.
"Weil ich uns schon bei der Hinreise runter- und wieder weggebracht habe. Und das war gar nicht mal so einfach in dieser Wildnis. Außerdem muss ich die Kontrollen hier im Auge behalten."
"Was macht unser Dino?" erkundigte sich Karl.
"Noch kerngesund. Ich hoffe, das bleibt er auch, bis ihn der Zoo in Händen hält."
"Und wir den Scheck."
"Und wir den Scheck", bestätigte Moses. Es verhielt sich nämlich so, dass sich unten in ihrem umgebauten Frachtraum in einem ultraleicht Plexiglas-Titaniumtank ein waschechter Plesiosaurus befand, dessen Bestimmung es war, in einem Becken des Zoos von Los Angeles zu landen, um dort den Besuchern als neue Attraktion zu dienen. Bereits einige Jahre nach Entdeckung und Reifung der Zeitreisen hatte die profitable Ader der Menschen zugeschlagen und es war gang und gäbe geworden, ausgestorbene Tierarten aus der Vergangenheit zu holen, um sie teuer zu verkaufen und auszustellen: Dinosaurier, Mammuts, Nashörner, arbeitende Beamte (man hatte das einzige Exemplar aufgespürt und mitgenommen) und so weiter. Später war man dann einen Schritt weitergegangen und hatte sich noch mehr geholt: Biedermeiermöbel fürs Wohnzimmer, kleinere Naturwunder für den Vorgarten und Elvis Presley, der nun jeden Abend in Graceland vor seinem Grab sang.
Auch Moses und Karl beteiligten sich an diesem durchaus lukrativen Geschäft, wobei sich ihre Tätigkeit nicht immer gänzlich innerhalb der gestatteten Normen und Regeln befand. Dinge, wie etwa Fangerlaubnis und Transportgenehmigungen hielten sie für überflüssige Zeitverschwendung. Dennoch gelang es ihnen immer wieder, den Käufern reguläre Papiere für ihre Waren übergeben zu können.
"Landungssequenz eingeleitet", stellte Karl fest. "Alle Werte normal. Setze nun zum Absenken der Reisegeschwindigkeit und zum Wechsel in frequentiell niedrigere Zeitdimensionen an. - Druckausgleich." Da im Zeitgefüge starker temporaler Druck herrscht, ist es nötig, sich diesem anzupassen, da es ansonsten geschehen kann, dass sämtliche Einzelteile aller Beteiligten in fünfzig verschiedenen Momenten in die Geschichte platschen.
"Druckausgleich erfolgreich. Wir tauchen ins siebzehnte Jahrhundert."
Das Summen und Dröhnen außerhalb der Zeitmaschine nahm ab und die Bilder flackerten nicht mehr so schnell vorüber. Die Außenhülle der Saturn begann in hübschem Violett zu glühen, wie es bei Bremsmanövern durchaus üblich war. Doch etwas anderes dagegen war gar nicht so, wie es hätte sein sollen.
"Moment, da stimmt was nicht!" warnte Moses. "Starker Anstieg der Lufttemperatur im Frachtraum. Das Wasser wird auch wärmer."
"Überhitzung im Motorblock. Wir sollten zusehen, dass wir nach Hause kommen, bevor Dino gekocht wird. Wenn er gar ist, dürfte sich der Zoo weigern zu zahlen."
"Warum, zum Teufel, hitzt sich das Zeug auf?" fluchte Moses.
"Der Bremskraftverstärker", stellte Karl fest. "Er zeigt eindeutig überhöhte Werte an. Wir sind zu schnell und das Gewicht erschwert das Bremsen. Wir sind zu schwer!"
"Schalt einen Gang runter. Wir versuchen's mit Motorbremswirkung."
Karl schielte irritiert zu seinem Co-Piloten hinüber.
"Du sitzt hier in einer Zeitmaschine", erklärte er ihm. "Nicht in deinem Wagen."
"Oh. Verdammt. Na gut. Bremsen zurücknehmen!"
"Dann fliegen wir am Ende zu Hause vorbei!"
"Umkehrdüsen halbe Kraft aktivieren."
"Düsenklüsen geöffnet und aktiviert."
"Hypertemporalen Antigrav-Derivator zuschalten."
"Hypertemporaler Antigrav-Derivator zugeschaltet."
"Zufuhr zu den Fluktuationsaggregaten mindern."
"Zufuhr zu den Fluktuationsaggregaten gemindert."
"Raum-Zeit-Stabilisatorträger ausfahren."
"Raum-Zeit-Stabilisatorträger ausgefahren."
"Zum lieben Gott beten."
"Zum lieben Gott gebetet."
Es ging ein Sausen und Brummen und ein schweres Rütteln durch die Saturn Z3 als die Maßnahmen Wirkung zu zeigen schienen. Sie trudelte zwar schwer durch Raum und Zeit, konnte sich jedoch mehr oder weniger auf ihrem ursprünglichen Kurs halten, was unter anderem auch Moses' Steuerungsgeschick zu verdanken war.
"Wir scheinen es überstanden zu haben!" keuchte Karl erleichtert und kontrollierte die Anzeigen, die sich langsam wieder normalisierten.
