Zufällige Begegnung

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Gestern, als ich aus dem Haus ging und den Weg zur Straßenbahn einschlug, kam er mir entgegen und er trug tatsächlich wie damals seinen Hut auf dem Kopf. Unwillkürlich dachte ich, dass er wie ein Mann von Welt aussähe. Ich hätte ihn gerne länger betrachtet, ohne etwas zu sagen, aber da kam er schon auf mich zu, tippte grüßend an seinen Hut und lächelte. Ich dachte, wie gut er immer noch aussieht, obwohl wir uns sicher seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen hatten.
Als er mich dann anblickte und in einem melodischen Tonfall fragte, ob ich wüsste, wo diese oder welche Straße wäre und ich stockend antwortete, diese Straße sei mir kein Begriff und jene Straße leider auch nicht und ich tief Luft holen musste, weil mich seine Anwesenheit so außer Fassung brachte, da merkte ich doch, dass er gar nicht wusste, mit wem er hier redete. Aber weil er lächelte und sich bedankte und ganz so war, wie ich ihn immer am liebsten gesehen hatte und in meiner Vorstellung immer noch sah, da sagte ich nichts davon, dass wir uns doch eigentlich kannten. Schließlich ging er davon, nach unserem kleinen Gespräch und ich sah ihm sinnend hinterher, ein klein wenig bedauernd zwar, aber mit dem Wissen in meinem Inneren, dass unsere zufällige Begegnung doch richtig verlaufen war und ich sie gar nicht hätte anders haben wollen.
 
R

Ray Catcher

Gast
Hallo,
Mir gefällt der Text. Er lebt den Moment, wie er ist. Ganz ohne Hintergrund und Namen und wie sich Erwartung und Empfinden in der Begegnung abwechseln.
Das sind schon recht lange Reihensätze, teils verschachtelt. Sie stören aber nicht den Fluss, sondern unterstreichen die kurze Abfolge von Eindrücken innerhalb dieser Minute.
Liebe Grüße
Ray
 
Die langen Sätze wirken auf mich wie die Darstellung von Atemlosigkeit. Das passt gut zur Situation. Und der Mann von Welt trägt heute wieder Hut.
 

MicM

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,

die - ich nehme mal an bewusst „gebauten“ - langen Sätze geben dem kurzen Text tatsächlich einen interessanten Charakter. Die gewisse Flüchtigkeit der Begegnung wird gut transportiert. Aufgrund der Kürze würde ich sprachlich hier und da noch etwas feilen.

Bspw. sehr ähnliche Formulierung sehr nah beieinander:
Gestern, als ich aus dem Haus ging und den Weg zur Straßenbahn einschlug, [blue]kam er mir entgegen [/blue]und er trug tatsächlich wie damals seinen Hut auf dem Kopf. Unwillkürlich dachte ich, dass er wie ein Mann von Welt aussähe. Ich hätte ihn gerne länger betrachtet, ohne etwas zu sagen, aber da [blue]kam er schon auf mich zu[/blue], tippte grüßend an seinen Hut und lächelte.
Aus meiner Sicht nicht so eingängige Formulierung:

diese oder [blue]welche[/blue] Straße
Müsste es im letzten Satz nicht wie folgt heißen?

Schließlich ging er davon, nach unserem kleinen Gespräch und ich sah ihm sinnend hinterher, ein klein wenig bedauernd zwar, aber mit dem Wissen in meinem Inneren, dass unsere zufällige Begegnung doch richtig verlaufen war und ich sie gar nicht hätte anders [blue]gehabt[/blue] haben wollen.
Auf bald,
MicM
 
Hallo Rhondaly da Costa,

danke für die Schilderung, wie die Geschichte auf dich gewirkt hat!

Hallo MicM,

.ich sie gar nicht hätte anders haben wollen
ist grammatisch, sprachlich und inhaltlich in dem Zusammenhang richtig. "Gehabt haben wollen" wäre hier, verzeih, schauderhafte Grammatik. (Eigentlich nicht nur hier, sondern überhaupt.)

Bei "diese oder welche Straße" hast du recht. "Diese oder jene Straße" wäre hier besser gewesen.
Danke fürs Vorbeischauen und Kommentieren!

LG SilberneDelfine
 
Dein kurzer Text, Delfine, könnte mich zu längerem Nachdenken veranlassen. Z.B. darüber, welche Rolle positive Erinnerungsbilder von Menschen in unserem späteren Leben spielen. Ist an ihnen nicht etwas für alle Zeit Festgelegtes, sozusagen Geronnenes? Veränderungen, die die Zeit zwangsläufig mit sich bringt, haben meist etwas Zersetzendes. Dann bestand der Glücksfall hier darin, dass der begegnende Herr äußerlich dem Bild noch vollkommen entsprach, und die IE war so klug, das Bild unangetastet zu lassen, indem sie sich nicht persönlich vorstellte. Ein näheres Gespräch hätte mit gewisser Wahrscheinlichkeit neue und d.h. irritierende Details ans Licht gebracht.

Sprachlich und stilistisch finde ich den Text übrigens vorzüglich gearbeitet.

Schönen Mittagsgruß
Arno Abendschön
 
Hallo Arno,

vielen Dank für deine Beschäftigung mit dem Text und deinen Kommentar! Genau das ist es, was mich so daran reizt, Kurzprosa zu schreiben: Mit einer Kürzestgeschichte den Leser zu längerem Nachdenken über den Text und die Interpretation zu bringen. Ich freue mich sehr, dass es mir hier gelungen ist.

Einen schönen Sonntag

LG SilberneDelfine
 
Ich möchte fast um Entschuldigung bitten für einen vielleicht unangemessenen Vergleich mit einem literarischen Schwergewicht, aber der Stil erinnert mich ein wenig an gewisse sehr pointierte, sehr kurze Text von Kafka.
 
Hallo Binsenbrecher,

vielen Dank. Nun bin ich platt, denn ich habe noch nie etwas von Kafka gelesen, auch wenn ich es ein paar Mal versucht habe... :)

LG SilberneDelfine
 



 
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