Zum Abendbrot bei Elli F.

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a.lipschitz

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Zum Abendbrot bei Elli F.


Elli F. wohnt im selben Haus wie ich. Ein paar Mal sind wir uns schon kurz im Flur begegnet, allerdings ohne nennenswerte Folgen. Dann eines Abends traf ich sie, als sie gerade nach Hause kam. Sie war von oben bis unten mit weißer Farbe verschmiert. Ein besonders schöner Klecks zierte ihre Nasenspitze. Ich lachte und sie erklärte ihren Anblick damit, dass sie gerade aus dem Atelier kommt.
Und so fing alles an. Was sie denn eigentlich arbeitet, fragte ich und sie erzählte, dass sie Skulpturen macht. Tatsächlich geraten wir ins Plaudern. Vor kurzem habe sie sich selbständig gemacht und alles liefe auch ganz gut, nur der ganze Formularkram sei so lästig und sie müsse unbedingt bis spätestens übermorgen das steuerliche Anmeldeformular abgeben, aber habe gar keine Ahnung, was man da eigentlich ankreuzen muss.
Es war, als ob ich mein Leben lang auf dieses Stichwort gewartet hätte. Der Trumpf, den man seit ungezählten Runden auf der Hand hält, und von dem man schon nicht mehr geglaubt hat, dass er noch stechen würde.
Ich bot ihr an, das Formular für das Finanzamt mit ihr gemeinsam auszufüllen. Das kann ich, denn da arbeite ich: Mittlerer Dienst, Veranlagungsbezirk 4, Umsatzsteuerabteilung, Stempel, Locher, Aktenordner, Ärmelschoner auf Strickjacke. Mein Beruf in Stichworten. Und sie nimmt mein Angebot an und fragt zum Glück nicht weiter nach, denn den Finanzamtjob und die damit verbundenen Assoziationen behalte ich lieber für mich.
Nur etwa eine Stunde später bin ich in ihrer Wohnung und werde gleich an den großen Küchentisch geleitet, wo das Formular bereit liegt. Ich frage ihr Geburtsdatum, ihren Familienstand und ihre finanzielle Situation ab. Sie ist ledig und hat keine Kinder. Ich frage, ob sie in naher Zukunft eine Heirat oder den Eingang in eine eheähnliche Lebensgemeinschaft plant. Sie verneint die Frage mit einer reizenden Ernsthaftigkeit, so als gelte es, eine eidesstattliche Versicherung bei Gericht zu machen.
Schließlich muss sie noch in ihrer sauberen, schön geschwungenen Handschrift unterschreiben und dann ist es an ihr, zu zeigen, was sie drauf hat. Sie hat die knappe Stunde von unserer Begegnung im Flur bis zu meinem Eintreffen in ihrer Wohnung genutzt und was zu Essen vorbereitet. Selbstgemachte Ravioli mit Ricottafüllung. Ich esse zwei Portionen und nehme die Reste in einer Tupperdose mit. Elli kocht wirklich ausgezeichnet.
Beim Abschied erinnere ich sie an die pünktliche Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldung, die sie natürlich nicht alleine, sondern mit meiner Hilfe machen wird, jeweils bis zum 10. eines jeden Monats. Meine Dauereintrittskarte für ein Abendbrot bei Elli F. Außerdem schlage ich ihr vor, die steuerlichen Buchführungsarbeiten regelmäßig für sie zu übernehmen. Was ich denn koste, fragt sie.
Ich: "Ach komm, wir sind doch Nachbarn, da esse ich halt mal wieder mit." Sie freut sich und ich bin im Geschäft.
Das geschah am 25.5. des letzten Jahres.

26.5.
Am nächsten Morgen im Amt prüfe ich zuerst, wer in der Umsatzsteuerstelle für sie zuständig ist. Natürlich Schröder, dieser Psycho. Er soll bloß die Finger von ihr lassen! Weg von meiner Elli F.!
Ihre Tupperdose steht auf meinem Schreibtisch. Die restlichen Ravioli sind auch kalt noch köstlich und ich verspeise sie hinter einem Aktenstapel.