"Man soll den Tag nicht vor dem Abendessen loben!" rügte Moses. Und tatsächlich sprang plötzlich einer der Zeiger aus seiner lethargischen Position mitten in den roten Bereich der Anzeige und ein schriller Heulton durchdrang die Steuerzentrale. Es rüttelte und bebte und die beiden Piloten wurden gehörig durchgeschüttelt. Rauch quoll an mehreren Stellen empor, Funken sprühten und sogar ein, zwei Flammen schossen hoch.
"Meine Damen und Herren, wir haben im Moment einige kleine Turbulenzen", verkündete eine beruhigende, weibliche Lautsprecherstimme. "Es gibt allerdings keinen Grund zur Besorgnis. Wir dürfen Sie jedoch bitten, das Rauchen einzustellen und die Gurte zu schließen. Unter ihren Sitzen finden Sie ..."
"Verdammt, was ist los!" brüllte Karl zu seinem Beifahrer hinüber.
"Keine Ahnung! Wir werden in eine tiefere temporale Ebene gezogen."
"Was heißt das?"
"Wir krachen runter!"
Quer durch den Zeitstrom ging es auf ein Jahr zu, das Jahrhunderte vor ihrer Zielzeit war. Das achtzehnte war schon vorbeigezogen, und sie liefen Gefahr, irgendwo in der Mitte des neunzehnten runterzugehen, und auch wenn die industrielle Revolution gerade voll im Gange sein sollte, so würden sie mit ihrem Gefährt doch einiges an Aufsehen verursachen. Außerdem hatten sie keine Lust, in solch einer primitiven Zeit zu stranden. Nach der Häufigkeit der damals geführten Kriege, hatte man als junger Mann kaum eine Chancen, sein dreißigstes Lebensjahr zu erleben.
"Wir sind noch immer zu schwer. Zwar konnten wir den Motor abkühlen, aber jetzt ist der Gegengravitator durchgeknallt und wir plumpsen runter wie ein Stein, wenn wir nicht was tun."
"Aber was können wir tun?" wollte Karl hysterisch wissen.
"Gewicht loswerden."
"Aber was denn bloß?"
Moses blickte seinen Partner nur schweigend an.
"Nein, also, nein, das ... das kommt gar nicht in Frage!" protestierte dieser.
"Was willst du mitten im neunzehnten Jahrhundert mit einem prähistorischen Dinosaurier. Ich bin nicht mal sicher, ob sie da überhaupt schon was von deren Existenz wussten."
Weitere Funken sprühten und das Revolutionsjahr achtundvierzig rückte bedrohlich näher.
"Aber der Zoo zahlt eine Menge Geld für das Vieh!"
"Nicht, wenn wir niemals ankommen."
Die Alarmglocken wurden schriller, während die beruhigende Stimme ihre Bemühungen inzwischen aufgegeben hatte. Selbst ein Lautsprecher sah ein, wann es sinnlos war. Der amerikanische Bürgerkrieg rückte näher und ihren derzeitigen Koordination zufolge hatten sie gute Chancen, daran teilnehmen zu dürfen. Es gab jedoch immer noch, oder besser schon wieder, schwere Turbulenzen, die sie fröhlich durch den Raum schleuderten, sodass sich ihr Standort praktisch sekündlich änderte. Es konnte also von Bruchteilen von Sekunden abhängen, ob sie in Indochina oder in der Arktis runterkamen. Was sich nicht änderte war ihre Richtung abwärts - bildlich gesprochen, da man in Bezug auf die Zeit wohl kaum von Unten sprechen konnte.
"Also gut!" lenkte Karl widerwillig ein. "Raus mit dem Vieh."
Moses atmete erleichtert auf. Dann drückte er einige Knöpfe.
"Ladeklappen geöffnet. Plexiglas-Titaniumtank geöffnet. Es ist rausgeschwappt."
Sofort wurde die Saturn leichter und fing sich wieder. Nicht nur, dass sich ihre Lage wieder stabilisierte, durch den noch halbwegs intakten Hilfs-Gegengravitator gewannen sie sogar wieder allmählich an Höhe. Mit Ächzen und Stöhnen kamen Karl und Moses wieder in jene Zeitebene, die für ihre Zielzeit und ihren derzeitigen temporalen Standpunkt üblich war. Die Lage war wieder unter Kontrolle.
"Geschafft!" keuchte Karl. "Ob Dino den Sturz wohl überlebt hat?"
"Oh, ich denke schon", meinte Moses. "Als er ausstieg, befanden wir uns gerade über einen See irgendwo in Schottland."
"Name?" erkundigte sich Karl neugierig. Moses blickte auf die Koordination und anschließend in einem Verzeichnis nach.
"Loch Ness", erwiderte er.
"Meine Damen und Herren, wir erreichen in Kürze unseren Zielflughafen. Wir hoffen, Sie hatten eine angenehme Reise und wir dürfen Sie bald wieder bei uns begrüßen."
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo

pinky, die geschichte ist ein wenig schleppend, aber die pointe am ende reißt alles raus! kommt in meine sammlung. ganz lieb grüßt
 



 
Oben Unten