Zugzwang

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Jasmina

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Zugzwang

Er wacht aus kurzem Dämmer auf. Ein langsamer Ruck, ein schnelles Strecken. Alles Geräusch ist noch vom Nachtschlaf eingelullt. Ein Ächzen schüttelt den Stillstand ab und er setzt sich leise in Bewegung. Ohne Hast, niemanden aufwecken. Doch die Bewegung wird schneller. Weg von den Schlafenden.

Eigentlich mag Anders mit dem Zug irgendwohin zu fahren. Das macht er oft. Manchmal wenn er einen Job erledigt hat oder manchmal wenn er einen hat sausen lassen. Er kauft sich dann ein Länder- oder Wochenendticket und fährt in eine Stadt in der er noch nie gewesen war. Manchmal auch an Orte an die er mit ihr zusammen fahren wollte. Naumburg war einer dieser Orte. Der Dom. Die Stifterfiguren. Zusammen sind sie nie dorthin gefahren. Sie hatte ihm viel über den Westchor und den Lettner erzählt. Hauptsächlich aber über Uta, die stille Königin des Doms.
Sie lagen im Bett, dicht an die kleine Nachttischlampe gerückt, die auf einer umgedrehten Holzkiste stand. Vor ihr das aufgeschlagene Buch auf einem wackeligen Lesepult aus Kissen. Wenn sie eine Seite umblätterte, dann wandte sie sich ihm zu und lächelte ihn mit ihrem offenen Kindergesicht an. Am Liebsten malte er Kringel in ihr langes Haar, das sich wie eine weiche Schlange um seine Hand legte. „Keiner wusste wie Uta wirklich jemals ausgesehen hat,“ flüsterte sie ihm ins Ohr. 250 Jahre nach Utas Tod soll ein junger Steinmetz nach Naumburg gekommen sein und einen Auftrag für eine Skulptur angenommen haben. Am Ende war er Uta, der Figur der Uta so erlegen, dass der sich beide Hände abhackte und nie mehr als Steinmetz arbeiten konnte. „Stell dir das mal vor!“ Auf ihrem Mund lag ein Ausdruck des Entsetzens. „Was für ein dummer Kerl“, dachte Anders. „Das ist doch nur eine Legende“, sagte er zu ihr.
Welcher der Geschichten glaubte sie? Sie hatte es ihm nie verraten. Viele Möglichkeiten gab es zu Uta. Vielleicht zu viele.
Später fuhr er einmal allein nach Naumburg. Als er über den Marktplatz lief, stellte er sie sich tanzend auf dem holprigen Kopfsteinplaster vor. Die Füße durften nur jeweils einen Stein berühren. Meist ging das nur auf Zehenspitzen und so hüpfte sie von Stein zu Stein, von verwunderten Fussgängern beobachtet.
Als er dann in dem kalten Dom stand, verschwamm ihr Gesicht plötzlich zu etwas Fernem, nicht mehr Greifbaren. Vor ihm stand eine Skulptur aus Muschelkalk, die leblos die Zeit überdauert hatte.
Ja, er mag es mit dem Zug zu fahren. Das beruhigt ihn. Das gleichmäßige Geräusch der Räder, das sanfte Motorensummen. Dann macht sich immer ein wunderbares Gefühl in ihm breit. Ein Dazwischen, das etwas Neues ankündigt. Wenn er dann in einer fremdem Stadt ankommt, läuft er durch die Straßen und stellt sich vor wie es wohl wäre, dort zu leben. Mit den Menschen, die er nicht kennt und die ihn nicht kennen. Am Abend fährt er dann wieder mit dem letzten Zug zurück. Das spart Kosten für eine Übernachtung und außerdem schläft er sowieso nicht gern allein an fremden Orten.