8.6.
Unsere fiskalisch-kulinarische Beziehung verläuft derweil in reibungslosen Bahnen. Ihre erste Umsatzsteuervoranmeldung festigt meine Stellung in ihrem Leben in einem nie geahnten Ausmaß: Sie nennt mich scherzhaft "ihr Finanzgenie"! Da sie im Mai noch keine Skulptur verkauft hat, muss sie demnach auch keine Steuer bezahlen. Im Gegenzug setze ich alles mögliche als Betriebsausgaben ab. Ergebnis: 121,55 Euro Vorsteuererstattungsanspruch für Elli, was mit einem ausgiebigen Essen gefeiert wird.

10.6.
Ich bin auf dem Amt, diesmal leider ohne Tupperdose, denn es gab keine Reste beim letzten Essen. Ich bin nämlich den gesamten Tag über nüchtern geblieben, bevor ich zum Abendbrot zu Elli F. gegangen bin.
Ich überlege, ihr noch was Gutes zu tun und das Komma bei den zu erstattenden 121,55 Euro zu ihren Gunsten ein kleines Stück nach rechts zu verschieben, damit sie etwas mehr Geld zum Leben hat. Geld, um sich was zu Essen zu kaufen. Ich muss Elli um jeden Preis lebendig erhalten.

17.6.
Nur noch 22 Tage bis zur nächsten Umsatzsteuer-Voranmeldung bei Elli!

20.6.
Nur noch 19 Tage bis zur nächsten Umsatzsteuer-Voranmeldung bei Elli!
Mittlerweile verfluche ich das deutsche Steuergesetz, das die Abgabe der USt-Voranmeldung bei Existenzgründern nur monatlich und nicht täglich verlangt. Nur einmal im Monat, welcher Mann kann das auf Dauer aushalten? Aber zum Glück gibt es auch noch den regelmäßigen Schriftverkehr mit dem Finanzamt, der genau so wichtig ist und von einem Fachmann erledigt werden sollte. So zum Beispiel, als tags darauf das Amt von Elli eine Erklärung zum Bilanzansatz des zum Teilwert eingelegten Anlagevermögens nach der 2/3-Regelung und der daraus resultierenden degressiven Abschreibungsmethode gemäß § 7, Absatz 2 EStG anforderte. Solche Anfragen des Finanzamtes können ja durchaus vorkommen.

23.6.
Meine Elli! Sie ist so zuverlässig wie eine Schweizer Uhr. Gleich am nächsten Abend, nachdem ich diesen völlig absurden Nonsens verfasst, mit dem Namen eines anderen Sachbearbeiters (Schröder) unterzeichnet und an sie losgeschickt habe, steht die kleine blonde Steuernummer 208/0104/1759 vor meiner Tür.
Elli ist Künstlerin, keine Steuerexpertin. Und sie weiß natürlich immer noch nicht, dass ich beim Finanzamt arbeite. Möge ihr seliger Schlummer noch lange fortwähren.
Ich erkläre ihr, dass alles in Ordnung ist, ganz normale Formalitäten, ich komme nur kurz mit runter, muss was in ihren Unterlagen nachsehen, kann dann gleich an ihrem PC das Schreiben fürs Amt aufsetzen, sie bräuchte sich gar keine Sorgen zu machen, solche Anfragen können bei Selbständigen durchaus öfter mal vorkommen. Daran könne sie sich jetzt ruhig schon mal gewöhnen.
Anschließend Abendbrot bei ihr: Vorspeise griechischer Salat, dann Lasagne, zum Nachtisch Tiramisu. Ich überlege, wie ich sie dazu bringen könnte, mit mir zusammenzuziehen. Wir hätten getrennte Schlafzimmer, aber eine gemeinsame Küche. Eine große Küche.
Um 23:51 Uhr verabschiede ich mich an diesem Abend von der schon leicht übernächtigt wirkenden Elli mit der festen Zusage, dass sie mich jederzeit holen kann, wenn irgendwelche Post vom Amt kommt.
Zwei Tage darauf beantrage ich für sie auf verschlungenen Amtswegen beim Bundesamt für Finanzen in Saarlouis im Eilverfahren achtmal eine Umsatzsteuer-Identifikationsnummer.
"Brauche ich die wirklich alle?" fragt sie mich eine knappe Woche später bei einem Makkaroniauflauf und blättert tragisch-belustigt durch den Papier- und Formularstapel, der mittlerweile ihren gesamten Schreibtisch überschwemmt.
"Ja, wenn du mal was von deinen Sachen ins europäische Ausland verkaufst", erkläre ich ihr.
Sie: "Aber gleich acht verschiedene Steuernummern?"
Ich: "Nein, da ist wohl beim Amt was schiefgelaufen, das kann schon mal vorkommen. Die sind da eh alle bekloppt. Kann ich noch ein Duplo als Nachtisch haben?"

