Zu den Wurzeln

Am liebsten würde ich nur Zufällen begegnen. Doch ich treffe auf Menschen, die glauben, ihre Zukunft berechnen zu können.
Werner Heysing, der Vorstadtphilosoph, zum Beispiel. Ich wusste nichts von ihm, nur dass er täglich meditierte. Und obwohl er einen gelassenen Eindruck machte, wich er ständig meinen Blicken aus. Wegen seiner trüben tiefblau umränderten Augen hätte ich Verdacht schöpfen müssen.
Heysing lebte allein und wohnte in einem Kölner Vorort, um am Stadtrand jene ruhige Geborgenheit zu finden, die er für seinen inneren Frieden brauchte. Er wolle einen Lebenslauf als Spaziergang. Doch der werde immer mehr zu einem Rennen, beklagte er sich, als ich ihn das erste Mal in seinem schmalen Reihenendhaus besuchte.
Wenn ich zu ihm auf dem Plattenweg durch den gepflegten Vorgarten seines schmalen Reihenendhauses ging, streckte mir aus einem mit Rindenmulch bestreuten Kreis ein weißer, leicht bemooster steinerner Buddha seinen Kugelbauch entgegen. Mit gekreuzten Beinen saß er zwischen Krüppeltrauerweiden, Lebensbäumen und Stiefmütterchen. Und sein Lächeln war dem Bildhauer zu einem verdächtig breiten Grinsen geraten.
Am Donnerstag der vorletzten Wochen blieb ich unwillkürlich in seinem Vorgarten stehen, drehte mich, einem Reflex folgend, um und verzichtete auf den Besuch bei Heysink. Dafür ging ich in den nahe gelegenen verwilderten Wald, verließ den breiten Weg, um zunächst auf einem schmalen Pfad und schließlich quer waldeinwärts zu gehen.
Ich setzte mich unterhalb der Wurzeln eines umgestürzten Baumes auf den Boden, lehnte mich an die feuchte Erde zwischen den Wurzelgeflechten, sog den Modergeruch alten Laubs ein und genoss es, dass feine Wurzeln auf meinem Kopf lagen und in mein Blickfeld hingen. Es war mir, als würde mich eine Erdhöhle aufnehmen und sich um mich schließen. Ameisen und anderes Kleingetier krabbelten mir über Gesicht und Hände. Ich ließ sie und wischte mir die Insekten erst nach einer ganzen Zeit vorsichtig von der Haut.
Vor drei Tagen schaffte ich es ungehindert durch Heysings Vorgarten. Lächelnd empfing er mich an der Tür. Sein Gesicht war sehr blass. Er kraulte sich den Vollbart, hielt meinem Blick ungewohnt lange stand und führte mich in sein Meditationszimmer.
Durch helle Seidenvorhänge drang gedämpftes Licht. Die gelbbraun gestrichene Wände schienen alle Aufmerksamkeit auf die Konsole mit dem schwarzen Buddha-Kopf zu lenken. Im Schneidersitz hockten wir uns nebeneinander auf je ein rotes Sitzkissen.
Heysink trug zur Meditation immer einen weißen Kittel. Er zog ihn glatt und wollte wissen, wie es mir geht. „Zufällig recht gut.“ Ausführlich erzählte ich ihm von meinem Erlebnis an den Wurzeln des umgestürzten Baumes.
„Hört sich an, als wärst du auf der Suche nach deinem Grab!?“
„Erstens will ich keine Ganzkörperbestattung. Ich lass mich verbrennen. Und zweites weiß ich noch gar nicht, was ich da in den Baumwurzeln suche. Allerdings als ich zwischen Wurzeln und Erde saß, fühlte ich mich nicht mehr allein. Nein, ich gehörte dazu, ohne zu wissen, wozu.“
Heysing vergaß seine Gelassenheit und begann, gestenreich auf mich einzureden. Ich müsse lernen, das Nichts zu akzeptieren. Nur wer mit dem Nichts angstfrei allein sein könne, sei vollkommen bei sich und dadurch ein Vollkommener.
Genervt starrte ich auf den beigen Teppichboden vor meinen Beinen.
„Wenn du richtig meditieren willst, musst du dich aufrichten!“ zischte Heysing und bediente einen MP3-Player neben sich, der leise Meditationsmusik aus Tibet über zwei kleine Lautsprecher in den Raum strömen ließ.
„Es ist wichtig, frei aus- und einzuatmen… .“ Seine Stimme bekam einen sanft verzeihenden Klang, den ich besonders hasste.
„Du hältst mich wohl für absolut unbelehrbar?“
„Nein, nein. Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Der Mensch balanciert am Abgrund, schwebt zwischen Leben und Tod.“
Vergeblich bemühte ich mich, ruhig zu antworten. „Weißt du, deine klugen Sprüche kannst du dir sparen. Ich hab keine Angst vorm Tod.“
Bedächtig schüttelte er den Kopf mit den langen grauen Haaren. „Der Tod gehört zum Leben. Wenn, dann hast du Angst vorm Leben. Aber wen das Nichts nicht erschüttert, dem kann auch das Leben nichts anhaben.“

