Zeitzugnisse

1. Die Bahn hat Verspätung (Standard), der Termin leider nicht

Aus einem Konzertbericht:

We zänk you for travelling with Deutsche Bahn und wünschen Ihnen trotzdem einen schönen Abend (O-Ton am 17. Februar 2009). Den hatte ich in der Kulturkirche Köln Nippes. Allen Widrigkeiten zum Trotz. Und bin froh und glücklich, dass ich dabei war.

Deee Bääääh. Voll abgefahren, aber nix läuft. Der Zugteil, der um 17:17 Uhr von Frankfurt nach Köln fahren sollte, fehlte. Der Rest fuhr zunächst informationsfrei ins Nirwana, hielt dann jedoch in Köln-Deutz, nachdem er stundenlang vor dem Bahnhof gemütlich gepicknickt hatte. Danach war mir unklar, wie es weitergehen könnte, aber es musste, denn ich wollte doch schon längst in der Hotelpension eingecheckt und die Kulturkirche in Köln-Nippes betreten haben. Also stürzte ich mich wild entschlossen nicht vor, sondern in die nächste S-Bahn, fand aufgrund meines intuitiven Orientierungssinnes (mehr Eingebung als Verstand) die Absteige, betrat sie und niemand war da. In Worten: gar keiner. Flugs griff ich zum Hän-dy und brüllte nach Personal. "Dieses kommt nur auf Abruf", sagte man mir (schön, wenn man das um 19:30 schon erfährt) und würde in 5 min. eintreffen. Daraus wurde aber nichts, wie man mir nach 7 min. mitteilte, ich solle doch schon einmal ins Konzert.

Also raste ich völlig verschwitzt, bewaffnet mit Schirm, Rucksack und einer randvollen Blase los - nur wohin? Wiederum die nächstbeste U-Bahn zu entern erschien mir um 19:42 Uhr zu riskant, also informierte ich mich fahrplanmäßig. Und hatte Glück, es funzte, ich erreichte Nippes und galoppierte zu Fuß weiter. Meilenweiter, bei ca. 37,9° C Nachtlicht im Schatten. 3 Laternen waren nötig, um meinen Weg mit dem Plan abzugleichen - doch dann sah ich eine Kirche und beschloss, dass es diese sein müsste, denn es war 1 Minute vor Konzertbeginn. Ich stürmte das blau erleuchtete Gotteshaus, röchelte, ob es denn eine Garderobe zwecks Ausrüstungsdepot gäbe (dem war nicht so) und wurde trotzdem eingelassen. Ich warf Rucksack, Schirm, Collegetasche und meine überflüssige Kleidung in eine Kirchenbank und mich hinterher. Schweißüberströmt, nach Luft ringend. (…)

Am nächsten Morgen begab ich mich nach der Zubereitung eines bedingt genießbaren Instantmuckefucks und dem Verzehr von drei Keksen zu Fuß zum Hauptbahnhof. Zwischen zwei Domtürmen grinste der halbe Mond verständnisvoll, während sich hinter den Gleisen der Himmel lichtete. Ich betrat mit Latte in der Linken, Brötchen in der Rechten den Bahnsteig und inhalierte sich nahende Ferne, sich entfernende Nähe, den Reiter kurz vor der Deutzer Brücke und rosa Sonnenglut über dem Rhein. Ziemlich bald schon konnte ich im ICE Platz nehmen. Heute war zu Übungszwecken die Reihenfolge der Wagen vertauscht, so dass der Deutsche Bahnkunde seine gestern erlernte Flexibilität unter Beweis stellen konnte. Ja, unsere Bahn traut uns schon etwas zu. Die Abfahrt des ICEs verzögerte sich nur unwesentlich, nachdem vorübergehend der Strom ausgefallen war. Der Zugbegleiter schilderte technische Probleme, die dieses verursacht hätten. Die entstandene Verspätung wurde in Siegburg tüchtig ausgebaut, da die technischen Schwierigkeiten inzwischen den hinteren Teil des Zuges in Mitleidenschaft gezogen hatten. Der freundliche Zugbegleiter stellte in Aussicht, dass "unser Lokführer" den Schaden eventuell beheben könne. Was dieser auch vermochte, denn ca. 20 min. später rollten wir weiter in den jungen Morgen. Und ich kam nur 15 min. zu spät zur Arbeit – das hatte doch was. Und dann saß ich verklärt grinsend vor dem PC und wollte nur noch in mein warmes kuscheliges Bett und darüber sinnieren, warum meine Ausflüge grundsätzlich mit Imponderabilien gespickt sind. Es lebe die Herausforderung – aber kann die das nicht auch einmal ohne mich?