7.8.
Seit Elli selbständig ist, habe ich drei Kilo zugenommen. Elli hingegen kommt mir so vor, als habe sie seitdem sichtbar an Gewicht verloren. Auch ist sie viel blasser als sonst.
Der Schriftverkehr Finanzamt-Nord versus Elli F. füllt mittlerweile sechs Ordner und ich hoffe inständig, da schaut niemals irgendjemand rein - irgendjemand, der was davon versteht.
Ich habe ein paar von ihren Büchern und ihren anderen Krimskrams im Wohnzimmer beiseite geräumt und die Ordner so auf ihrem Regal platziert, dass sie sie von fast jeder Stelle im Zimmer auf Augenhöhe vor sich hat. Die Ordner stehen perfekt und flößen ihr jederzeit den nötigen Respekt ein. Und abends, wenn sie allein ist, flüstern die Ordner: ´Elli, das hier ist wichtig! Du bist jetzt eine richtige Geschäftsfrau und das hier ist für das Finanzamt
Ich habe zu ihr gesagt: ”Wenn du es dir mit dem Finanzamt verscherzt, dann...”, und dann habe ich mit der flachen Hand eine schnelle Bewegung an meiner Kehle entlang gemacht. Ein ähnlicher Trick wie damals in der 2. Klasse. Ich wollte den großen Pelikan-Malkasten mit 24 Farben. "Der kleine mit 12 genügt doch", sagt Mutter. Und ich sage: "Aber Mutter, das ist doch für die Schule! Ich brauch das Ding doch für die Schule!" Und Mutter kaufte.
Aber auch Elli hat mich heute nervös gemacht. Sie hatte Parfüm aufgelegt, als ich das ELSTER-Update installiert habe, so als erwarte sie noch Besuch. Anderen Besuch als mich.
Ich bin nicht eifersüchtig, wieso auch? Meine Position ist so gut wie unangreifbar. Soll sie doch einen Freund haben. Es gibt immer irgendeinen Psycho, der sich was einbildet. Er kann mir sowieso nicht gefährlich werden, außer in dem höchst unwahrscheinlichen Fall, dass er etwas von Buchführung und Steuern verstünde. Würde er allerdings auch nur einen einzigen qualifizierten Blick in die sechs Nonsens-Ordner werfen, wäre ich geliefert.

