Walther
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Zeitzonen - neue Version
Eines Samstagmorgens steht Frank W. auf und verspürt den Drang, sich, seines kommenden Geburtstags wegen, einen Chronometer zu kaufen. Einen richtig echten aus der Schweiz. Einen mit mechanischem Uhrwerk, ohne Batterie natürlich. Selbst ist der Mann, besonders beim Aufziehen seines eigenen Zeitmessers. Alles andere wäre auch ein Stilbruch.
Die Uhr symbolisiert für ihn Ordnung. Störungsfreie, in einander greifende Funktion. Im Ticken des Takts. Gleichförmigkeit in schöner Form, technisch, glatt geputzt, glänzend.
Ein endloser Strom sich repetierender Handlungen nebensächlichen Inhalts. Unterbrechungen durch langweilige Wochenenden sowie von albern betrunkenen Urlauben. Frauen Fehlanzeige. Aufhellungen durch gelegentliche Heimsuchungen eines ungebärdigen Sohnes. Sonntägliches Fußballspielen mit McDonaldsünden. Gerne gehabt, gerne wieder abgegeben. Ärger mit dem Familienanwalt inbegriffen.
An seinem 41. Geburtstag, es ist ein Sonntag, steht Frank W. also auf, um sich der Uhr zu bemächtigen, die er sich selbst geschenkt hatte. „Ja, packen Sie sie ein!“, hat er der Verkäuferin gesagt, die ihn beraten hat bei seiner Erwerbung. „Es soll ein Geschenk sein.“ Frank W. bekommt keine Geschenke. Nur von seinem Sohn und von seiner Mutter. Und diesmal kann der Sohn nicht kommen, da er einen Schullandheimaufenthalt hat.
Heute ist ein besonderer Tag, sagt er sich. Eine Uhr zur Vermessung meiner Tage. Ein Kunstwerk aus Metallen, etwas Glas, wenig Rubin, noch weniger Diamant. Aus viel Gestaltungs- und Formwillen, noch mehr Liebe zum Detail. Ein Einzelstück einer fast ewigen Handwerkstradition. Aus der Vergangenheit gewachsen, um das Heute zu messen und die Zukunft, die nahe wenigstens, voraus zu planen.
Frank W. macht sich sein Frühstück, brüht Kaffee, den er gerne, des leicht empfindlichen Magens wegen, mit viel Milch nimmt. Er holt die Sonntagszeitung. Schlägt sie auf, um die Ergebnisse seines Lieblingsvereins zu lesen. Obwohl er in den Nachrichten und im Internet alles verfolgt hat, ist der geschriebene Sportbericht doch etwas anderes.
Er sitzt auf die Veranda seiner Wohnung im Paterre. Er schaut in den Garten und in die Landschaft. Sein Auge fällt auf ein Gedicht über die Zeit.
Am Morgen denkt man, man hat Zeit,
Am Abend fühlt man sich noch weit,
Am nächsten Morgen ist man tot.
Am Abend glüht das Abendrot.
http://www.leselupe.de/lw/showthread.php?threadid=82255
Die vier Verse hinterlassen eine merkwürdige Unruhe. Irgendetwas will nicht mehr ganz zusammengehen.
Frank W. geht an den kleinen Geschenktisch, den er sich angerichtet hat, betrachtet die wenigen Briefe, einige Karten und die drei Geschenke. Seine Uhr, ein selbst gemaltes Bild seines Sohnes, die obligatorischen Socken der Eltern. Er fragt sich: „Ist das schon alles?“. Er schüttelt den Kopf und nimmt den Schweizer Chronometer in die rechte Hand, der dort kühl schimmernd liegt und trotzdem ein Loch in die Hand zu brennen scheint. Er zieht ihn mit der linken auf und beschließt, eine Runde um das Geviert zu gehen.
Nachdem er zurückkommt, denkt er über die Zeit nach, nimmt sich den alten Weltatlas aus Schultagen und schlägt die Karten über die Zeitzonen auf. „GMT, Greenwich Mean Time!“ sagt er leise zu sich. Und er sieht, wie nach hinten die Stunden immer näher zum Vortag und nach vorne immer mehr zum nächsten Tag streben. Er denkt an die Nachrichten aus der Zeit der Jahrtausendwende, als Reisen um den Globus angeboten wurden mit der Zusicherung, dreimal Sylvester zu feiern.