Doch diesmal hat er sich keine Rückfahrkarte gekauft. Diesmal überkommt ihn ein Gefühl, das zwischen Angst und Freude wankt, wie ein sich drehender Kreisel, der bei der kleinsten Berührung droht umzukippen.
Vor vier Tagen hat er ihren Brief bekommen. Es war Dienstag und am Dienstag hat er als Möbelpacker gearbeitet. Rücken und Arme taten ihm furchtbar weh vom Ein - und Ausladen der schweren Holzteile. Die ungewohnte Arbeit hatte ihn völlig erschöpft und er wollte sich einfach nur ein heißes Bad einlassen. Hinter Supermarktangeboten und der Telefonrechnung lag ihr Brief. Einfach so. Er erkannte ihre Schrift sofort, die verspielten Schnörkel am Ende eines jeden Buchstabens, die beinahe die anderen Worte vom Umschlag fegten. Sein Name und die Adresse waren in blauer Tinte geschrieben, er hatte ihr den Füller vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt.
Er schaute lange auf den Umschlag. Fast eine halbe Stunde saß er wie versteinert mit dem Brief auf seinem Schoß auf dem grüngekachelten Badewannenrand.
Er musste an eine Ausstellung denken, die er einmal besucht hatte. Den Namen des Künstlers hatte er schnell vergessen, obwohl es ein sehr berühmter Maler gewesen war. In einer Glasvitrine lagen Briefe, die er an Freunde, Förderer und seine Familie geschrieben hatte. Geschützt vom Licht und dem Staub der Vergänglichkeit lagen die über hundert Jahre alten Papierbögen in diesem gläsernen Sarg und erzählten von längst vergangenen Dingen.
Dieser Brief mit der verschnörkelten Schrift kam aus einer anderen Zeit.