9.8.
Der heutige Morgen war ein strahlender und vom azurblauen Himmel zwitscherten die Vögel auf mich hinab. Mir hätte gleich klar sein müssen, dass das nichts Gutes bedeuten kann. Ich hätte misstrauisch werden müssen.
Im Amt haben sich dann auch schon pünktlich die dunkelsten aller Gewitterwolken über meinem Haupte zusammengebraut. Der Postverteiler ist gerade durch und aus dem angrenzenden Büro des Kollegen Schröder ist etwas zu vernehmen, das sich auf einige Flüche und die Kernaussage ”Was der Mist soll und ob die eigentlich total bekloppt ist” reduzieren lässt.
Eine grausame Ahnung überfällt mich und mein Magen krampft sich schmerzhaft zusammen. Ich gehe rüber. Tatsächlich liegt da die 16 Seiten umfassende Betriebsprüfungsaufstellung einer gewissen Elli F. (natürlich blanker Unsinn), die ich an drei aufeinander folgenden Abenden jeweils nach dem Essen mit ihr erarbeitet habe, vor Schröder auf dem Tisch. Mein Hemdkragen scheint drei Nummern enger als sonst. Gott steh uns bei, sie hat den Brief abgeschickt! Habe ich dieses Mal etwa vergessen, ihr zu sagen, dass ich den wie üblich mitnehme? Daran ist nur das verdammte Parfüm Schuld. Elli hat mich irritiert und ich habe den Brief nicht mitgenommen, sondern auf ihrem Küchentisch liegen lassen und sie muss ihn abgeschickt haben.
Die Briefe, die wir gemeinsam ans Finanzamt schreiben, kommen natürlich niemals dort an, sondern landen regelmäßig im Altpapier. Dafür sorge ich. Was kann denn alles passieren, wenn hier wirklich mal jemand diesen Quatsch in die Finger bekommt, den ich gemeinsam mit meiner kleinen nichtsahnenden Elli allwöchentlich produziere!
"Was gibt´s?" frage ich mühsam und suche verzweifelten Halt in Schröders Bürotürrahmen.
"Nur Scheiße. Kuck dir das mal an!" Er wedelt mit den mir nur allzu bekannt vorkommenden Blättern vor mir in der Luft herum.
"Also wenn ich das hier richtig verstehe, dann bilanziert die doch tatsächlich ihre komplette Wohnungseinrichtung als betriebliches Anlagevermögen: Stehlampe, Bettkasten, Raclette-Set für 6 Personen, Küchenhängeschrank, Küchenunterschrank mit integrierter Spüle und so weiter und so weiter... Ist das eine hohle Frucht!" Er erschaudert vor Verachtung.
"Vielleicht ist sie ja sonst ganz nett”, gebe ich zu bedenken. Ich hätte besser die Klappe halten sollen, aber Schröder ahnt nichts von dem brisanten Umstand, dass meine Adresse die selbe ist, wie die von Elli F., die da auf dem Briefkopf prangt, und falls doch, er hätte die erforderlichen Schlüsse wohl kaum gezogen.
"So, ich ruf die jetzt an und scheiß die zusammen."
Er krallt sich den Telefonhörer.
"Ach schreib ihr doch lieber, ist viel weniger Stress!"
Aber er wählt schon.
Bitte, Elli, bitte sei nicht zu Hause. Nicht wahr, du bist im Atelier um diese Zeit, du musst jetzt im Atelier sein, oder einkaufen, oder spazieren gehen, oder, oder, oder...
Schröder ist zu ungeduldig und knallt nach dem dritten Klingeln den Hörer auf. Gelobt sei der Herr.
"Schreib doch ´ne Kurzmitteilung. Ich kann die dann gleich für dich mit runter zum Postversand nehmen!"
Er glotzt mich zwar komisch an, aber irgendwie komme ich dann doch in den Besitz des Schreibens, das ich auf der Toilette in kleine Fetzen zerreiße, unter dem laufenden Wasserhahn zu Brei verreibe und im Klo runterspüle.
Ich muss in Zukunft besser auf Elli aufpassen. Ich muss sie schützen, sie abschotten von dieser bedrohlichen Welt, die dem zarten Pflänzchen unserer aufkeimenden Zweckbeziehung so gefährlich werden und die mich um meine regelmäßige Dosis Elli und um das dazugehörige Abendessen bringen kann. Sie darf nie und nimmer wieder einen Brief an das Finanzamt abschicken! Sonst ist der Ofen für mich aus. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Nach Feierabend muss ich mir heute nach langer Zeit mal wieder was von meinem Beruhigungszeug reinschmeißen, um wieder runter zu kommen.

