Zur Insel

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Zur Insel

Jetzt sind wir auf hoher See.
Das Meer ist ruhig, vielleicht zu ruhig, als hätte man eine bleierne Decke darüber gelegt.
Ölig-schlierig schwappen Wellen gegen den Bug.
Es wird langsam duster. Mit Einbruch der Dämmerung hatten wir das unbestimmte Gefühl, als komme Dunst auf.

Sie hatten uns am Morgen abgeholt. Sie brachten uns mit Bussen aus dem ganzen Land in diesen Ort an der Küste, wo mehrere Fähren auf uns warteten, um uns zur Insel zu bringen, die sie die rote nennen.
Dort wird man uns untersuchen, uns behandeln, sagen sie.
Wir seien irgendwie anders, behaupten sie.

Angefangen hat es wohl damals mit der Bildung der Großen Koalition.
Die beiden großen Volksparteien, die im Laufe der Geschichte der Republik abwechselnd die Regierung stellten, regierten nun gemeinsam in Eintracht das Volk. Eine nie gekannte Harmonie brach aus. Sie nannten es den großen Konsens.
In jener Zeit entwickelte sich auch wieder ein neuer Nationalstolz nach der Überwindung der Teilung.

Während der WM im eigenen Land fieberte jeder mit der Nationalmannschaft. Alles wurde beflaggt. Und hatte die Deutsche Elf gewonnen, kannte der Jubel keine Grenzen. In Autokorsos zog die Bevölkerung hupend und schreiend durch die Innenstädte, die sich in ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer verwandelten.
„Deutschenland! Deutschenland!“ skandierten sie.
Selbst der erreichte 3. Platz wurde trunken wie ein Sieg im Finale gefeiert. Der Rausch ging unaufhörlich weiter.
Auch wirtschaftlich lief es besser. Jeder glaubte an den Aufschwung. Alle vertrauten in die Wirtschafts- und Tatkraft des Landes.
Es gab kaum eine nennenswerte Opposition. Natürlich wurden die kleinen Parteien nicht unterdrückt. Wir leben in einem Rechtsstaat. Es herrscht Meinungsfreiheit. Die Grundrechte werden akzeptiert. Es gibt Medien. (Der türkische Schriftsteller Aziz Nesin soll gesagt haben, dass in seinem Land die Presse die 3,5. Gewalt im Staate sei.) Die Gewaltenteilung funktioniert. Die Justiz ist unabhängig. Ihre Urteile richteten sich nach dem allgemeinen Konsens.(Wann man schon von einer Diktatur sprechen muss, beantwortet diese Geschichte nicht.)
Vielleicht ist dadurch auch die Wahlmüdigkeit entstanden. Es gab Wahlen, wo nur noch jeder 10. wählen ging. So war es natürlich selbstverständlich, dass die Legislaturperiode verlängert wurde.
Zur Zeit beträgt sie ... Ich weiß es nicht mehr genau, ich glaube, sie ist zweistellig.
Die Regierung kann jedoch jederzeit Neuwahlen festsetzen. Und außerdem werden im wöchentlichen Rhythmus durch Meinungsforschungsinstitute die Stimmungen des Wählers eruiert.

Ich wurde bisher jedoch noch nie befragt und kann mich eigentlich nicht mehr so richtig an meine letzte Stimmabgabe erinnern.
Aber der amtliche Brief, in dem mir mitgeteilt wurde, wann mein Transport zur roten Insel stattfindet, ist mir unvergesslich.
Da wurde ich mir meiner Andersartigkeit bewusst.(Hier werden einige behaupten, sie seien einzigartig.
Im 3. Reich gab es verschiedene Gruppen, die in den KZs umgekommen sind, deswegen soll hier die Andersartigkeit nicht spezifiziert werden, da im Laufe einer Diktatur sicherlich unterschiedliche Gruppen ausgesondert werden. Beispiele aus der Geschichte gibt es dazu genügend. Natürlich stellt sich die Frage, wieso die Andersartigen nicht fliehen. Der Erzähler in der Geschichte glaubt noch, dass er in einer Demokratie lebt, dass Menschen human und zivilisiert sind, ähnlich wie die Verfolgten der Nazi-Diktatur.)

Unsere Fähre tuckert leise in den Nebel hinein. Wir frieren. Es ist unangenehm kalt geworden.
In der fast absoluten Dunkelheit kann ich schemenhaft Lichter erkennen.
Dies muss sie sein: die rote Insel.
 



 
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