Zu süß

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HansSchnier

Mitglied
Ich lebe in einer Stadt, die vom Himmel stinkt. Mit süßen Düften versuchen Bewohner von unten den Gestank zu überdecken. Doch sie machen alles nur noch schlimmer. Drückt der Gestank mich nur zu Boden, so würgt mich das unerträglich Süße bis mir der Atem genommen ist. Der Duft umschließt mich einer gewaltigen Masse Gelee gleich, überfüllt Mund und Nase und fesselt meine Glieder. Meine Ohren hören Töne nur noch gedämpft. Schreie erreichen mich wispernd. Dem Lärm entrückt steigt Panik auf.

Ich atme jetzt nicht mehr, sondern beziehe meinen Sauerstoff wie ein Fisch aus dem Wasser. Noch bin ich der Einzige, doch weitere werden weitere folgen. Es waren zwei Operationen notwendig, um meine Lunge den neuen Bedingungen anzupassen. Nach der ersten Operation, die Chirurgen hatten keinerlei Erfahrungswerte, wäre ich beinahe nicht mehr erwacht. Die Schmerzen nach der zweiten Operation waren nahezu unerträglich. Was mir geblieben ist, ist die Sucht nach Morphium. Eine erträgliche Sucht.
Ich trainiere täglich, stehe unter ständiger Beobachtung. Anfangs konnte ich meinen Sauerstoffbedarf nur wenige Sekunden mit Wasser abdecken, dann fing ich an zu japsen, und gewaltige Maschinen hielten mich am Leben. Mittlerweile kann ich drei Stunden nur von Wasser leben.
Die Ärzte loben mich und verschreiben mir weiterhin Morphium. So ertrage ich die Reporter und ihre Kameras. Es ist egal, dass ich nicht mehr sprechen kann. Sie könnten mich, gefangen in ihrem süßen Duft, gar nicht verstehen.

Die Ärzte sagen, dass ich die Straßen meiner Stadt bald werde wieder betreten können. Ich werde hören und sehen. Alles ganz klar. Ich werde ohne Fesseln schlendern und nach jedem Schluck Wasser lächeln. Denn Ich werde frei sein.
 
H

Haki

Gast
Wow,

das ist Kurzprosa nach meinem Geschmack. Flüssige Sprache erzäjlt stimmige Bilder. Das ist dir sehr gut gelungen.
Finde ich toll, diesen Text.

Liebe Grüße,
Haki
 

HansSchnier

Mitglied
Ich lebe in einer Stadt, die vom Himmel stinkt. Mit süßen Düften versuchen Bewohner von unten den Gestank zu überdecken. Doch sie machen alles nur noch schlimmer. Drückt der Gestank mich nur zu Boden, so würgt mich das unerträglich Süße bis mir der Atem genommen ist. Der Duft umschließt mich einer gewaltigen Masse Gelee gleich, überfüllt Mund und Nase und fesselt meine Glieder. Meine Ohren hören Töne nur noch gedämpft. Schreie erreichen mich wispernd. Dem Lärm entrückt steigt Panik auf.

Ich atme jetzt nicht mehr, sondern beziehe meinen Sauerstoff wie ein Fisch aus dem Wasser. Noch bin ich der Einzige, doch weitere werden folgen. Es waren zwei Operationen notwendig, um meine Lunge den neuen Bedingungen anzupassen. Nach der ersten Operation, die Chirurgen hatten keinerlei Erfahrungswerte, wäre ich beinahe nicht mehr erwacht. Die Schmerzen nach der zweiten Operation waren nahezu unerträglich. Was mir geblieben ist, ist die Sucht nach Morphium. Eine erträgliche Sucht.
Ich trainiere täglich, stehe unter ständiger Beobachtung. Anfangs konnte ich meinen Sauerstoffbedarf nur wenige Sekunden mit Wasser abdecken, dann fing ich an zu japsen, und gewaltige Maschinen hielten mich am Leben. Mittlerweile kann ich drei Stunden nur von Wasser leben.
Die Ärzte loben mich und verschreiben mir weiterhin Morphium. So ertrage ich die Reporter und ihre Kameras. Es ist egal, dass ich nicht mehr sprechen kann. Sie könnten mich, gefangen in ihrem süßen Duft, gar nicht verstehen.

Die Ärzte sagen, dass ich die Straßen meiner Stadt bald werde wieder betreten können. Ich werde hören und sehen. Alles ganz klar. Ich werde ohne Fesseln schlendern und nach jedem Schluck Wasser lächeln. Denn Ich werde frei sein.
 
G

Gelöschtes Mitglied 7520

Gast
hallo hans,

da stimm' ich dem haki zu: klasse text, klasse story. schnörkellos, apokalyptisch, stimmig.

wobei ich mich schon immer gefragt habe wie z.b. haie unter wasser riechen können? ob der olfaktorische ausweg des protagonisten sich auch als solcher erweisen wird? auf jeden fall ist er bereit für die dinge, die da kommen mögen.

grüße
nofrank
 

Odilo Plank

Mitglied
Hallo Hans,
Dein Text erinnert mich an Oskar Loerkes Gedicht "Blauer Abend in Berlin", zeitgemäß in eine apokalyptische Parabel verwandelt.
Ich schließe mich dem vorhergegangenen Lob an.
LG Odilo
 

HansSchnier

Mitglied
Zunächst einmal ein Dankeschön an die Vorkommentatoren. Euer Lob schmeichelt und motiviert zugleich. Es freut mich, wenn Euch der Text gefällt.
Odilo, das Loerke-Gedicht hatte ich bei deiner Erwähnung gar nicht mehr vor Augen, es diente also nicht als Inspiration zum Text. Aber dass du ihn in der Nähe Loerkes ansiedelst ehrt mich natürlich.

Grüße

HansSchnier
 

Inu

Mitglied
Ein Text, der mir ebenso sonderbar verwirrend wie stimmig vorkommt und zum Nachfühlen zwingt

Gruß
Inu
 



 
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