13.8.
Meine Sorgen mit Elli F. werden indessen nicht weniger. Seit fünf Tagen habe ich nun schon nichts mehr von ihr gehört. Was um alles in der Welt treibt diese Frau? Seit mit Schröder ein Dritter in unsere kleine beschauliche Wirklichkeit eingedrungen ist, gibt es nur noch Probleme. Dabei ist sie für ihn nicht mehr als eine Nummer im Computer. Eine Nummer, die ich angelegt habe.
Womöglich hat sie sich einen Steuerberater genommen. Das wäre der Super-GAU und ich wäre raus aus dem Geschäft. Ich muss im Amt unbedingt alle Spuren verwischen. Die Nonsens-Briefe muss ich Schröder unterjubeln. Mit seinem Namen habe ich nämlich auch die meisten unterschrieben. Auf eine Schriftprobe wird es wohl nicht hinauslaufen, der verwendet eh nur ein Kürzel.
Was wirklich Schlimmes kann mir eigentlich nicht passieren, außer dass ich den Finanzamtjob verliere wegen Amtsmissbrauch. Betrogen hab ich niemanden um irgendwas, keinem ist ein Schaden entstanden, die ganze Angelegenheit ist nichts weiter als ein Lausbubenstreich.

15.8.
Immer noch kein Lebenszeichen von Elli F. Vielleicht bin ich über´s Ziel hinaus geschossen. Meinen letzten anonymen fiskalischen Liebesbrief, in dem ich ihr die Einleitung eines Steuerstrafverfahrens und eine zweijährige Freiheitsstrafe auf Bewährung in Aussicht stelle, wenn sie nicht unverzüglich zu der Anklage der schweren, bandenmäßigen Steuerhinterziehung im Sinne des § 370a AO ausführlich schriftlich Stellung bezieht, müsste sie eigentlich schon längst erhalten haben. Aber warum meldet sie sich nicht? Sollte ich zu weit gegangen sein und sie ist zum Anwalt damit? Aber wo steckt sie dann?
Ich komme von der Arbeit nach Hause und klingle bei ihr. Keiner da. Eine Stunde später gehe ich in die Offensive. Ich schreibe mit Kuli auf ein abgerissenes Kalenderblatt ´Hi Elli alles klar? Wollen wir noch mal zusammen kochen? Viele Grüße dein ...´, und werfe ihr den Zettel durch den Briefkastenschlitz in ihre Wohnung. Ich warte auf ihren Anruf. Es kommt kein Anruf. Ich warte bis 21:37 Uhr, dann nehme ich mein Abendessen ein: Cornflakes mit zimmerwarmer H-Milch, belegtes Brot, Erdnussflips vom Vortag.
Ich wünschte, ich wäre tot.

18.8.
Weitere zwei Tage geschieht nichts. In der Mittagspause durchwühle ich heute Schröders Büro, ob bei ihm irgendwas in Sachen Elli F. gelandet ist, wovon ich nichts weiß.
Weil ich in seinen Akten nicht fündig werde, stülpe ich den Papierkorb um und versuche die Schnipsel zusammenzusetzen. Es ergibt alles keinen Sinn.
Ich nehme die beiden Bilder von der Wand. Auch hier Fehlanzeige. Keine Spur von gar nichts.

25.8.
Ich befürchte, sie hat es irgendwie durchschaut, ist stinksauer auf mich und geht mir gezielt aus dem Weg. Aber eigentlich ist sie nicht der Typ, der schmollt. Eher hätte sie mir die sechs Ordner vor die Tür geknallt.
Sie muss kurzfristig weggefahren sein. Ein plötzlicher Todesfall in der Familie. Aber das hätte sie mir eigentlich gesagt. Sie hätte mir ihren Schlüssel da gelassen, zum Blumengießen und Briefeschreiben. Sie weiß doch, dass ich mindestens einmal pro Woche ihre Steuern machen muss. Unsere regelmäßigen Treffen, die ich mit so viel Sorgfalt und Geschick inszeniere. Ich alleine war es, der all das überhaupt erst möglich gemacht hat! Was wäre sie ohne mich? Und warum weiß ich eigentlich nichts über ihre Familie? Hat sie etwa Geheimnisse vor mir?
Ich google nach ihrem Namen, ihrer Telefonnummer und ihrem Geburtsdatum. Wenn das Internet Recht behält, dann gibt es keine Person, die alle diese Kriterien erfüllt.

