Die Diagnose: Diabetes mellitus (Typ 1). Die neusten Methoden: Einen Sensor unter die Haut rammen, mit dem Handy den Blutzucker überprüfen, hin und wieder wahlweise Insulin oder Traubenzucker zuführen, fertig. Ist nicht kompliziert, höchstens nervig. Ähnlich verhält es sich mit dem dreitägigen Crash-Kurs, in dem blutige Zucker-Anfänger darüber aufgeklärt werden, was Diabetes überhaupt ist, wie man die Kohlenhydrate bei Mahlzeiten richtig einschätzt und dass völlig sinnlos ist, sich mit einer Überdosis Insulin selbst den Garaus machen zu wollen – da werde man im besten Fall nur matsche in der Birne. „Schmeißen Sie sich lieber vor den Zug, das ist sicherer“, erklärt die blond gelockte Kursleiterin gut gelaunt. Ein adipöser Brillenträger zu meiner Rechten macht sich eifrig nickend Notizen.
Er und die anderen Leidensgenossen, die sich im schmucken Konferenzraum eingefunden haben, wirken im Rahmen ihrer Möglichkeiten recht normal auf mich. Doch der Schein trügt. „Vielleicht möchten Sie kurz berichten, wie Sie bisher mit der Krankheit zurecht…“ Ein junger Mann, Student, räuspert sich. „Es ist ja gar keine Krankheit, ich muss nur beim Essen für meinen Körper das Denken übernehmen!“, protestiert er. Die Leiterin nickt halb zustimmend, halb verwundert, doch ihre Reaktion interessiert mich eigentlich schon gar nicht mehr. Denn wer sich derart keck wie der Kollege in den Vordergrund drängelt, verdient meine ungeteilte Aufmerksamkeit. So bemerke ich in der Folge, wie er in den Gesprächsrunden zwar unablässig betont, dass ihn die neue Situation – er vermeidet gewissenhaft das Wort „Krankheit“ - nicht belaste, trotzdem checkt er per Handy alle dreißig Sekunden, was sein Sensor am Arm so an Zahlen ausspuckt, und hat prophylaktisch schon sein Insulin sowie Traubenzucker und andere Energielieferanten vor sich ausgebreitet. Auch ein herkömmliches Messgerät (Stechen ? Blutstropfen ? Messstreifen ? Blutzucker wird angezeigt) findet sich in seinem Sammelsurium. Auf Nachfrage, wozu er zwei Messgeräte brauche, erwidert er: „Zur Sicherheit!“, und schiebt aufgrund zahlreicher gerunzelter Stirnen nach: „Naja, ich kenne mich doch: der Handy-Akku ist immer genau dann leer, wenn man ihn am meisten braucht!“ Jetzt checken auch die anderen Teilnehmer, dass der Nachmittag mit dem Kandidaten hier kein Zuckerschlecken wird. Vom vorlauten Besserwisser zum exzessiven Kontrollfreak innerhalb weniger Augenblicke – langsam bekomme ich Mitleid mit dem Diabetes, der sich einen derart schwierigen Patienten ausgesucht hat.
Diesem gelingt es, sich im Laufe des Tages sogar noch zu steigern. So schaltet er sich bei einer Fragerunde ein und will von der Leiterin wissen: „Also mal angenommen…ich weiß, es ist sehr unwahrscheinlich…“ (Bitte nicht, denke ich, was kommt denn jetzt?) „…ich habe etwas zu viel getrunken (Er lacht nervös) und werde von der Polizei in die Ausnüchterungszelle gebracht…“ (Warum soll das unwahrscheinlich sein, wundere ich mich, passiert dem Studenten doch sicher jeden zweiten Mittwoch) „…Soweit ich weiß, nehmen die einem dann da alle Sachen ab. Also auch mein Insulin und meinen Traubenzucker…was mache ich in so einer gefährlichen Situation?“ Nun bin ich doch auf die Reaktion der Kursleiterin gespannt.
