Zug ins Jenseits

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AKM

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Zug ins Jenseits

Ein gekrümmtes Fragezeichen – so kauerte Adalbert auf dem Kellerboden. Seine Augen folgten ruhelos den zitternden Fingerchen, die tastend über den kalten Steinboden strichen. Was seine Augen nicht wahrhaben wollten, seine Finger erfühlten es. Seine Hände schoben Metallrädchen, Ventile aus Plastik, Teile einer Leiter und den aufgeplatzten Dampfkessel zusammen. Fragmente eines Glückes, das er eben noch für unzerstörbar hielt.

Er schaute auf. Ein Gedanke an seinen Vater drängte zur Eile: “Faß‘ die Eisenbahn niemals an, wenn ich nicht dabei bin, hörst Du, niemals!“

Hastig wickelten seine bebenden Hände die anklagenden Überreste in einen verölten Stofflumpen. Den stopfte er in einen umherliegenden Jutesack.

Sicher würde ihn auch diesmal die schwere Hand seines Vaters mit voller Härte treffen. Diese Hand konnte die schrecklichsten Schmerzen entfesseln. Dennoch wünschte er sie jetzt beinahe herbei, als gerechte Antwort auf das, was er getan hatte. Das Schweigen des leeren Hauses bedrückte ihn weit mehr, als die Donnerstimme seines Vaters es vermochte. Adalbert hätte schreien mögen, toben und heulen. Die Schreie kehrten sich aber ungehört nach innen, und auf seinen Wangen glänzten keine Tränen.

Was würde Mutter jetzt wohl zu ihm sagen? Adalbert hatte sie auf den wenigen Fotos im Album seines Vaters gesehen und viele Male versucht, ihre Stimme herbeizulauschen.

Jäh sprang er auf und griff nach dem Jutesack: So wie alle toten Katzen, Vögel und Kaninchen ihren Ruheplatz unter einem Baum im Garten hatten, so sollte die treue Lokomotive im Schotter des nahen Bahndammes begraben sein. Dieser Einfall ließ ihn wieder atmen.

Adalbert spürte kaum mehr den Boden unter seinen Füßen, als er zur Haustür lief und die Klinke dem Druck seiner Hand nachgab. Ein kalter Luftzug erfaßte ihn, zerzauste seine Haare und trieb ihm feuchtes, gelb-braunes Laub ins Gesicht. Er erschauderte und rannte los. In der Ferne flatterte eine Heerschar von Krähen auf, die sich vor der tief stehenden milchigen Sonne wie eine drohende schwarze Wolke ausnahm.

Erst als er den grauen Schotterwall des Bahndammes erreichte, hielt er einen Moment lang inne, holte tief Luft und ließ den Beutel neben sich niedersinken. Kaum war er wieder bei sich, stieg er auf einen Erdhügel und hielt Ausschau. Seine Augen fuhren bedächtig die Bahnschwellen entlang. Ein Stück roten Stoffbandes zwischen den Steinen hielt schließlich seine Aufmerksamkeit gebunden. Dort sollte es sein. Er griff den Sack, kraxelte auf den Bahndamm und begann, die Schotterbrocken zu einem Hügel anzuhäufen. Als das entstandene Loch tief genug war, knüpfte er das rote Band zu einer Schleife um sein Bündel und drückte es in die Vertiefung.

Einen kurzen Moment lang vernahm er ein entferntes metallisches Sirren. Adalbert wußte, was dies bedeutete. Er zwang seinen Blick nach unten auf das Tuch mit dem roten Stoffband und nahm sich fest vor, erst so spät wie möglich aufzublicken. Ein andächtiges Kribbeln erfüllte seinen Bauch. Wie durch eine Sanduhr rieselte mit jeder verstreichenden Sekunde etwas ganz Außerordentliches, Aufwühlendes in sein Innerstes und zeigte ihm, daß er da war, daß er wirklich lebte.

Rasch verteilte er einige Schottersteine auf dem freiliegenden Tuch, ließ aber ein Ende des roten Bandes noch herausragen. “Ich komme wieder“, schwor er.

Das Schrillen der Gleise brandete jetzt schon aufdringlicher an seine Ohren. Einen letzten Gedankenblitz, ein letztes Bild ließ er noch zu, bevor er vom Bahndamm springen würde:

Etliche Male hatte er das Vergrößerungsglas heimlich vom Schreibtisch seines Vaters genommen, seinen Kopf auf die Gleise der Modellbahn gelegt, ein Auge geschlossen und mit dem anderen durch die Lupe den herannahenden Zug beobachtet. Für wenige Sekunden schloß er die Augen und ließ das Feuer dieser ungeheuerlichen Spannung nochmals auflodern:

Aus einem entfernten undeutlichen Schatten baute sich ein schlängelndes Wesen auf. Zielstrebig nahm es die letzten Kurven und hielt direkt auf ihn zu. Er spürte die zitternde Unruhe der Gleise und sein aufgeregtes Herz. Wie ein wuchtiges Ungetüm stürmte ihm nun der stampfende Koloß auf zwei Metallstrahlen entgegen.