27.8.
Ihr Namensschild am Briefkasten ist verschwunden. Oder hatte sie etwa gar keins? Aber meine Briefe sind doch immer angekommen. Ansonsten scheint sie auch keine Post zu bekommen.
Ich starre gebannt auf ihr Klingelschild. Ich buchstabiere ihren Namen langsam wie ein Erstklässler, der gerade Lesen lernt. Ganz sicher ist das ihr Name, diese drei Silben mit dem F am Anfang. Es kann ja auch nicht sein, dass Elli all die Jahre nur in meiner Einbildung existiert haben soll.

4.9.
Heute bin ich um 6:00 Uhr in der Früh aufgestanden und habe lange und erfolglos bei ihr geklingelt. Ich darf nicht zulassen, dass Elli mir entgleitet!
Abends stehe ich noch mindestens eine halbe Stunde am Treppenabsatz und lausche. In der Wohnung rechts klappert Geschirr, links dröhnt ein Fernseher. Nur in Ellis Wohnung ist es still wie im Weltall. Grabesstille. So als würden die Geräusche einen Bogen um ihre Wohnung machen.

6.9.
Diese Nacht bin ich davon aufgewacht, dass ich Ellis Wohnungstür zuschlagen hörte. Ich stürze runter zu ihr, fast Hals über Kopf, denn das Licht im Treppenhaus ist schon wieder ausgegangen. Mit dem letzten Schritt stolpere ich gegen ihre Tür. Ich stecke die Nase durch ihren Briefkastenschlitz und inhaliere den lieblich süßen Duft, der aus ihrer Wohnung strömt. Drinnen ist alles stockdunkel und totenstill. Ich klingle einmal, ich klingle zweimal, ich klingle Sturm, ich trommle mit den Fäusten an ihre Tür. Die Tür öffnet sich, dahinter eine fremde alte Frau mit glasigen Augen, fleckigem Nachthemd, Lockenwicklern in den strohigen Haaren. Wer ist das? Was soll das? Für einen Moment schießt mir durch den Kopf: Elli in 80 Jahren. Ich flüstere: "Elli, bist du´s?"
Die Alte grunzt etwas Unverständliches und zieht dabei die Oberlippe hoch. Nicht einen einzigen Zahn hat sie mehr im Mund. Was macht diese hässliche fremde Frau nur in Ellis Wohnung? Ich komme nicht mehr dazu, sie danach zu fragen, denn ihr Gesicht beginnt sich zu verändern und als ich noch einmal hinsehe, ist sie mir gar nicht mehr so fremd. Es ist nur Ellis Nachbarin. Ich muss die Tür im Dunkeln verwechselt haben. Ich stehe vor ihr, sie steht vor mir, wir glotzen uns an, ich habe geklingelt, also bin ich in Zugzwang. Mir fällt keine passende Erklärung ein für das, was ich mitten in der Nacht hier treibe und so brülle ich einfach aus vollem Hals: "Feuer! Feuer!"
Dann erst wache ich richtig auf.

9.9.
Morgens. Ich habe mich beim Amt krankgemeldet. Ich bin krank.
Nachmittags. Ich gehe runter zu Elli. Mit einem flachen Schraubenzieher und einem kleinen Hammer. Was soll´s, ich bin ihr Nachbar, ihr Sachbearbeiter, ihr Freund. Ich will wissen, was mit ihr los ist.
Ich knacke die Tür auf, die nicht abgeschlossen ist. Die Küche liegt aufgeräumt und steril da, wie ein Operationssaal. Ich sehe im Kühlschrank nach. Und im Backofen. Dann in der restlichen Wohnung.
Im Schlafzimmer auf dem Bett liegt ganz friedlich Elli F. Die orangefarbenen Vorhänge wehen im Wind des gekippten Fensters. Um sie herum summen Fliegen. Viele Fliegen.