Obwohl sie sicherlich schon einige eigenwillige Teilnehmer miterleben durfte, merkt man ihr an, dass sie sich hier mit einem ganz und gar unbekannten Exemplar konfrontiert sieht, bei dem man abwägen muss, ob die Fragen tatsächlich ernst gemeint sind. „Äh, naja…“, entgegnet die Gefragte, noch unsicher, ob der prädestinierte Hobbyalkoholiker vielleicht jetzt schon etwas getrunken hat. „Die Polizisten sind in der Regel geschult, was die Krankheit (Vorsicht, gleich protestiert er, denke ich) angeht, da wird Ihnen nichts passieren.“ Keine Rückfrage, kollektives Aufatmen im Kurs.
Diabetes mellitus (Typ 1) ist zwar nicht ansteckend, solch schwachsinnige Horrorszenarien, die hier ausgebuddelt werden, dafür umso mehr. So kommt es, dass meine Gedanken abschweifen. Während auf der Leinwand ein Comic projiziert wird, in dem kleine, grotesk anmutende Miniklempner den Zucker ins Blut und wieder heraus schaufeln, male ich mir aus, wie ich mich auf den Malediven von meinen Kumpels zu einem Tauchkurs überreden lasse. Die majestätische Tier- und Pflanzenwelt zieht mich minutenlang in ihren Bann, aber ich habe mir zu viel Insulin vor dem Chicken Makani reingepumpt. Und so nimmt das Unheil seinen Lauf: Nach 100 Metern unter dem Meeresspiegel sinkt auch mein Blutzucker rapide ab und ich versuche durch verzweifeltes Kratzen und Bohren und Stochern, an meinen Traubenzucker zu gelangen, den ich mir in weiser Voraussicht vor dem Tauchgang unter den Latexanzug geschoben habe – keine Chance. Ich schwitze unter meinem Helm wie in einer türkischen Dampfsauna, das Blut kocht, Panik kriecht in jede Pore, Deep-Blue-Blackout, Blubb, Blubb, Blubb.
Die penetrant nasale Studentenstimme katapultiert mich zurück in die trockene Realität. Er lässt nicht locker, illustriert aufs Neue ein Gedankenexperiment. Das kann er, hat er ja schon mit dem Polizeibeispiel bewiesen, da ist er in seinem Element: „Was ist, wenn ich gerade vor meinem Essensteller sitze, ich habe mir bereits Insulin gespritzt und dann bekomme ich auf einmal einen Anruf, dass die Oma gestorben sei, vergesse das Essen und unterzuckere…“
So, denke ich, genug ist genug: „Ja, wie oft stirbt deine Oma denn?!“, brülle ich. Lachen in der Runde. Die Kursleiterin ist sichtlich erleichtert, dass dem Wahnsinn endlich Einhalt geboten wurde. Der Student grinst verlegen und legt seine Fragerei vorerst auf Eis. Die nächsten zwei Tage täusche ich eine Erkältung vor und bleibe zu Hause.
Er und die anderen Leidensgenossen, die sich im schmucken Konferenzraum eingefunden haben, wirken im Rahmen ihrer Möglichkeiten recht normal auf mich. Doch der Schein trügt. „Vielleicht möchten Sie kurz berichten, wie Sie bisher mit der Krankheit zurecht…“ Ein junger Mann, Student, räuspert sich. „Es ist ja gar keine Krankheit, ich muss nur beim Essen für meinen Körper das Denken übernehmen!“, protestiert er. Die Leiterin nickt halb zustimmend, halb verwundert, doch ihre Reaktion interessiert mich eigentlich schon gar nicht mehr. Denn wer sich derart keck wie der Kollege in den Vordergrund drängelt, verdient meine ungeteilte Aufmerksamkeit. So bemerke ich in der Folge, wie er in den Gesprächsrunden zwar unablässig betont, dass ihn die neue Situation – er vermeidet gewissenhaft das Wort „Krankheit“ - nicht belaste, trotzdem checkt er per Handy alle dreißig Sekunden, was sein Sensor am Arm so an Zahlen ausspuckt, und hat prophylaktisch schon sein Insulin sowie Traubenzucker und andere Energielieferanten vor sich ausgebreitet. Auch ein herkömmliches Messgerät (Stechen ? Blutstropfen ? Messstreifen ? Blutzucker wird angezeigt) findet sich in seinem Sammelsurium. Auf Nachfrage, wozu er zwei Messgeräte brauche, erwidert er: „Zur Sicherheit!“, und schiebt aufgrund zahlreicher gerunzelter Stirnen nach: „Naja, ich kenne mich doch: der Handy-Akku ist immer genau dann leer, wenn man ihn am meisten braucht!“ Jetzt checken auch die anderen Teilnehmer, dass der Nachmittag mit dem Kandidaten hier kein Zuckerschlecken wird. Vom vorlauten Besserwisser zum exzessiven Kontrollfreak innerhalb weniger Augenblicke – langsam bekomme ich Mitleid mit dem Diabetes, der sich einen derart schwierigen Patienten ausgesucht hat.