Frank W. erkennt, dass er ein Zeitproblem hat, ein Problem mit der Zeit, die vergangen ist, ohne dass er davon Notiz genommen hat. Er sieht sie nur in den Linien seines Gesichts und den grau werdenden Schläfen, an seinem wachsenden Bauch, der den Körper immer mehr in Richtung Birne mit Stakebeinen verformt. Er hat nicht einmal mehr ein Zeitgefühl gehabt, seit Frau und Sohn ausgezogen und im Nebel der Verdrängung unangenehmer Dinge verschwanden. Nur der Sohn ist, wie eine lautstarke fröhliche Unwirklichkeit, immer wieder in dieses dahinplätschernde Dasein hinein gepoppt, um daraus wieder, fast ohne Spuren zu hinterlassen, hinaus zu fallen. Er legt den Atlas weg.
Wenig später schaltet er den Fernseher ein, weil sonntags um 19:30 Uhr im Zweiten die Geschichtssendung kommt. Die Uhr tickt und zeigt zuverlässig an, wann das soweit ist. Er bleibt auch der Sendung wegen des Krimis sitzen. Er bleibt sitzen, als die zweiten Nachrichten kommen. Er merkt nicht einmal, dass er nichts zu Abend gegessen hat.
Danach macht er sich bettfertig. Im Bett liest er und will nicht recht in den Schlaf finden. Er dreht und wendet sich. Er schwitzt und zittert und friert. Er will keine Ruhe finden, so wie die Unruh in seiner Uhr.
Am Morgen versinkt er wieder in der Routine, aus der er erst wieder am Abend auftaucht. Die Uhr tickt, der Atlas liegt umgedreht auf der Karte mit den Zeitzonen. Er nimmt ihn in die Hand und fasst einen Entschluss. Er will sich seine Zeit zurückzuholen.
Am nächsten Tag steht Frank W. auf, packt seinen Koffer, geht hinaus und macht sich auf seinen Weg. Die Karte aus dem Atlas hat er mitgenommen. Er wird rückwärts um die Erde reisen, immer dem Vortag entgegen, Zeitzone um Zeitzone wird er passieren, um sich zu finden. Irgendwann.
Diese Kurzgeschichte in Gedichtform findet man unter: http://www.leselupe.de/lw/showthread.php?postid=423089#post423089[/i]
Eines Samstagmorgens steht Frank W. auf und verspürt den Drang, sich, seines kommenden Geburtstags wegen, einen Chronometer zu kaufen. Einen richtig echten aus der Schweiz. Einen mit mechanischem Uhrwerk, ohne Batterie natürlich. Selbst ist der Mann, besonders beim Aufziehen seines eigenen Zeitmessers. Alles andere wäre auch ein Stilbruch.
Die Uhr symbolisiert für ihn Ordnung. Störungsfreie, in einander greifende Funktion. Im Ticken des Takts. Gleichförmigkeit in schöner Form, technisch, glatt geputzt, glänzend.
Ein endloser Strom sich repetierender Handlungen nebensächlichen Inhalts. Unterbrechungen durch langweilige Wochenenden sowie von albern betrunkenen Urlauben. Frauen Fehlanzeige. Aufhellungen durch gelegentliche Heimsuchungen eines ungebärdigen Sohnes. Sonntägliches Fußballspielen mit McDonaldsünden. Gerne gehabt, gerne wieder abgegeben. Ärger mit dem Familienanwalt inbegriffen.
An seinem 41. Geburtstag, es ist ein Sonntag, steht Frank W. also auf, um sich der Uhr zu bemächtigen, die er sich selbst geschenkt hatte. „Ja, packen Sie sie ein!“, hat er der Verkäuferin gesagt, die ihn beraten hat bei seiner Erwerbung. „Es soll ein Geschenk sein.“ Frank W. bekommt keine Geschenke. Nur von seinem Sohn und von seiner Mutter. Und diesmal kann der Sohn nicht kommen, da er einen Schullandheimaufenthalt hat.
Heute ist ein besonderer Tag, sagt er sich. Eine Uhr zur Vermessung meiner Tage. Ein Kunstwerk aus Metallen, etwas Glas, wenig Rubin, noch weniger Diamant. Aus viel Gestaltungs- und Formwillen, noch mehr Liebe zum Detail. Ein Einzelstück einer fast ewigen Handwerkstradition. Aus der Vergangenheit gewachsen, um das Heute zu messen und die Zukunft, die nahe wenigstens, voraus zu planen.