21.9.
Ich komme von der Arbeit nach Hause und im Flur treffe ich auf Elli F., die vor ihrem Briefkasten steht. Erst kann ich es nicht fassen, aber sie ist es wirklich und es war alles nur eine dumme Einbildung, dass sie verschwunden ist und der ganze andere Mist. Alles nur ein böser Traum. Sie war immer da und wird auch immer da sein. Wir sind uns ja auch schon öfter begegnet, ich weiß gar nicht mehr, wie oft.
Ich lache mir befreit herunter, alles was über die letzten Tage und Wochen auf mir lastete. Auch sie lacht, denn sie ist von oben bis unten mit weißer Farbe verkleistert. Sie kommt gerade aus dem Atelier. Wir geraten ins Plaudern.
Sie hat eben einen Brief vom Finanzamt erhalten und erzählt mir, dass sie unbedingt noch bis übermorgen das Anmeldeformular ausfüllen muss, denn sie hat sich erst vor kurzem selbständig gemacht.
Es war, als ob ich mein Leben lang auf dieses Stichwort gewartet hätte. Der Trumpf, den man seit ungezählten Runden auf der Hand hält und von dem man schon nicht mehr geglaubt hat, dass er noch stechen würde.
Ich biete an, ihr mit dem Formular und dem ganzen anderen Finanzamtkram behilflich zu sein. Das kann ich, denn da arbeite ich. Aber das weiß sie nicht. Sie freut sich und ich bin im Geschäft.
 

Ofterdingen

Mitglied
Amüsante und spannende Lektüre, nur schade, dass der Fresstrieb sich nicht wenigstens mit ein klein wenig Erotik verbindet. Oder passt das nicht zu einem Finanzbeamten?

Den Schluss verstehe ich nicht. Zuerst frisst er sich bei der Dame drei Kilo an. Eines Tages liegt sie offenbar mausetot auf ihrem Bett, von Fliegen umsummt, dann ist sie plötzlich wieder genau am Beginn der Geschichte. Lieferst du noch eine Erklärung für Dumme?

Übrigens: Kann es sein, dass irgendwer dir erzählt hat, dass man in der wörtlichen Rede keinen Konjunktiv mehr setzen muss und die Zeiten wie Kraut und Rüben durcheinander werfen darf? Falls ja, war das ein schlechter Rat, denn er hat zu einem unschönen Ergebnis geführt. Ich würde mir an deiner Stelle die entsprechenden Sätze noch einmal vornehmen. Das betrifft vor allem den ersten Teil, der noch nicht tagebuchartig ist.

Sonst: Kompliment, gelungener Text.

Gruß,

Ofterdingen
 

a.lipschitz

Mitglied
Hallo Ofterdingen,

danke für deine Anmerkungen.

Zu dem Chaos mit den Zeiten und der teilweise unkorrekten indirekten Rede möchte ich dir später noch was schreiben, nachdem du den Sinn des Endes erraten hast (Ich überlege auch, ob es evtl. gar keinen Konjunktiv mehr geben sollte, weil es auch keine Möglichkeiten gibt). Der Anfang ist in dieser Hinsicht in der Tat noch alles andere als perfekt.

Ich denke, ich habe ein paar faire Hinweise gegeben, worauf das Ganze am Schluss hinausläuft:

- "Ich muss Elli um jeden Preis lebendig erhalten"

- "Ich alleine war es, der all das überhaupt erst möglich gemacht hat! Was wäre sie ohne mich?"

- "Es gibt immer irgendeinen Psycho, der sich was einbildet"

- "Es kann ja auch nicht sein, dass Elli all die Jahre nur in meiner Einbildung existiert haben soll."

- Das vermeintliche erste Aufwachen am 6.9., das doch keins war. Die scheinbare Wirklichkeit mit der Nachbarin war nur ein Traum.

- Schröder weiß von Elli nur durch die Briefe. Am Telefon nimmt keiner ab. Am Ende dieses Tages merkt der Erzähler, dass er (mal wieder) Medikamente braucht.