2. Die Bahn funktioniert (eher unwahrscheinlich)

Mittwoch, 30. Juni 2010, Frankfurt - Berlin

Lichter Vormittag, Hbf. Frankfurt, Gleis 9 – a voice was repeatedly apologizing all inconveniences (Inglisch vor at onced DBler, heard in 2010) lümmelte ich mich in den klimatisierten Singlesessel Nr. 71, der den unschlagbaren Vorteil hatte, dass sich meine umfangreiche Übernachtungsequipage nebst Zelt für das nächste Abenteuer locker um mich herum versammeln ließ und stopfte mir die Kopfhörer meines mp3-Kumpels in die Ohren, während sich der ICE schonend auf den Weg in die Hauptstadt machte. Mit „Elect the Dead Symphony“ stimmte ich mich freudig gespannt auf das Konzertereignis des Abends ein und fragte mich, ob mich Serj Tankian livehaftig und in Farbe (das heißt im weißen Anzug) genauso faszinieren würde wie auf der DVD. Ich konnte es kaum fassen, diesen Menschen dank einer wohlüberlegten und vernünftigen Ticketkaufaktion (Berlin grenzt schließlich beinahe an Frankfurt/mein) im Admiralspalast zu erleben. Die restliche Zeit wurde von mir großzügig verdöst und so spuckte mich der ICE schon relativ bald mitsamt Tross auf einen sehr heißen Berliner Hauptbahnsteig…


3. Höhere Gewalt (vermutlich fest angestellter Zugbegleiter, fährt nahezu täglich mit)

Die Fernbahn ist weder kälte- noch hitzekompatibel. Naturkatastrophen wie Schneefall im Winter (früher, als sowieso alles noch viel besser war, gehörte ein solches Phänomen zur Jahreszeit. Man stellte sich darauf, aber nicht daraufhin gleich alles ein) oder Temperaturen um 30° Celsius im Sommer (früher gehörte…) bringen den Verkehr nach diversen Kollapsen zum Erliegen. Lebenszeichen schwitzendurch sind daher durchaus angebracht, denn man weiß unterwegs ja nicht, ob man jemals wieder nach Hause zurückkehren wird:

SMS vom 28.01.2011, 18:55

Nicht planmäßige Raucherpause in Bad Hersfeld, weil ein LKW von der Autobahn aus die ICE-Schallmauer durchbrochen hat und deren Reste erst aus dem Gleisbett geholt werden müssen. Dauer ungewiss.


SMS vom 21.04.2011, 15.21

Wir sind im Zug und er fährt sogar.


SMS vom 03.06.2011, 19:44 Uhr

Das Teil hat voll die Bremsklöppse im Ar…ähm…gen. Wir schleichen beschaulich durch Thüringen und haben die Verspätung erfolgreich auf 30 Minuten ausgebaut.

Email vom 05.12.2010:

... Ich für meinen Teil bin nicht so faul wie Ihr im Keller Verkrochenen. Zur Abwechslung halte ich mich noch in Leipzig auf und werde mich erst um kurz nach 20 Uhr dem Serviceunterfangen Bahn anvertrauen. Die Hinreise war eigenartig, dafür dauerte sie aber auch fast doppelt so lange. Immerhin fand sie statt, nachdem mehr als die Hälfte der geplanten Züge ausgefallen war.

Bei einer satt rülpsenden Auslastung von 200 % fuhr der ICE in Frankfurt keineswegs los. Der bis auf den letzten Quadratzentimeter ausgefüllte Großraumwagen gab sich ausgesprochen kuschelig. Niemand musste sich einsam fühlen, befand sich sein Fuß doch gut behütet unter demselben seines ebenfalls stehenden Nebenmenschen. Derselbe Niemand schickte sich an, den Nötigungen des Personals zu folgen und freiwillig auszusteigen. [Seinerzeit wurde das Verlassen eines ICE noch nicht mit Bargeld belohnt.] Diesbezügliche Durchsagen verhallten. Nach einer weiteren halben Stunde unsinniger Stagnation bat der genervte Lokführer schließlich darum, dass sich die stehenden Passagiere nicht in die Kurven legen und Hüpfen sowie andere abrupte Bewegungen während der Fahrt (Fahrt? Hoffnung???) tunlichst unterlassen sollten und nahm die Abfahrt trotz Überfüllung schließlich auf seine eigene Kappe. Einen Augenblick später bedankte er sich höflich für den nicht erfolgten Applaus. Immerhin wurde gelacht und man war abgefahren.

Viele Stunden und launig kommentierte Fahrtunterbrechungen später ertönte nur noch hysterisches Gekicher, als der ICE kurz vor Sibirien noch einen Nothalt wegen notwendiger Notarztanforderung (irgendein Weichei war den Anforderungen der Bahn offensichtlich nicht gewachsen und im Bordbistro kollabiert) einlegte und uns der Moderator - so heißt der Mann am Mikro tatsächlich, wie uns ein anderer Bahnmitarbeiter ungefragt mitteilte - einlud, doch auf dem Bahnsteig eine Tüte frische Luft zu schnappen, es würde mit der Weiterfahrt noch ein Weilchen dauern.

Von daher sehe ich der bevorstehenden Rückfahrt frohoholockend und auf’s Äußerste gespannt, um nicht zu sagen mit zittrigen, schweißnassen Händen, entgegen. Wenn Ihr vor Ostern nix mehr von mir hören solltet, bin ich wahrscheinlich vor Lachen in die Saale oder sonstwie dem Wahnsinn anheim gefallen.“

Beliebte Gründe für außerplanmäßige Verspätungen:

Störungen im Betriebsablauf
Sommer
Winter
Frühling (Horrormone machen auch vor ICEs nicht Halt)
Herbst (depressive Melancholie verlangsamt den Antrieb)
es ist Freitag
Ausfälle
beschränkte Bahnübergänge, die sich nicht beschränken lassen


Baki, die güldene Bonusbahncard am baumelnden Bande genüsslich faltend
 



 
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