Heysing begegnete ich bei einem Anti-Stress-Seminar. Vor gut einem Jahr. Unter dem Titel „Entschleunigen Sie!“ hofften elf der zwölf Teilnehmer bei ihm zu lernen, mit ihrem beruflichen Stress umzugehen. Ich hingegen war schon seit einem Jahr Rentner, fühlte mich dennoch innerlich getrieben und konnte nachts kaum schlafen. Es gelang mir nicht, die endlose Flut meiner sich widersprechenden Gedanken zu bändigen. Mein Hirn dachte und dachte dagegen. Ununterbrochen. Ich war gezwungen, nach innen zu hören und daher nicht in der Lage mitzubekommen, was andere Leute mir sagen wollten.
Unter dem Wurzelwerk des umgestürzten Baums wurde ich ruhig. Mein Hirn vergaß plötzlich zu denken.
„In der Natur hat die Kultur Pause!“ behauptete ich und selbst Heysink fiel nicht etwas dagegen ein.
Vorsichtig schielte ich zu ihm. Er hatte die Augen geschlossen. Schweigend hockten wir eine Weile nebeneinander. Ich hörte ihn tief und regelmäßig atmen und stellte mir vor, feine Baumwurzeln vor mir zu sehen.
„Der Tod kann erlösen.“ murmelte ich leise.
Im Brustton tiefster Überzeugung ergänzte Heysing: „…denn er ist das Tor zum Nichts.“
„Das Nichts ist für mich alles das, was ich mit meinen Erkenntnisfähigkeiten nicht erreichen kann. So wie ich Zufälle nicht vorhersehen kann.“
Heysing neben mir öffnet nicht einmal seine Augen. „Zufälle sind leere Hoffnungen.“
Gern hätte ich ihm widersprochen, wusste aber, er würde sich nicht auf andere Erkenntnisse einlassen. Und schon gar nicht zufällig.
Mir schlief das linke Bein ein. Vorsichtig streckte ich es aus und versuchte mich vom Kissen zu erheben. Heysing blieb mit geschlossenen Augen sitzen.
„Kannst ja mal mit zu dem umgestürzten Baum kommen.“ Schlug ich ihm vor.
Heysing ließ sich Zeit. Schließlich sah er mich kurz von der Seite an. „Warum nicht?“
Ich ging auf dem schmalen Pfad vor ihm her. Die Stelle, von der es durch das Unterholz geradewegs zum umgestürzten Baum ging, hatte ich mir gemerkt. Hinter einer dicken von Efeu umrankten Buche, musste ich vom Pfad abbiegen.
„Ist es noch weit?“ wollte Heysink wissen und wirkte auf mich kurzatmig.
Ich fand den Baum auf Anhieb. Heysink lehnte sich neben mir an die Wurzeln und die feuchte Erde und stöhnte auf. Er habe immer einen Spaziergang gewollt. Keinen Lebenslauf. Doch der sei ihm zum ziellosen Rennen geworden.
Sein Gesicht war blass. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Vorsichtig legte ich meinen Arm um seine Schulter. Doch er griff sich an die Brust. „Hier…, hier tut es verdammt weh.“ Er sog noch einmal Luft ein, atmete aus und sackte in sich zusammen.
 

wirena

Mitglied
Hallo Karl

Schön – Deine Geschichte hat mich soeben erreicht und beinahe fliehen alle Wort. Zufall oder nicht; jedenfalls werde ich nun mein Märchen vom Nichts zurück ins Leben rufen – mal sehen – vielleicht manifestiert es sich sogar per Bits und Bytes via Leselupe.

Herzlichen Dank für diesen Impuls

Liebä Gruess
wirena
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo Karl,
eine klasse Geschichte, wie ich finde.
Habe mich köstlich amüsiert beim Lesen (das bezieht sich jetzt nicht speziell auf den Schluss), die ganze story ist getragen von einer feinen, hingehauchten Ironie.
Sinn- und Seinsfragen werden touchiert, beleuchtet - aber ohne alle Schwere und Verbissenheit, hmm, kann meine Eindrücke auch nicht so recht in Worte fassen, außer: ich bin begeistert!

Wo wir hier nun schon bei der Ankündigung von Geschichten sind (Gruß an wirena), die im Werden sind oder in irgendwelchen Magazinen schlummern: deine story hat mich im Tonfall / in der Thematik an eine story von mir erinnert; werde sie ans Tageslicht befördern und nochmal drübergehen und dann mal hier einstellen.

lg wüstenrose
 
Liebe Wüstenrose,
über deine positive Kritik habe ich mich natürlich sehr gefreut. Danke. Auf deine (ähnliche) Geschichte bin ich sehr gespannt. Bitte schicke mir einen Hinweis, wenn du sie einstellst. Ich wünsche dir alles Liebe zum Neuen Jahr...
Gruß
Krl
 



 
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