Frank W. macht sich sein Frühstück, brüht Kaffee, den er gerne, des leicht empfindlichen Magens wegen, mit viel Milch nimmt. Er holt die Sonntagszeitung. Schlägt sie auf, um die Ergebnisse seines Lieblingsvereins zu lesen. Obwohl er in den Nachrichten und im Internet alles verfolgt hat, ist der geschriebene Sportbericht doch etwas anderes.
Er sitzt auf die Veranda seiner Wohnung im Paterre. Er schaut in den Garten und in die Landschaft. Sein Auge fällt auf ein Gedicht über die Zeit.
Am Morgen denkt man, man hat Zeit,
Am Abend fühlt man sich noch weit,
Am nächsten Morgen ist man tot.
Am Abend glüht das Abendrot.
http://www.leselupe.de/lw/showthread.php?threadid=82255
Die vier Verse hinterlassen eine merkwürdige Unruhe. Irgendetwas will nicht mehr ganz zusammengehen.
Frank W. geht an den kleinen Geschenktisch, den er sich angerichtet hat, betrachtet die wenigen Briefe, einige Karten und die drei Geschenke. Seine Uhr, ein selbst gemaltes Bild seines Sohnes, die obligatorischen Socken der Eltern. Er fragt sich: „Ist das schon alles?“. Er schüttelt den Kopf und nimmt den Schweizer Chronometer in die rechte Hand, der dort kühl schimmernd liegt und trotzdem ein Loch in die Hand zu brennen scheint. Er zieht ihn mit der linken auf und beschließt, eine Runde um das Geviert zu gehen.
Nachdem er zurückkommt, denkt er über die Zeit nach, nimmt sich den alten Weltatlas aus Schultagen und schlägt die Karten über die Zeitzonen auf. „GMT, Greenwich Mean Time!“ sagt er leise zu sich. Und er sieht, wie nach hinten die Stunden immer näher zum Vortag und nach vorne immer mehr zum nächsten Tag streben. Er denkt an die Nachrichten aus der Zeit der Jahrtausendwende, als Reisen um den Globus angeboten wurden mit der Zusicherung, dreimal Sylvester zu feiern.
Frank W. erkennt, dass er ein Zeitproblem hat, ein Problem mit der Zeit, die vergangen ist, ohne dass er davon Notiz genommen hat. Er sieht sie nur in den Linien seines Gesichts und den grau werdenden Schläfen, an seinem wachsenden Bauch, der den Körper immer mehr in Richtung Birne mit Stakebeinen verformt. Er hat nicht einmal mehr ein Zeitgefühl gehabt, seit Frau und Sohn ausgezogen und im Nebel der Verdrängung unangenehmer Dinge verschwanden. Nur der Sohn ist, wie eine lautstarke fröhliche Unwirklichkeit, immer wieder in dieses dahinplätschernde Dasein hinein gepoppt, um daraus wieder, fast ohne Spuren zu hinterlassen, hinaus zu fallen. Er legt den Atlas weg.
Wenig später schaltet er den Fernseher ein, weil sonntags um 19:30 Uhr im Zweiten die Geschichtssendung kommt. Die Uhr tickt und zeigt zuverlässig an, wann das soweit ist. Er bleibt auch der Sendung wegen des Krimis sitzen. Er bleibt sitzen, als die zweiten Nachrichten kommen. Er merkt nicht einmal, dass er nichts zu Abend gegessen hat.
Danach macht er sich bettfertig. Im Bett liest er und will nicht recht in den Schlaf finden. Er dreht und wendet sich. Er schwitzt und zittert und friert. Er will keine Ruhe finden, so wie die Unruh in seiner Uhr.
Am Morgen versinkt er wieder in der Routine, aus der er erst wieder am Abend auftaucht. Die Uhr tickt, der Atlas liegt umgedreht auf der Karte mit den Zeitzonen. Er nimmt ihn in die Hand und fasst einen Entschluss. Er will sich seine Zeit zurückzuholen.
Am nächsten Tag steht Frank W. auf, packt seinen Koffer, geht hinaus und macht sich auf seinen Weg. Die Karte aus dem Atlas hat er mitgenommen. Er wird rückwärts um die Erde reisen, immer dem Vortag entgegen, Zeitzone um Zeitzone wird er passieren, um sich zu finden. Irgendwann.
Diese Kurzgeschichte in Gedichtform findet man unter: http://www.leselupe.de/lw/showthread.php?postid=423089#post423089[/i]