Immer länger hatte er dieses fiebernde Kribbeln in seinem Bauch ausgehalten, immer später Lupe und Kopf zurückgezogen. Heute schließlich ist es geschehen. Er hatte einen Augenblick zu lang gezögert. Mit den Stoppern blieb die Lokomotive am unteren Metallrand des Vergrößerungsglases hängen, als er es mit einem Ruck nach oben wegzog. In einem hohen Bogen flog die Lok über die Tischkante hinweg gen Boden.

Noch einmal hörte er den splitternden Aufprall. Noch einmal quälte ihn seine Schuld. Ein letztes Mal fühlte er sich unendlich allein. Dann schaute er auf.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo AKM, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Eine spannende Geschichte, ein trauriges Ende, ein eindringlicher Blick auf die Themen Angst und Schuld. Mal sehen, was andere Leser (hoffentlich) dazu sagen.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 
Hallo AKM,
schreiben kannst Du!
Die Spannung, die du in deinem Text aufbaust, lässt einen kurzatmig werden. Man fühlt mit dem kleinen Jungen, hockt an den Gleisen und befürchtet das Schlimmste! Ist es dann geschehen, bemerkt man erst, dass man die Luft angehalten hat.
Schreib weiter! Ich freue mich schon auf neue Geschichten von dir.

Übringens, die Abkürzung AKM hat mich dazu verleitet deine Geschichte zu lesen. ; o) Es hat sich gelohnt!

Liebe Grüße
Anita Koschorrek-Müller
(AKM)
 

TaugeniX

Mitglied
Wunderbar aufgebaut, beängstigend und berührend.

Das Schuldgefühl eines Kindes ist ohne jede Relation zur Tat und dem Verlust, - maßlos, grenzenlos. Man kann es spüren, man kann sich daran erinnern: du stehst über einer zerbrochenen Sache und hast die ganze Kainsschuld auf den Schultern lasten.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Kainsschuld ist der tödliche Konflikt zwischen zwei Brüdern - Kain und Abel - und hat nichts mit der hier angesprochenen "Schuld" eines Kindes gegenüber seinem Vater zu tun.
 

TaugeniX

Mitglied
Es ist schwer, eine alte kindliche Erinnerung in ihrer Plausibilität zu verteidigen. Für mich war es diese Frage nach dem, was ich kaputt gemacht habe. Ich habe es damals wie das schreckliche Gott-väterliche "Wo ist dein Bruder?" empfunden.

So ist es im Kopf stecken geblieben.

Natürlich nimmt man keine Kainsschuld auf sich, wenn man Spielzeug kaputtmacht. Aber man kann sich als Mörder fühlen dabei...
 

FrankK

Mitglied
Hallo, AKM
Auch von mir ein herzliches Willkommen in der Leselupe.

Ein faszinierder Einstieg ist Dir hier gelungen. Modelleisenbahn, fast schon in Vergessenheit geratenes Spielgut. Oj ja, mit dem Kopf auf den Gleisen liegend - dass kribbelte so unverschämt von den stromführenden Schienen. Die Lok, die auf einen zurast ...

Gelungen, die wechselnden Perspektiven, das vor und zurück in der Zeitlinie.

Bedrückend, das Ende. Hat er noch früh genug aufgeblickt, um dem nahenden Zug zu entkommen? Eine deutliche Antwort fehlt. Der Titel lässt schlimmes ahnen.


Sehr gerne gelesen.


Grüße aus Westfalen
Frank
 

AKM

Mitglied
Ich danke Euch für die empathische Wertung meines Erstlings!

Wie Ihr sicher aus eigener Erfahrung wißt, ist es als Anfänger nicht leicht sich gegen den Inneren Kritiker durchzusetzen, der da sagt: [red]Zu viele Adjektive[/red] und [red]zu gefühlsbetont[/red]. Gegen alle Versuche, Adjektive zu streichen wehrt sich dann aber der Text und verliert an Farbe und Ausdruckskraft. Vielleicht ist das ein Tribut an den kindlichen Protagonisten.

Ab jetzt dürft Ihr durchaus kritisch mit mir umgehen, ich fühle mich gestärkt und erkläre den Welpenschutz für beendet! (aligaga?)

Ich freue mich auf die gemeinsame Schreibe- und Lesezeit!

Andreas
 



 
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