Zerreißprobe

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Svalin

Mitglied
ElementArschwurmOratorium[ 7]ElementarSchwurMoratorium

Herzenge wo Gefangene[ 8][ 8][ 3]Herzengewoge fange!
in Wachstürmen des Lichts[ 8][ 7]Nein, wachstürmendes Licht
am Meltau fader Nacht enden.[ 8][ 3]sammelt auf Adern. Achten,
Einst ich war Mensch:[ 8][ 8][ 6]den Einstich warmen Schleims:
Leimstaub, geborenes Ahnen,[ 8][ 3]taub geborene Sahne-Nascherei.
Asche-Reisender, auch[ 8][ 8][ 4]Sende Rauchzeichen!
Zeichengeschrei bei Steuern[ 8][ 5]Geschreibe ist euer
immer müder Herzkrampfadern.[ 8][ 1]nimmermüder Herzkrampfad
Teerdestillat: Menschenkinder.[ 8][ 2]Ernte Erde still. Atmen schenk.
Komm Erzengel! Ich tanze,[ 8][ 7]In der Kommerzenge
ich ende, ich mag Mafias[ 8][ 8][ 2]Lichtanzeichen: Deichmagma!
Kokonsumpflichter neu ernähren.[ 7]Fiasko Konsumpflicht: Erneuern
Diebes-Tentakel, Agenda trotzdem:[ 3]Ähren die besten Takelagen?
Alleinsein - so sehr ahmt Leere[ 8][ 1]Da trotz dem All! Ein Sein, so seh:
uns nach ihrer Weise![ 8][ 8][ 7]rahmt Leere uns nach ihrer Weise?

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fenestra

Mitglied
Hi, Martin,

köstlich, dein wandelbarer Text! Wie diese Strickmuster in den Norweger-Pullovern, die von der Rückseite gesehen ein anderes Muster haben: Von vorne sieht man z.B. blaue Sterne, von hinten blaue Bahnen mit weißen Zackenmustern darin. Unvorstellbar mühsam, so etwas in dieser Qualität hinzubekommen. Du musst Tage gebraucht haben!

Besonders wertvolle Funde sind mir:
Wachstürme des Lichts (zwei Bedeutungen!)
Asche-Reisender
Diebes-Tentakel
Geschreibe ist euer nimmermüder Herzkrampfad (!)
...
rahmt Leere uns nach ihrer Weise?
Ach, eigentlich könnte ich gleich das ganze Werk als Lieblingsstelle zitieren... ;)

Viele Grüße
fenestra
 

Herr Müller

Mitglied
Meisterhaft

Hallo Svalin, ich würde dir sofort die 10 geben, dass mache ich aber nicht, weil dieses dumme Rechenprogramm die Note sofort auf 6 korrigieren würde und das ist nicht im Sinne des Erfinders. Ich hoffe, es hat sich ein jeder die Mühe gemacht und das Geheimnis der beiden Texte links und rechts gelüftet :)

Henrik
 

Svalin

Mitglied
Hallo fenestra und Herr Müller,

freut mich sehr, dass euch dieses seltsame Geschwisterpaar gefällt ;) Dass man sie trotz völlig identischen "Genmaterials" nicht als eineiige Zwillinge wahrnimmt, sagt nach meinem Empfinden etwas Interessantes über Sprache aus: Sinnstiftend scheint weniger die Reihung der Buchstaben selbst, als vielmehr deren Abtrennung von- und zueinander zu sein - das Zerreißen eben ;) Welchen Stellenwert diese "Sicherheitslücken" tatsächlich haben und was wir wie zu Wörtern assoziieren, kann man übrigens gut beobachten, wenn man beide Texte um das Wechselspiel ihrer Leerzeichen beraubt:

elementarschwurmoratoriumherzengewogefangeneinwachstürmendeslicht
sammeltaufadernachtendeneinstichwarmenschleimstaubgeborenesahnen
aschereisenderauchzeichengeschreibeisteuernimmermüderherzkrampf
adernteerdestillatmenschenkinderkommerzengelichtanzeichendeichmag
mafiaskokonsumpflichterneuernährendiebestentakelagendatrotzdemalle
inseinsosehrahmtleereunsnachihrerweise