Diesem gelingt es, sich im Laufe des Tages sogar noch zu steigern. So schaltet er sich bei einer Fragerunde ein und will von der Leiterin wissen: „Also mal angenommen…ich weiß, es ist sehr unwahrscheinlich…“ (Bitte nicht, denke ich, was kommt denn jetzt?) „…ich habe etwas zu viel getrunken (Er lacht nervös) und werde von der Polizei in die Ausnüchterungszelle gebracht…“ (Warum soll das unwahrscheinlich sein, wundere ich mich, passiert dem Studenten doch sicher jeden zweiten Mittwoch) „…Soweit ich weiß, nehmen die einem dann da alle Sachen ab. Also auch mein Insulin und meinen Traubenzucker…was mache ich in so einer gefährlichen Situation?“ Nun bin ich doch auf die Reaktion der Kursleiterin gespannt.
Obwohl sie sicherlich schon einige eigenwillige Teilnehmer miterleben durfte, merkt man ihr an, dass sie sich hier mit einem ganz und gar unbekannten Exemplar konfrontiert sieht, bei dem man abwägen muss, ob die Fragen tatsächlich ernst gemeint sind. „Äh, naja…“, entgegnet die Gefragte, noch unsicher, ob der prädestinierte Hobbyalkoholiker vielleicht jetzt schon etwas getrunken hat. „Die Polizisten sind in der Regel geschult, was die Krankheit (Vorsicht, gleich protestiert er, denke ich) angeht, da wird Ihnen nichts passieren.“ Keine Rückfrage, kollektives Aufatmen im Kurs.
Diabetes mellitus (Typ 1) ist zwar nicht ansteckend, solch schwachsinnige Horrorszenarien, die hier ausgebuddelt werden, dafür umso mehr. So kommt es, dass meine Gedanken abschweifen. Während auf der Leinwand ein Comic projiziert wird, in dem kleine, grotesk anmutende Miniklempner den Zucker ins Blut und wieder heraus schaufeln, male ich mir aus, wie ich mich auf den Malediven von meinen Kumpels zu einem Tauchkurs überreden lasse. Die majestätische Tier- und Pflanzenwelt zieht mich minutenlang in ihren Bann, aber ich habe mir zu viel Insulin vor dem Chicken Makani reingepumpt. Und so nimmt das Unheil seinen Lauf: Nach 100 Metern unter dem Meeresspiegel sinkt auch mein Blutzucker rapide ab und ich versuche durch verzweifeltes Kratzen und Bohren und Stochern, an meinen Traubenzucker zu gelangen, den ich mir in weiser Voraussicht vor dem Tauchgang unter den Latexanzug geschoben habe – keine Chance. Ich schwitze unter meinem Helm wie in einer türkischen Dampfsauna, das Blut kocht, Panik kriecht in jede Pore, Deep-Blue-Blackout, Blubb, Blubb, Blubb.
Die penetrant nasale Studentenstimme katapultiert mich zurück in die trockene Realität. Er lässt nicht locker, illustriert aufs Neue ein Gedankenexperiment. Das kann er, hat er ja schon mit dem Polizeibeispiel bewiesen, da ist er in seinem Element: „Was ist, wenn ich gerade vor meinem Essensteller sitze, ich habe mir bereits Insulin gespritzt und dann bekomme ich auf einmal einen Anruf, dass die Oma gestorben sei, vergesse das Essen und unterzuckere…“
So, denke ich, genug ist genug: „Ja, wie oft stirbt deine Oma denn?!“, brülle ich. Lachen in der Runde. Die Kursleiterin ist sichtlich erleichtert, dass dem Wahnsinn endlich Einhalt geboten wurde. Der Student grinst verlegen und legt seine Fragerei vorerst auf Eis. Die nächsten zwei Tage täusche ich eine Erkältung vor und bleibe zu Hause.