- Nachdem er sich sein "Beruhigungszeug" reingeschmissen hat, ist Elli plötzlich verschwunden und taucht erst Tage später (wir vermuten, nachdem die Wirkung von dem "Zeug" nachgelassen hat) "langsam" wieder auf, nämlich zunächst so, dass es für ihre Abwesenheit im Nachhinein eine plausible Erklärung gibt.
Und dann: Auf ein Neues...

Na, jetzt klar? Wie viel ist innerhalb der ganzen Geschichte überhaupt "real"?


Die Erklärung für die fehlende Erotik ist hingegen sehr einfach: Er darf nur das tun, was ich beschreiben kann. Und erotische Szenen, die nicht innerhalb kürzester Zeit in unfreiwillige Komik abgleiten, gehören leider nicht dazu.
 

Ofterdingen

Mitglied
Hi A. Lipschitz,

Ich halte dich für jemanden, der schreiben kann, sogar sehr gut schreiben kann, aber nicht immer die gebotene sprachliche Disziplin aufbringt.

Genau deswegen habe ich darauf verzichtet, dir im Detail sprachliche Korrekturen vorzuschlagen. Ich denke, du schaffst das auch alleine, wenn man dir nur sagt: Mein lieber A. Lipschitz, so geht das nicht, schau dir alles noch einmal an und mach´s besser oder ich trete dich in den Hintern, und zwar richtig.

Ich habe inzwischen auch deine Geschichte vom preußischen Reiter gelesen und denke, dass ich vielleicht vom einen auf den anderen Text schließen oder zumindest gewisse Verbindungen entdecken können sollte.

Wie auch immer: Dein Text war anregend und ich danke dir dafür.

Gruß,

Ofterdingen
 
D

Dominik Klama

Gast
Aber ist der eigentliche Kern, auf den die Geschichte zuläuft, nicht eine Satire über Bürokratie?

Und stört dabei die raffinierte Endentwicklung nicht eher, weil sie dem Leser langsam begreiflich macht, dass er einen Psycho als solchen nicht früh genug erkannt hat? Verliert er dann die Bürokratie-Satire nicht ganz aus den Augen?

Ich bin wirklich ein Mensch, der seit Jahrzehnten mit allerlei Ämtern und Artverwandtem zu tun hat. Ärmelschoner sah ich bis jetzt nur im Fernsehen, nie auf einem Amt.

Auch ist die Verwendung von Leitz-Ordnern und Lochern ja stark zurückgegangen, seitdem sie hinter ihren PC-Bildschirmen sitzen, wo sie dann am Anfang jeder Unterhaltung fünf Minuten lang sehr, sehr bedenkliche Informationen über dich mit sehr, sehr ernster Miene nachlesen, bevor sie sagen: "Ah ja, Herr Meier, wie ich da sehe, ist bei Ihnen ja..."

Insofern hab ich bezüglich USt die längste Zeit schon auf den Tipp, gewartet, dass man die doch heute online macht, er kann ihr ja auch helfen dabei, bevor endlich das magische "ELSTER" auftauchte. (Welches dem naiven Außenstehenden aber kein Mensch erklärt.)

Und: Was haben die für Wohnungstüren? Da, wo ich wohne, muss man sie (und kann man auch, hab mal der Feuerwehr dabei zugeschaut) in jedem Fall aufbrechen, wenn keiner öffnet, ob sie abgeschlossen sind oder nicht. Kann ja schon sein, dass man dabei dann merkt, ob oder ob nicht sie abgeschlossen waren. Aber spielt dann keine Rolle mehr.
 

Vera S

Mitglied
Lieber A. Lipschitz,
für mich ist es unerheblich, ob es auch/nur eine Bürokratie-Satire ist oder in erster Linie das Psychogramm eines Verrückten oder eines verrückten Bürokraten. Ich habe deine Geschichte mit Begeisterung gelesen und denke, dass du sie gar nicht erklären musst!
Ich würde ein Detail ändern: Ich lache mir [blue]alles[/blue] befreit herunter, was über die letzten Tage und Wochen auf mir [blue]gelastet hatte[/blue].

Viele Grüße
Vera
 



 
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