Es ist fast, als könnte man dem angestrengten Rattern einer sonst gemächlich und routiniert im Verborgenen werkelnden Sequenzierungsmechanik zuhören ;) Sicher ist das Konstrukt von Verschränkungen hier ein sprachlicher Ausnahmezustand, es gibt aber auch durchaus einige freilebende Exemplare über die man hin und wieder stolpern kann: bein.halten z.B. (dem der eigentliche Dank für die Inspiration zu diesen Texten gebührt), die Staub.ecken und Wand.elstern. Wer vielleicht noch andere alltagssprachliche "Wandelwörter" kennt, kann sie hier gerne "denunzieren" ;) Würde mich sehr interessieren!

Liebe Grüße
Martin
 

fenestra

Mitglied
Lieber Martin,

der Vergleich mit Genmaterial ist gar nicht von der Hand zu weisen! Der universelle genetische Code in allen Lebewesen beruht auf Tripletts (Dreiergruppen) aus den Buchstaben A C G T (das sind in Wirklichkeit natürlich biochemische Substanzen). Jedes Triplett codiert eine von 20 Aminosäuren, aus denen dann in der codierten Reihenfolge Eiweißketten aufgebaut werden. Die Eiweiße sind wiederum als Enzyme für den Aufbau des Körpers und für alles Geschehen maßgebend. Man stelle sich also vor, die "Leerstellen" zwischen den Tripletts würden verschoben > wie grundlegend änderte sich dann alles Folgende!

Du machst als Initialzündung für deine Zerreißprobe das Beinhalten verantwortlich. Bei mir waren es die Staubecken, die mich vor längerer Zeit mal zu einem Gedicht anregten, das allerdings ganz anders aussah: schubladler. Ich werde ihn gleich mal posten.

Viele Grüße
fenestra
 

herb

Mitglied
Hallo,

meine Lieblingsstelle:
"Einst ich war Mensch: Leims..."

daraus wird, ja war eigentlich zuvor:
"Einstich warmen Schleims"

das gibt einen so richtig einfach durchschaubaren Sinn.
Bravo, dir ist ein Kunstwerk gelungen, denn solcher Stellen sind so viele, scheinbar spielerisch, smile

Gruß
herb
 

Svalin

Mitglied
Hallo fenestra und herb,

Jedes Triplett codiert eine von 20 Aminosäuren, aus denen dann in der codierten Reihenfolge Eiweißketten aufgebaut werden.
Hm, das ist jetzt nur so eine Idee: Ist dieses Prinzip eigentlich schon einmal auf Sprache angewendet worden? Ich meine, wenn diese Tripletts insgesamt 64 Möglichkeiten verschlüsseln können, ließen sich darin ja alternativ auch alle Groß- und Kleinbuchstaben unseres Alphabets mit den Umlauten und ß (59) unterbringen. Näme man noch wesentliche Satzzeichen (.,?) und ein Leer- sowie Zeilenumbruchzeichen hinzu, käme man auf genau 64, die noch in einer Code-Tabelle hinterlegt werden müssten. Damit ließen sich dann Gedichte auch in Original-DNA-Sequenzen darstellen und jeder Leser dürfte einmal selbst nachfühlen, wie anstrengend es ist, Ribosom zu sein ;) Vielleicht liest ja zufällig ein Biologe mit, der sich für diese Idee von "genetischer Lyrik" begeistern könnte ...