Die Automatiktür öffnet sich, plötzlich steht eine Traube Menschen in dem Zugabteil. Wo wollen die nur hin? Normalerweise schläft man doch noch um diese Uhrzeit, gerade an einem Wochenende. Eine Stimme fragt ihn ob der Platz neben ihm noch frei sei. Die Frau sagt guten Morgen und setzt sich neben ihn ohne seine Antwort abzuwarten. Anders schaut auf die Kopfstütze vor ihm. Blaue Quadrate auf hellem Untergrund.
Sie schrieb ihm, dass sie nie verstanden hätte warum er vor vier Monaten weggegangen war. Ja, es hätte schwere Zeiten gegeben, das Geld drückte an allen Ecken und Enden und er hatte sich die Dinge auch anders vorgestellt, aber wenn er ein wenig Geduld gehabt hätte, wäre es bestimmt nicht so weit gekommen. Jetzt lägen die Dinge aber wohl einmal so und nichts war mehr zu ändern, obwohl ihr das alles immer noch unbegreiflich sei. Vor drei Wochen war sie zu Otto gezogen, das hätte sich so ergeben und eigentlich sei sie auch recht glücklich mit Otto und der neuen Wohnung. Sie hätte nach seinem Weggehen viel nachgedacht und einiges nun verstanden. Naja, nun beginne wohl etwas Neues.
Sie hätte noch ein paar seiner Bücher und CDs beim Umzug gefunden, sie wisse nicht so recht was sie mit ihnen machen solle, er könne sie natürlich jederzeit abholen.
Er saß immer noch auf dem Badewannenrand, das eingelassene Wasser war mittlerweile lauwarm. Otto Otto. Die Eltern hatten wirklich Humor. So einfach ist das. Otto, mein Name. Hinten wie vorne. Raffiniert seinen Sohn mit einem solchen Namen in die Welt zu werfen. Mit so einem Namen musste ja alles glatt gehen. Otto, der ein glänzende Promotion hinter sich hatte und glänzende Berufsaussichten vor sich. Er musste an den Ausspruch Das Beste zum Schluss denken. Ein gluckenderes Geräusch war zu hören, der Abguss saugte gierig an einem Stück verschmierten Papier.
Ein junges Paar setzt sich vor ihn. Ein blonder Pferdeschwanz ergießt sich über die Kopfstütze, die Quadrate liegen nun zur Hälfte unter dem dichten Haar begraben. Die blauen Kästchen verschwimmen für einen Moment zu einem Kreis vor seinen Augen. Keine Regelmäßigkeit in den Reihen, der Stoff wurde einfach abgeschnitten und zugenäht ohne auf die Regelmäßigkeit zu achten.
Sie konnte es nicht verstehen. Er wollte so nicht weiterleben. Immer nur die ständige Sorge genug Geld zusammenkratzen zu müssen, das konnte es ja wohl nicht gewesen sein. Was halfen da alle guten Vorsätze, wenn nicht mal Geld für die Miete da war? Gedanken zahlten keine Rechnungen. Das war nicht mehr sein Leben gewesen, nein wirklich nicht. Tausend Mal hat er sie gebeten mit ihm wegzugehen, aber sie wollte nicht. Sie wollte ihn festhalten wie einen Hund, der hinter ihr hertrottet. Nein, das wollte er nicht. Er hatte zum Glück rechtzeitig verstanden, dass es so nicht weitergehen konnte. Wozu sein Studium? Dass er mit ihr an diesem öden, miefigen Ort ein Dasein als Gelegenheitsarbeiter fristete? Sie fragte ihn wie er sich denn sein Leben vorstellte. Sie wollte ihn nicht verstehen.
Die meisten Menschen mögen Kreise. In einem Test der verschiedenen Probanden farbige geometrische Figuren vorlegte, entschied sich die Mehrheit für den roten Kreis. Sie glauben, er sei eine postive Figur. Anfang und Ende. Ende und Anfang. Warm, vital und liebend. Sich im Kreis drehen. Alles dasselbe. Keine spitzen Ecken an denen man sich verletzten kann. Eine runde, zufriedene Gebärmutter, die alles verschluckt, kein Wunder, dass die wenigsten sich für das blaue Quadrat entschieden hatten. Die Farbe blau: männlich, dominant, rational. Aber auch:Sehnsucht.
Hätte er wirklich so weiter machen sollen? Mit ihrer Passivität war einfach nichts Neues zu beginnen, sie sperrte sich ja gegen alles, was nicht ihren Vorstellungen entsprach. Der Auszug war richtig gewesen, da gab es doch gar keinen Zweifel. Wie sie da stand, als er seine Sachen zusammenpackte! Sie sagte nichts, stand einfach so da. Nicht einmal geweint hat sie. Lautlos, unbeteiligt, als ob ihre beiden Leben nicht die letzten zwei Jahre miteinander verwoben gewesen wären. Wie ein dumpfer Stein an dem alles abzuprallen schien.
Er schlug die Wohnungstür hinter sich zu, das Geräusch klang wie ein Knall, der in der Luft stehen blieb. Hinter der weißen Tür war kein Geräusch zu hören, nichts, kein Weinen, kein Schreien, einfach nichts. Für einen kurzen Moment wollte er zurück gehen, ein erlösendes Lachen mit ihr teilen und ihren Geschichten lauschen während er ihr Haar streichelte. „Und deine Naumburggeschichten sind sowieso absoluter Blödsinn!“
Die Frau neben ihm ist eingenickt, Anders tippt vorsichtig mit seiner Hand auf ihre Schulter. „Entschuldigen sie bitte, aber ich muss aussteigen, ich habe etwas vergessen.“
 

Mumpf Lunse

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hallo jasmina

meine bewertung bekommst du für die sehr schön verdichteten stimmungen und gefühle.

an solchen beschreibungen solltest du allerdings noch arbeiten:

Er wacht aus kurzem Dämmer auf. Ein langsamer Ruck, ein schnelles Strecken. Alles Geräusch ist noch vom Nachtschlaf eingelullt. Ein Ächzen schüttelt den Stillstand ab und er setzt sich leise in Bewegung. Ohne Hast, niemanden aufwecken. Doch die Bewegung wird schneller. Weg von den Schlafenden.

er wirkt krampfhaft und es stimmt nicht.
ein ruck ist eben ein ruck...etwas schnelles, wenns langsam ist ist es kein ruck.
- er kann eingelullt sein, seine gedanken können das - die geräusche nicht. die können nur ihn einlullen. oder der schlaf kann es...
welche schlafenden? das kommt zu unkommentiert.

ich denke den ganzen anfang könntest du ersatzlos streichen.

ansonsten sehr beeindruckt

gunter
 



 
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