Bei mir waren es die Staubecken, die mich vor längerer Zeit mal zu einem Gedicht anregten, das allerdings ganz anders aussah:
Sehr erfrischend, dieser Text! Beneidenswert, wie es dir gelingt, aus einem einzelnen Kondensationskern Regen zu machen ;) Ich benötige dafür leider oft eines viel höheren Feinstaubgehalts ...

das gibt einen so richtig einfach durchschaubaren Sinn.
Wobei ich aber anmerken muss, dass derartige Parallelen hier völlig zufällig zustande gekommen sind. Es war schon einigermaßen schwierig, genügend verschränkbare Wörter zu finden, noch schwieriger, daraus einen doppelten Satzbau nachzuahmen - dann noch deren Sinngehalt "zweigleisig" zu steuern, war mir aber nicht mehr möglich. Auf der Sinnebene handelt es sich also nicht nur um ein scheinbares, sondern tatsächlich spielerisches Produkt ;)

Viele Grüße
Martin
 
S

Sandra

Gast
Hallo Svalin,
grundsätzlich eine schöne Sache. Etwas für Tüftler und ähnlich Eis Alp Atem ein gelungenes Anagramm. Bei dieser Art Gedichten erlese ich sehr viel Arbeit am Text, sowie Sprachgefühl von Seiten des Autors. Was ich vermisse, ist das mitschwingende Gefühl in einem Gedicht oder eine Geschichte, die mir erzählt wird als auch einen tieferen Sinn der umgesetzten Worte. Es ist natürlich kein Bauchgedicht sondern konstruiert. Von den einzelnen Zeilen kann ich mich ähnlich begeistern lassen wie fenestra, jedoch liefert mir die Gesamtheit kein eigenes Bild. Das wäre wohl auch zu viel verlangt. Ein gelungenes selbstgefertigtes Kreuzworträtsel in meinen Augen. Sehr schwierig herzustellen allemal. Es erreicht mich im Kopf, nicht im Herz, was keine Wertung darstellt, sondern lediglich mein Empfinden ist.

LG
Sandra
 

Svalin

Mitglied
Hallo Sandra,

Vielen Dank für deine ehrlichen Worte!
Was ich vermisse, ist das mitschwingende Gefühl in einem Gedicht oder eine Geschichte, die mir erzählt wird als auch einen tieferen Sinn der umgesetzten Worte.
Ja, ich verstehe gut was du meinst und kann dem nur zustimmen: Die Vermittlung von Emotionen und Informationen als das, was Sprache kann und soll - ihr eigentlicher Sinn und Zweck. Einen Text davon zu befreien, bedeutet nach meinem Empfinden aber auch, zu versuchen, sich als Autor von dieser "Bürde des Teleologischen" zu lösen, der steten Zielrichtung auf das Nützliche, Unmittelbare und Notwendige, einer Konsum- und Erlebnisorientierheit also, von der auch Sprache nicht frei sein kann, weil wir es nicht sind ;) Und was will nun eigentlich ein experimenteller Text, könnte man fragen, wenn er überhaupt nicht vorhat, mich als Leser zu unterhalten? Die Antwort ist glaube ich sehr einfach: nur spielen ;)

Quasi als Dompteure haben wir schon immer Wörter dazu gezwungen haben, sich nach unseren Vorstellungen zu verhalten und in der Lyrik können wir dazu auf ein bemerkenswertes Repertoire althergebrachter "Dressurformen" (Metrik und Stilmittel) zurückgreifen. Ohne es richtig zu merken sind wir schon lange mittendrin und mit dabei: Lyrik ist eine Spielart formaler Sprachbeschränkung. Im Gegensatz zu den "ritualisierten Formen" versuchen experimentelle Texte nach meinem Empfinden eben diese Beschränkungen spielerisch zu hinterfragen oder durch neue, selbstauferlegte Regeln eine Art von "Verhaltensforschung" zu betreiben: Wie verhält es sich z.B., wenn man Wörter systematisch rückwärts liest, durcheinanderwürfelt oder auseinanderreißt? All das dient lediglich dazu, mehr über das Innenleben von Sprache herauszufinden. Zugegeben, auch mir sind oft Gedichte lieber, die mich unterhalten, bewegen oder inspirieren können, aber ich denke, ein interessantes Spiel zwischendurch kann da auch mal eine nette Abwechslung sein ;)

Liebe Grüße
Martin
 



 
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